Читать книгу Die Scharfrichter - Gregg Hurwitz - Страница 10
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ОглавлениеTim fuhr in die Stadt, bis zu den Gebäuden am Fletcher Bowron Square, in denen sich Bundesbehörden und Gerichte befanden. In dem quadratischen Federal Building aus Zement und Glas waren auch die Büros der Haft-Einheit untergebracht. In die Frontseite war ein Mosaik von Frauen mit quadratischen Köpfen eingelassen, was Tim nie wirklich begriffen hatte. Ein paar Mal hatte er Ginny mit ins Büro genommen, und sie fand das an sich unproblematische Mosaik beunruhigend, sie drehte ihr Gesicht zur Seite und schmiegte sich an ihn, wenn sie vorbeigingen. Tim war es immer schwer gefallen, ihre Ängste zu begreifen – ebenfalls auf ihrer Liste standen Kinos, Menschen über siebzig, Heuschrecken und die Zeichentrickfigur Elmer Fudd.
Er zeigte am Eingang seine Marke, nahm die Treppe in den zweiten Stock, ging durch einen weiß gekachelten Flur, dessen Wände mal wieder gestrichen werden mussten.
Das Büro machte nicht viel her, ein paar Trennwände und Kinderschreibtische aus Metall, und eine Wandbespannung in der Farbe von Kotze mit Pepto-Bismol drin. Seit Monaten versprach der Hausmeister den Deputies einen Umzug in das gehobenere Roybal Building nebenan, und seit Monaten wurde der Umzug verschoben. Inzwischen beklagten sich zwar alle tagein, tagaus, aber das half auch nichts. Die Deputies waren nicht die Ersten, die feststellen mussten, dass sich die Bundesbürokratie mit der Geschwindigkeit einer arthritischen Schildkröte voranbewegte, und – wenn man ehrlich war – schäbige Büroräume stellten auch kein ernsthaftes Problem dar für Deputies, die sowieso lieber draußen auf der Straße im Einsatz waren. An den Wänden hingen Zeitungsausschnitte, Verbrechensstatistiken und Fotos von Gesuchten. John Ashcroft war mit einem Porträt vertreten, wache Augen, fliehendes Kinn.
Während Tim sich durch das Großraum-Trennwandlabyrinth zu seinem Schreibtisch arbeitete, murmelten die anderen Deputies ihr Beileid und schauten weg, genau die Reaktion, die zu umgehen er hergekommen war.
Bear eilte auf ihn zu, er passte gerade noch zwischen den Schreibtischen hindurch. Er war bereits voll ausgerüstet – er hatte seinen schusssicheren Helm unter den Arm geklemmt, trug die Schutzbrille um den Hals, dünne Baumwollhandschuhe, ein tragbares Funkgerät mit Ohrmikrofon, zwei matte, schwarze Handschellen. Ein Bündel Flex-Cuffs – Plastikhandschellen – hing von seiner Schulter herunter, dazu schwarze Stiefel mit Stahlkappen, eine Beretta im Gürtelholster, eine Dose Pfefferspray, Extramagazine in einem Schulterhalfter auf der rechten Seite und eine kugelsichere Level-III-Weste, die beweglicher war als die alten Dinger, aber immer noch die meisten Geschosse abfing. Über vierzig Pfund – seine Hauptwaffe nicht mitgerechnet, eine auf sechsunddreißig Zentimeter verkürzte zwölfschüssige Remington mit Pump-Action, geladen mit Standardschrot und ausgestattet mit einem Pistolengriff. Wegen der fehlenden Schulterstütze betrug der Rückstoß der Waffe sechzehn Kilo, die man mit den Armen abfangen musste. Für Bear war das gar nichts, aber Tim hatte schon gesehen, wie schlanker gebaute Deputies dabei auf den Arsch fielen.
Wie die übrigen Mitglieder des Arrest Response Teams (ART) bevorzugte auch Tim seine schultergestützte MP5, mit der man besser zielen konnte. Er hielt Bears Schrotgewehr für eine schlechte Wahl, weil man dafür beide Hände brauchte und es in engen Räumen im Weg war, aber Bear hatte sich bei der Zeugenschutzarbeit an die Remington gewöhnt, und das tiefe Ratschen, das sie machte, wenn man durchlud, konnte das Durchfallpotenzial bei Fluchtverdächtigen massiv erhöhen.
ART bestand aus den durchtrainiertesten Deputy Marshals. Wenn die Glocke läutete, hatten sie ihren normalen Dienst hinter sich, schlüpften in Kevlar und spielten Präzisionseinsätze zur Festnahme von Verdächtigen nach. Durch Tims Sondereinsatzerfahrung und die Tatsache, dass er schon früh Haftbefehle zugestellt hatte, war es ihm gelungen, fast sofort nach seinem Abschluss an der Akademie zum ART zu kommen. In einer intensiven Phase in seinem zweiten Monat hatten er und seine Leute bis zu fünfzehn Verstecke am Tag ausgehoben, jedes Mal mit gezogenen Waffen. In der Hälfte aller Fälle traten sie die Tür ein, und die meisten der Verhafteten waren bewaffnete Männer.
Bear bremste kaum ab, als er Tim erreichte, und Tim drehte sich um und ging mit ihm mit, um nicht umgewalzt zu werden.
»Wir haben schon auf dich gewartet. Unten. Jetzt. Wir machen das Vor-Briefing auf dem Weg.«
»Was ist passiert?«
»Unser Informant hat einen Kumpel verpfiffen, der eine Ladung Wein importieren und durch den Zoll bringen sollte, im Hafen von San Diego. Er trifft sich mit einem Typen, auf den Heidels Beschreibung passt.«
»Wo?«
Bears goldener Marshal-Stern blitzte im Gehen an seinem ledernen Gürtelclip. »Martía Domez Hotel. Ecke Pico und Paloma.«
Der Schmuggler würde die Drogen wahrscheinlich in einem Truck auf dem Parkplatz lassen, um nicht mit ihnen auf dem Zimmer erwischt zu werden. Im Motel würde er eine erste Rate bekommen und dann zu einem sicheren Haus dirigiert werden, wo man das Wasser aus dem »Wein« extrahierte, so dass nur Kokain übrig blieb.
»Wie habt ihr rausgekriegt, wo er ist?«
»ESU. Heidel ist ganz schön gerissen, alle paar Tage ein neues Handy, aber der Informant hat uns seine neue Nummer gegeben, und mit der hat er über einen Mast an der Ecke Paloma und Twelfth telefoniert.«
Die Electronic Surveillance Unit hatte eine ganze Menge Tricks im Ärmel, wenn es darum ging, Verdächtige zu verfolgen. Jedes Handy stößt kurze Funksignale aus, um sich im Netzwerk anzumelden. Wenn eine übergeordnete Behörde, wie der Marshals Service oder die NSA, bereit ist, sich die entsprechenden Ressourcen zu leisten, kann man das landesweite Handynetz darauf programmieren, diese Netzwerkmeldungen auf bis zu hundert Meter genau auszugeben. Wegen des Aufwandes – für derartige Handy-Verfolgungen benötigt man Männer, Autos und Handsets mit Global-Positioning-Systemen – sowie des offensichtlichen Problems, überhaupt erst mal entsprechende Gerichtsverfügungen zu erhalten, und wegen der komplizierten Zusammenarbeit mit den privaten Telekommunikationsfirmen wird diese Technik nur selten eingesetzt. Aber bei Heidel strengten sie sich an.
»Martía Domez ist das einzige Hotel im ganzen Block, und der Informant wusste, dass das Treffen in einem ›Zimmer Nummer neun‹ stattfinden soll«, fuhr Bear fort. »Das Treffen sollte nicht vor sechs sein, aber Thomas und Freed sind vor zwanzig Minuten vorbeigefahren und haben gesagt, es sei schon jemand auf dem Zimmer. Und jetzt sind noch zwei Männer dazugekommen.«
»Passt auf einen von ihnen Heidels Beschreibung?«
»Nein, aber sie sehen aus wie die Schweine, die ihn rausgeholt haben. Thomas und Freed überwachen das Motel jetzt zusammen mit den ESU-Zahlenjongleuren – ich hab ihnen gesagt, sie sollen sich ja nicht sehen lassen, wir würden sofort rüberrasen und uns die Schweine schnappen, bevor Elvis rausmarschiert.«
Bear knallte die Flurtür so energisch auf, dass sie eine Delle in der Wand hinterließ. Die übrigen Deputies schauten ihnen neidvoll nach, als sie hinausstapften.
Das Biest wartete unten auf sie. Das Biest war ein alter Armeekrankenwagen, allerdings neu ausgestattet, so dass zwölf Männer auf einander gegenüberliegenden Bänken sitzen konnten. Auf schwarzem Grund stand in weißen Buchstaben: POLICE US MARSHALS, was zu den T-Shirts der ART-Mitglieder passte. Auf der gesamten Kleidung und der Ausrüstung der US Marshals steht POLICE in größerer Schrift als der Name der Abteilung, denn in einer Gefahrensituation möchte ein Deputy Marshal nicht darauf warten, dass ein normaler Bürger sich daran erinnert, was zum Teufel ein Deputy US Marshal eigentlich treibt – und weil POLIZEI international steht für: Ich kann besser schießen als du! Die gelben Buchstaben und das aufgedruckte Bundessiegel senkten zudem die Chance erheblich, dass ein ART-Einsatz als Überfall gewertet würde.
Tim holte seine Ausrüstung aus seinem Kofferraum, hechtete hinten rein in das Biest, klatschte mit ein paar Kollegen die Hände aneinander und setzte sich dann zwischen Bear und Brian Miller, den Abteilungsleiter, der verantwortlich war für ART und die Hundeeinsatzstaffel, die nach Explosivstoffen suchte. Millers beste Hündin, ein schwarzer Labrador, benannt nach Jame Gumbs Pudel »Precious«, bohrte ihre Schnauze in Tims Schritt, bevor Miller sie zurückzog.
Tim betrachtete die acht anderen Männer auf den Bänken. Er war nicht überrascht, dass er die beiden mexikanischen ART-Mitglieder entdeckte; da bekannt war, dass Heidels Polizeimörder-Komplizen Latinos waren, brachte Miller spanischstämmigen Mitarbeiter zum Einsatz, um jedem Vorwurf eines rassistischen Rachekomplotts zuvorzukommen. Ein junger Kubaner namens Guerrera vertrat den normalerweise anwesenden dritten Mann, denn dieser war der Schwager eines der Deputies, die von Heidels Männern erschossen worden waren. Miller hatte jede nur mögliche Vorsichtsmaßnahme getroffen, um für eine anständige, gesetzestreue Verhaftung zu sorgen und sicherzustellen, dass seine Männer die Bosheit der Zeiturgen von Los Angeles nach einem solchen Einsatz überstanden.
Auf der Bank Tim gegenüber rutschten die Männer unsicher hin und her. »Tut mir einen Gefallen. Sagt mir nicht, wie leid euch das mit meiner Tochter tut. Ich weiß, dass es so ist, und ich weiß es zu schätzen.«
Die anderen nickten und murmelten leise. Bear hob die Stimmung, indem er auf Tims .357 im Holster zeigte. »Hey, Wyatt Earp. Wann kaufst du dir endlich eine Automatik und kommst im einundzwanzigsten Jahrhundert an?«
Bears kleine Aufführung sollte den anderen zeigen, dass Tim nicht aus Zucker war. Dankbar spielte Tim mit. »Der durchschnittliche Schusswechsel dauert sieben Sekunden und wird über eine Entfernung von weniger als drei Metern ausgetragen. Weißt du, wie viele Schüsse dabei normalerweise fallen?«
Bear lächelte über Tims aufgesetzt oberlehrerhaften Ton, und ein paar andere taten es ihm gleich. »Nein, Sir, weiß ich nicht.«
»Vier.« Tim zog die Pistole und drehte die Trommel. »Also, so wie ich es sehe, hab ich sogar noch zwei Kugeln zu viel.«
Das Biest holperte vom Parkplatz, vorbei an der Metallskulptur des Roybal Buildings, die aus vier riesigen menschlichen Umrissen bestand, die aussahen, als hätten sie bei der Verhaftung von Bonnie und Clyde versehentlich im Weg gestanden. Die perforierten Männer hier und die Frauen mit den Quadratköpfen auf dem Mosaik hinterließen bei Tim den Eindruck, dass die Regierung besser mit Budgets umgehen konnte als mit Kunst.
Frankie Palton streckte die Arme über dem Kopf aus und schnitt eine Grimasse. Jim Denley grunzte: »Hat dein Lude dich verkloppt?«
»Nein, meine Alte hat so ein verdammtes Comie-Sutra-Buch mitgebracht, du weißt schon, die ganzen Stellungen ...«
Tim fiel auf, dass Guerreras MP5 auf Dreischussintervall stand, und er deutete mit seinem Mittel- und Zeigefinger auf die eigenen Augen, dann auf den Knopf an der Waffe. Guerrera nickte und legte den Sicherungshebel um.
»... und letzte Nacht hat sie mich einen verdammten Kuhkongress machen lassen, ohne Scheiß, ich dachte, ich kugel mir gleich die Schulter aus.«
Ted Maybeck beugte sich vor und schaute auf den Boden zu seinen Füßen. »Verdammt. Verdammt«
»Was ist denn dein Problem, Maybeck?«, fragte Miller.
»Ich hab meinen Sturmbock vergessen.«
»Wir haben zwei Rammen und einen Vorschlaghammer vorne drin.«
»Aber nicht meinen Sturmbock. Ich hab ihn aus St. Louis mitgebracht. Das bringt Glü...«
»Sag’s ja nicht, Maybeck«, grummelte Bear und schaute auf. Er war dabei, seine fünf Schuss zu laden. »Sag es ja nicht.«
Tim wandte sich an Miller. »Wie steht’s?«
»Thomas und Freed sehen sich gerade um, checken die Lage. ESU behält das Handysignal im Auge, damit er sich nicht rührt. Wie wir alle wissen, gilt Heidel als bewaffnet und extrem gefährlich. Wenn die vier Feuerwaffen, die er hat registrieren lassen, etwas zu sagen haben, dann bevorzugt er Revolver. Wenn wir ihn haben, befehlt ihm ja nicht, die Hände hinter den Rücken zu nehmen – er hat möglicherweise eine Pistole im Bund seiner Jeans stecken. Wir wollen seine Hände auf seinem Kopf. Laut Zeugenaussagen haben die beiden lateinamerikanischen Männer ...«
»Du meinst Jose und Hose B?«, fragte Denley.
»Ihr verdammten Weißhäuter«, knurrte Guerrera. »Immer diese Minderwertigkeitskomplexe wegen eurer kleinen Glühwürmchenschwänze.«
»Die reichen immerhin, dir das Maul zu stopfen.«
Die beiden Männer streckten sich die Fäuste entgegen und stupsten sie aneinander. Taktische Präzision war eine Grundvoraussetzung für die ART, Schlagfertigkeit nicht.
In Millers Stimme lag jetzt ein warnender Unterton. »Die beiden lateinamerikanischen Männer verfügen über Gang-Tattoos im Nacken, und einer hat möglicherweise einen Stacheldraht um den Bizeps herum tätowiert. Wir sind nicht sicher, aber wir rechnen mit vier Mann in dem Hotelzimmer – Heidel, die beiden Mexikaner und der Schmuggler. Heidel hat eine Lebensgefährtin – eine dicke Kuh, die nicht gut Englisch spricht und mehrfach wegen illegalen Waffenbesitzes dran war. Letztes Jahr konnten wir sie nicht zu einer Aussage bewegen, also wird sie jetzt vielleicht mit verknackt. Heidel hat öfters gesagt, dass er nicht wieder ins Gefängnis geht – das ist leicht zu deuten.«
Heidel hatte, wie die meisten Flüchtlinge, die sie nach der Urteilsverkündung aufspürten, nichts mehr zu verlieren. Er hatte schon vor Gericht gestanden. Wenn er jetzt geschnappt wurde, verbrachte er den Rest seines Lebens im Knast, weswegen weder er noch seine beiden Deputy-Mörder einer Verhaftung besonders begeistert entgegensahen. Wieder einmal würden die Deputies sich an die Regeln halten müssen, selbst wenn die Verbrecher es nicht taten. Für Verbrecher galten keine Abteilungsvorschriften, keine Richtlinien zur Anwendung tödlicher Gewalt, sie kannten keine Rücksicht auf Passanten oder andere Anwesende. Um zu schießen, brauchten sie auch nicht darauf zu warten, dass sie mit einer Waffe bedroht wurden oder um ihr Leben fürchten mussten.
»Wir gehen mit acht Mann rein, ohne Anklopfen. Keine Granaten. Normale Reihenfolge an der Tür. Die LAPD übernimmt die Sicherung des Geländes, und wir haben noch ein paar Schützen auf der anderen Straßenseite. Guerrera, wir sind hier nicht in Miami – die Türen gehen hier nach innen auf, nicht nach außen. Denley, nicht vergessen, du bist in Los Angeles. Durch die Tür und weiter geradeaus, bis zur Wand. Vergiss diese vertikalen Brooklyn-Einstiege.«
»Und vergiss auch gleich den Bobby-De-Niro-Akzent, wo du schon dabei bist«, sagte Palton. »Das glaubt dir sowieso keiner.«
Denley zeigte mit dem Daumen auf seine Brust. »Du laberst mich an?!«
Tim musste lachen, zum ersten Mal seit Tagen. Ihm wurde klar, dass er seit fast fünf Minuten nicht mehr an Ginny gedacht hatte – seine ersten fünf Minuten Freiheit seitdem. Die Rückkehr der Erinnerung erschütterte ihn, aber zugleich verspürte er zum ersten Mal Hoffnung. Vielleicht würde er morgen sechs Minuten zustande bringen.
Das Biest rumpelte über den Bordstein und hielt auf dem Parkplatz hinter einem 7-Eleven. Freed kam vornübergebeugt zu ihnen herübergelaufen, als würde auf ihn geschossen – obwohl das Motel knapp zwei Blocks entfernt lag. Er hatte zwei LAPD-Officer neben sich. Einer der ESU-Zahlenschieber – fettiges Haar, dicke Brille, das volle Programm – klebte direkt hinter ihm, den Blick auf ein kleines GPS-Gerät gerichtet, dessen sanft schimmernde Anzeige verriet, dass der Handyimpuls von Heidels Mobiltelefon unbewegt blieb.
Die ART-Mannschaft begrüßte die Polizeikollegen. Miller bedankte sich bei ihnen für ihre Anwesenheit und besprach, wo sie Aufstellung nehmen sollten. Während die ART-Mitglieder sich um ihn versammelten, breitete Freed ein dickes Blatt Schlachterpapier auf der Motorhaube eines Volvos aus. Darauf hatte er eine grobe Skizze des Hotelzimmers angefertigt, die auf einem Gespräch mit dem Manager basierte sowie auf seinen eigenen Untersuchungen der verschiedenen Lüftungsschlitze und Rohrleitungen. Sie wollten nicht riskieren, dabei beobachtet zu werden, wie sie ein ähnliches Zimmer besichtigten. Der Grundriss war eigenartig lang und schmal; ein Flur führte vom vorderen Zimmer in ein Schlafzimmer und ein Bad.
»Der Schmuggler ist grad in einer Dickschüssel vorgeschaukelt«, sagte Freed. Sein Straßenslang vertuschte die Tatsache, dass er der Sohn reicher Eltern war, aber seine präzise Aussprache verriet immer noch den Besuch einer Privatschule. »Aufgemotzter 91er-Explorer. Chromstreifen, Trittbretter, Kuhfänger, Parkhilfe, Spoiler – die komplette Arschlochausstattung. Hinten scheint ein Haufen Kisten zu stehen, aber die Fenster sind getönt, also können wir nicht sehen, ob es Weinkisten sind oder nicht. Er ist seit etwa fünf Minuten drin. Die beiden Latinos sind in einem Chevy vorgefahren, und wir vermuten, wer auch immer auf dem Zimmer auf sie wartete, kam in einem grünen Mustang. Die Nummernschilder laufen auf Lydia Ramirez, Heidels Freundin, das ist schon mal nicht schlecht.«
Maybeck fummelte an seiner neuen Ramme herum, wie ein Pitcher einen neuen Handschuh in Besitz nahm. »Was wissen wir über die Tür?«
»Das Gebäude ist von 1920, also wahrscheinlich eine Metalltür mit einem Holzkern. Keine Fliegentür oder so ein Mist.«
Tim sah sich um. Leere Schnapsflaschen in braunen Papiertüten. Vorgärten voll Unkraut. Zerbrochene Fensterscheiben. »Vielleicht haben sie die Türen verkauft, als die Gegend den Bach runterging und das Hotel übernommen wurde.«
»Check’s lieber noch mal, falls sie hohl sind«, sagte Bear. »Das Letzte, was wir wollen, ist, dass du die Ramme wieder durch die verdammte Tür knallst.«
»Entspann dich, Jowalski. Das ist einmal passiert, vor verfluchten sechs Monaten.«
»Einmal reicht.«
Freed räusperte sich. »Das Gebäude hat zwei Stockwerke, das Zimmer befindet sich in der Mitte im Erdgeschoss, Nummer neun. Es gibt eine Schiebetür zu einem schmutzigen Pool hinten und ein Badezimmerfenster, ebenfalls nach hinten. Thomas und ich warten dort.«
Tim drehte die Lautstärke seines tragbaren Funkgerätes herunter, damit er später nicht daran denken musste. »Ist der Raum mit den Zimmern rechts und links verbunden?«
»Nein.«
Langsam machte sich das Adrenalin richtig breit. Die Männer hatten sich instinktiv in Paare aufgeteilt, sie waren unruhig wie Fohlen am Gatter. Precious zerrte an ihrer Leine.
Miller beendete sein Gespräch mit dem Polizisten und wandte sich an seine Männer. »Also dann, Jungs. Spielen wir Pearl Harbor mit ihm.«
Sie versammelten sich vor der Zimmertür im Flur des Hotels, eng einander gepresst, die Waffen auf Brusthöhe. Sie näherten sich von der Seite der Tür, auf der sich die Angeln befanden. Miller mit Precious vorneweg, Maybeck mit seiner Ramme direkt hinterher. Tim wie immer an erster Stelle, Bear, sein Einsatzpartner, würde sofort nach ihm durch die Tür hineinstürmen. Die anderen Zweiergruppen sammelten sich hinter ihnen. Alle in schwarzer Ausrüstung und voll bewaffnet, die Augen hinter Schutzbrillen, die Helme über den Kopf gezogen. Zahlreiche Flüchtige hatten sich schon in die Hose gemacht, wenn sie von diesem Team überrascht wurden.
Bear schwitzte, er hielt den Repetierbügel der Remington zurückgezogen, die Auswurfsöffnung war leer – bereit dafür, die Waffe durchzuladen und es krachen zu lassen.
Miller schlich vor und tippte an den Rand des Türrahmens. Precious stellte sich auf die Hinterbeine, sie setzte ihre Pfoten nicht an das Holz, ihre Schnauze folgte Millers Hand quer über die Unterseite der Tür und dann hoch bis zum Türknauf. Röche sie Explosivmaterial, das die Tür sicherte, dann hätte sie sich gesetzt, aber sie stand einfach da und hechelte. Miller entfernte sich mit ihr zügig, gab den Platz frei.
Die Tür bestand aus laminierten Spanplatten, wahrscheinlich hohl, mit billigen Angeln aus Weißmetall. Maybeck legte seine Hand darauf, er spürte die Schwingung. Deputy Marshals und Türen respektieren einander seit langem.
Maybeck holte mit der Ramme aus. Ein Augenblick perfekter Stille. Dann ließ er sie heruntersausen, er traf genau das Schloss. Der Riegel riss aus dem Rahmen, die Tür flog auf, ein Pac-Man-Biss fehlte am Knauf. Maybeck presste sich gegen die Außenwand, Tim huschte an ihm vorbei, er rannte ins Ungewisse, die Hitze von sieben weiteren Männern folgte ihm, alle brüllten.
»US Marshals!«
»Runter! Alle auf den Boden!«
»Policía! Policía!«
»Hände hoch! Nehmt die verdammten Hände rauf!«
Der Kopf des Schmugglers zuckte hoch. Er hatte Hunderter in einer zerknitterten braunen Papiertüte gezählt. Drei Handys lagen neben dem Bargeld auf einem verschrammten Holztisch. Eines von ihnen stieß still die verräterischen Signale aus.
Tim war sich des Mannes mit dem nackten Oberkörper rechts von ihm bewusst – er hatte Joaquin y Leticia auf seinem linken Brustmuskel stehen –, kümmerte sich aber um die unmittelbarste Gefahr, er stieß den Informanten zu Boden, um ihn in Sicherheit zu bringen. »Arme auseinander! Arme auseinander!«
Das ganze Zimmer erzitterte, als die übrigen ART-Mitglieder mit donnernden Stiefeln hereinkamen, sie nahmen sich einen Anwesenden nach dem anderen vor. Tim tastete den Schmuggler schnell um die Taille und an den Seiten ab, um sicherzugehen, dass er nicht an eine Waffe kam. Dann trat er über ihn hinweg und überließ die Weiterverarbeitung Bear. Tims Kopf drehte sich mitsamt der MP5, seine Wange lag an der Schulterstütze, er schaute den dunklen Flur entlang.
Zwei Deputies hatten sich Joaquin gegriffen, vier weitere drückten sich mit erhobenen MP5s an die Wände. Einer von ihnen übernahm den Schmuggler von Bear, dann trat Bear hinter Tim, er berührte mit einer Hand seine Schulter, Schritt für Schritt gingen sie in den dunklen Flur. Hinter ihnen wehrte sich Joaquin, er fluchte laut, während die Marshals damit fortfuhren, das Zimmer zu räumen.
»US Marshals!«, rief Tim durch den Flur. »Ihr seid umzingelt! Kommt in den Flur! Kommt in den Flur!«
Zwei Männer warteten hinter Tim und Bear, sie wollten nichts lieber, als in das Hinterzimmer einzudringen. Es war dämmrig und still im Flur, bis hin zu den offen stehenden, einander gegenüberliegenden Türen von Schlafzimmer und Bad. Keine Schränke oder Ecken, hinter denen man sich verstecken konnte – Grund genug, dass Veteranen sich manchmal weigerten, in Flure zu gehen; sie nannten sie Schicksalstrichter.
Tim marschierte zügig durch den Flur, die Männer hinter ihm riefen immer noch Befehle. Es roch nach vermodertem Teppich und Staub. Als Tim sich den beiden offen stehenden Türen näherte, lehnten sich Heidel und Lydia Ramirez von beiden Seiten jeweils ein klein wenig heraus und zielten mit ihren Pistolen direkt auf Tims Kopf. Es war eine makellos getimte Bewegung, Tim konnte nicht auf einen schießen, ohne dass der andere auf ihn gefeuert hätte. Und da der Flur so schmal war, konnte Bear ihm von hinten auch nicht helfen.
Heidel drückte sein Gesicht an die Innenseite des Türrahmens des Schlafzimmers, deswegen war seine Stimme verzerrt. »Los, du Arschloch! Weitergehen!« Er zielte jetzt auf Bear, der immer noch hinter Tim stand. »Du! Dicker! Zurück.«
Heidels Waffe schien eine SigSauer zu sein. Außerdem hatte er in einem Schulterholster unter seinem linken Arm einen Revolver stecken, es sah nach einer Ruger aus.
»Komm schon, komm her!« Heidel packte mit einer gierigen Hand Tims Hemd.
Bear lud seine Waffe durch, seine großen Fäuste hielten das Gewehr wie einen Billardqueue. »Er gehört zu einer Bundesbehörde! Lass ihn sofort los! Ich habe gesagt: Lass den Bundesbeamten los!«
Ohne die MP5 zu bewegen, betätigte Tim mit dem Daumen den Magazinauswurf und ließ das Magazin auf den Boden fallen, bevor Heidel ihn um die Ecke ins Schlafzimmer zerrte. Er knallte Tim gegen die Wand und drückte ihm die Sig so heftig gegen die Wange, dass Tim Äderchen platzen spürte. Heidel trug eine Wollmütze, die er bis über seine Augenbrauen hinuntergezogen hatte. Ein faseriges Kinnbärtchen in Hellblond hob sich kaum von seiner blassweißen Haut ab. Ein anderer Mann, ein großer Latino, um dessen Bizeps sich ein Schlangentattoo wandte, riss Tim mit einer Hand die MP5 weg und zog mit der anderen Tims Smith & Wesson aus dem Holster. Er sah die leere Einzugsöffnung der MP5 und schmiss die Waffe verärgert zur Seite, obwohl noch eine Patrone in der Kammer steckte.
Weitere Rufe im Flur. Heidel streckte den Arm heraus und schoss blindlings in den Flur, bis der Schlitten hinten blieb. Er warf die leere Waffe beiseite, zog seine Ruger, zeigte dann auf Tims Smith & Wesson, die er sich als Ersatz in sein leeres Schulterholster schob. Er drückte Tim jetzt die Ruger ins Gesicht.
»Wenn sich irgendwer rührt, knall ich euren Mann ab!«, brüllte Heidel. »Komm jetzt, Baby. Komm her.« Seine Freundin ging durch den Flur ins Schlafzimmer, dann knallte Heidel die Tür zu und schloss ab. Tim drehte sich trotz des schmerzhaften Drucks der Pistole ein wenig, um die Aufteilung des Zimmers zu erfassen, und bemerkte die Feuertür, die in das Hotelzimmer nebenan führte. Fehlinformation.
Heidel brüllte durch die geschlossene Tür. »Wenn irgendjemand hier reinkommt, knall ich ihn ab! Ich verarsch euch nicht.« Dann wandte er sich voller Panik um und schob den Schläger vor sich zur Feuertür. »Los, Carlos.«
Carlos riss die Feuertür auf und ging hindurch. Ein weiteres Schlafzimmer, ein weiterer langer Flur. Heidel stieß Tim vor sich her, er folgte Carlos. Der Riese hatte einen Revolver hinten in der Jeans stecken, der Perlmuttgriff schimmerte. Tim ging ein wenig langsamer, ließ sich zurückfallen. Heidel und seine Freundin schossen völlig unsinnig auf die Wände hinter ihnen.
»Weiter, Cabrón«, schrie Lydia. Sie stieß ihn von hinten. Tim ließ sich fallen.
Carlos lief weiter, verschwand um die Ecke.
»Steh auf! Steh verdammt noch mal auf!« Lydia ragte über Tim auf, ihre Brüste schwangen frei und fett in einem Männerunterhemd. Heidel stand hinter ihr, gab Rückendeckung.
Tim stemmte sich auf Hände und Knie, dann stand er auf. Sein Holster hing leer von seinem Gürtel. »Er soll weitergehen!«, schrie Heidel.
Tim legte seine Arme über Kreuz, die linke Hand hoch auf den Bizeps. Als Heidel mit der Ruger auf seine Stirn zielte, wie Tim es vorausgesehen hatte, streckte er die Hand aus, packte die Trommel derart fest, dass sie sich nicht drehen konnte, und trat Heidels Freundin so kräftig er konnte in den Magen. Sie stöhnte laut und sackte in sich zusammen, hielt aber weiter ihre Pistole fest.
Heidel zerrte am Abzug, denn ihm war nicht klar, dass die Trommel sich nicht drehen konnte. Er drückte den Lauf mitten auf Tims Stirn. Mit der rechten Hand griff Tim nach seiner eigenen Smith & Wesson, die in Heidels Schuiterholster steckte, und dann schoss er Heidel ganz ruhig in die Brust. Blut benetzte Tims Gesicht, Heidel stürzte rückwärts, die Arme hoch gereckt, wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Schneeengel machte. Tim hielt weiterhin die Ruger fest, die immer noch auf seinen eigenen Kopf zielte. Er drehte sich schnell, sah, dass Lydia sich aufrappelte, und schoss ihr einmal in die Brust und einmal ins Gesicht, bevor sie ihre Pistole auch nur in die Waagerechte gebracht hatte.
Sie brach mit einem Gurgeln zusammen, ein Haufen Fleisch und zerfetzter Baumwollstoff.
Tim drehte die Ruger um und steckte sie in sein Holster, die Smith & Wesson behielt er in der Hand. Er lief durch den Flur, Schulter an der Wand, und erreichte den Wohnraum, gerade als Carlos durch die Schiebetür hinaus in den Poolbereich rannte. Abgesehen von Freed und Thomas waren alle anderen Schützen vorne, und die Verstärkung der LAPD war einen Block entfernt. Tim lief hinter Carlos her durch die Schiebetür, aber der Mann war verschwunden. Thomas kam auf Tim zugestürmt, die Waffe gesenkt, während Freed die hintere Seite des Pools bewachte. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass Carlos vier Zimmer und zwei Flure weiter herauskäme.
Ohne abzubremsen deutete Thomas auf ein noch hin und her pendelndes Tor links von Tim. »Los!«
Tim folgte ihm in eine schmale Gasse. Rauchwolken quollen aus dem Fenster einer Restaurantküche, klebten an den Mauern. Carlos rannte auf eine verkehrsreiche Straße zu. Tim überholte Thomas schnell. Carlos erreichte die Straße und sah die LAPD-Wagen in einiger Entfernung und dazu die Penner und Schaulustigen, die bei der Polizei stehen blieben und jetzt auf ihn zeigten und riefen. Fünfzehn Meter hinter ihm lief Tim aus der Gasse heraus, gerade als Carlos überrascht stehen blieb. Die beiden jungen Cops der LAPD sahen noch erschrockener aus als Carlos.
Der griff nach seinem Revolver, der noch hinten in der Jeans steckte, und Tim stoppte, hob seine Smith & Wesson und zielte direkt in die Mitte. Zweimal traf er Carlos zwischen den Schulterblättern, dann schoss er ihm seine letzte Kugel in den Hinterkopf, nur falls der Mann eine kugelsichere Weste trug. Carlos stürzte auf den Bürgersteig und die Überreste seines Kopfes zerspritzten wie eine auf dem Boden zerschmetterte Melone.