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Als Tim wieder zum Zimmer neun zurückkehrte, zerrten zwei Deputies gerade Joaquin heraus. Sie hatten ihn an seinen Knöchel- und Handgelenksfesseln gepackt und trugen ihn waagerecht, mit dem Gesicht nach unten. Ein Nylonseil führte von seinen Knöcheln hoch zu seinen Armen. Er wehrte sich wie ein Wilder, er zerrte und zuckte und versuchte, die Deputies in die Beine zu beißen. Der Schmuggler hatte sich offenbar williger abführen lassen.

Fünf LAPD-Streifenwagen sperrten den Bereich mit eingeschalteten Warnleuchten ab. Eine Menge Gaffer hatten sich versammelt, in der Ferne konnte Tim schon die ersten Satellitenschüsseln der Nachrichten-Vans ausmachen, die Wind von der Geschichte bekommen hatten. Man konnte auch das Rattern eines Helikopters hören, obwohl er am Himmel noch nicht zu sehen war.

Bear saß draußen an der Wand. Er hielt sich die Rippen, Miller und ein Sanitäter beugten sich über ihn. Tim merkte, wie sein Puls erneut zulegte. »Alles in Ordnung?«

Miller öffnete dramatisch eine Faust und zeigte die abgeflachte Kugel, die er gerade aus Bears Weste gezogen hatte. Tim stieß erleichtert den Atem aus und ließ sich neben Bear an der Wand heruntergleiten.

»Du hast neun Leben, Bear.«

»Jetzt nur noch sieben. Das erste verdanke ich dir, dieses geht auf Kevlar.«

Freed, Thomas und ein weiterer Polizist standen um die Dickschüssel herum, sie linsten gierig durch die getönten Fensterscheiben. Schweiß auf Freeds T-Shirt ließ den Umriss der kugelsicheren Weste sichtbar werden.

»Was machen die da?«, fragte Tim.

»Sie warten auf den Rückruf der Staatsanwältin«, antwortete Miller. »Sie versucht, einen Richter zu Hause zu erreichen, um einen telefonischen Durchsuchungsbefehl für den Wagen zu erhalten.«

»Wir erwischen einen der fünfzehn Meistgesuchten, der gerade Bargeld austeilt, zusammen mit vorbestraften Drogenschmugglern, dann versucht er, uns abzuknallen, und das reicht nicht als Verdachtsmoment, um den verdammten Wagen zu knacken?« Bear bekam vor lauter Empörung einen Hustenanfall. »Nicht mehr, schätze ich«, meinte Miller.

»Soll das heißen, meine Abendschule an der South West L.A. Legal Training Academy hat mich nicht unfehlbar gemacht? Was soll denn das?«

Tim zuckte mit den Achseln. »Wir haben die Männer, wir haben das Auto. Nichts kommt weg. Sie können auch noch zwanzig Minuten warten, um ganz sicherzugehen.«

Sie saßen da und beobachteten das Treiben auf dem Parkplatz und der dahinter liegenden Straße. Langsam kehrte wieder Ruhe ein. Die jüngeren Deputies hatten sich vor der Tür zu Zimmer neun versammelt und versuchten, den bitteren Nachgeschmack der Sterblichkeit durch Scherze zu vertreiben.

»Durch das Loch in der Brust von dem Arsch hätte man eine Katze werfen können.«

»Schöner Treffer, schöner Treffer.«

»Rack hat den Penner einfach abgeknallt, der war DRT: Dead Right There.«

Ein paar von ihnen klatschten einander ab. Tim bemerkte, dass Guerrera sein Handgelenk umklammerte, damit sein Arm nicht zitterte.

»Genau so muss das laufen, Rack«, rief jemand. »Super Sache.«

Tim hob die Hand ein wenig, um zurückzuwinken, aber er schaute bereits zu dem Bronco des Marshals, der gerade durch die Polizeiabsperrung kam. Marshal Tannino sprang heraus und kam herangelaufen. Ein mittelgroßer, muskulöser Mann, der sich tatsächlich hochgearbeitet hatte. Marco Tannino war mit einundzwanzig zur Polizei gekommen. Dass Senator Feinstein ihn letztes Frühjahr empfohlen hatte, ebnete ihm den Weg zum Marshal, eine der wenigen Beförderungen, die tatsächlich auf guter Arbeit basierten. Die meisten der vierundneunzig Marshals spendeten großzügig für die Kampagnen der Senatoren, sie waren Treuhandfonds-Kinder, deren Väter gut mit dem Bürgermeister standen, oder schleimige Bürokraten aus irgendwelchen anderen Behörden. Zur großen Empörung der Deputies, die auf der Straße eingesetzt wurden, war einer der Marshals aus Florida sogar allen Ernstes ein ehemaliger Clown. Tannino aber hatte während seiner geradlinigen Karriere selbst jede Menge Einsätze absolviert, deswegen respektierte man ihn in seiner und anderen Abteilungen auf allen Ebenen.

Er schaute konzentriert und fuhr sich mit einer Hand durch seine graumelierte Föhnfrisur, während Freed ihn informierte. Miller drückte Tims Schulter. »Brauchst du einen Sanitäter?«

Tim schüttelte den Kopf. Nach dem Adrenalinkick war sein Mund trocken, und er hatte einen sauren Geschmack auf der Zunge. Es roch nach Schweiß und Schießpulver.

Einer der Polizisten kauerte sich vor Tim hin und schlug sein schwarzes Notizbuch auf. Er begann etwas zu fragen, aber Tim unterbrach ihn. »Ich habe nichts zu sagen.«

Tannino stieß mit dem Knie gegen den Polizisten, so dass der sich aufrichten musste, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. »Verschwinde«, sagte er. »Du solltest es besser wissen.«

»Ich mach nur meine Arbeit, Marshal.«

»Mach sie woanders.«

Der Polizist verschwand im Hotelzimmer.

»Wie geht’s?«, fragte Tannino. Er sah nach schicker Hill Street aus in seinem Harvey-Woods-Mantel, der Polyesterhose und den Nunn-Bush-Schuhen.

»Okay.« Tim zog seine Smith & Wesson aus dem Holster, überprüfte noch einmal, dass in der Trommel nur die sechs leeren Patronenhülsen steckten, und reichte sie Tannino, damit der nicht danach fragen musste. Es war nicht mehr länger seine Waffe, es war ein Beweisstück einer Bundesbehörde.

»Sie bekommen bald eine neue.«

»Das wäre gut.«

»Und jetzt schaffen wir euch hier weg. Die Medienaffen klettern schon die Stäbe hoch, bald wird es heiß hier.«

»Danke, Marshal. Ich habe se ...«

Der Marshal hob die Hand. »Nicht jetzt, nicht hier. Und niemals mündlich. Sie kennen doch das Spiel. Sie machen Ihre Aussage einmal, und dann schriftlich. Sie haben Ihre Arbeit getan, und zwar gut – jetzt springen wir durch alle Ringe und sehen zu, dass Sie keinen Ärger bekommen.« Er streckte die Hand aus und zog Tim aus dem Sitz hoch. »Los geht’s.«

Das Zimmer war klein und schmerzhaft hell. Tim rutschte auf dem Untersuchungstisch hin und her, und das steife Papier unter ihm knirschte. Bear und die übrigen ART-Mitglieder waren ebenfalls ins County USC Hospital eingeliefert worden und konnten alle in einzelnen Zimmern herunterkühlen.

Ein höfliches Klopfen an der Tür, dann kam Marshal Tannino herein. »Rackley. Sie haben eine ganz schön Spur gezogen.« Er legte den Kopf schief und betrachtete Tim mit dunkelbraunen Augen. »Der Arzt hat mir gesagt, Sie hätten die Sedativa abgelehnt. Warum?«

»Ich muss nicht betäubt werden.«

»Sie sind nicht ärgerlich?«

»Nicht deswegen.«

»Sie haben das schon öfter durchgemacht. Auch bei den Rangers.«

»Ja. Ja, habe ich. Ich würde aber sagen, nur ein paar Mal.«

»Einige psychologische Betreuer werden rüberkommen. Die können mit Ihnen reden, mit den anderen, mit Ihrer Frau, was Sie wollen.«

»Die Weichspüler? Ich glaube, da passe ich.«

»Das können Sie machen. Aber Sie sollten zuerst darüber nachdenken.«

»Ehrlich gesagt, Marshal, mich beschäftigt das nicht wirklich. Ich hatte kaum eine Wahl. Ich habe mich an die Vorschriften gehalten. Die haben versucht, mich zu töten. Ich habe sie völlig zu recht erschossen.« Tim befeuchtete seine Lippen. »Es gibt andere Dinge, um die ich mich kümmern muss. Dinge, die mir näher stehen.«

»Auch darüber wollte ich mit Ihnen reden. Ihre Tochter. Es gibt da einen Mann, der sich auf so etwas spezialisiert hat – einen bekannten Psychologen drüben an der UCLA ...«

»William Rayner.«

»Er ist teuer, aber ich bin sicher, ich kann irgendjemanden dazu bewegen, ein wenig ...«

»Wir kriegen das schon alleine hin, danke.«

»Okay.« Tannino ließ seine Zähne ein paar Mal aufeinander klicken, betrachtete Tim besorgt. »Wie kommen Sie beide damit klar?«

Tim schürzte die Lippen, dann löste er sie wieder. »Ich weiß nicht.«

Tannino räusperte sich, sah zu Boden. »Ja. Ich schätze, so ist das einfach.«

»Könnte man vielleicht ...?«

»Was, mein Junge?«

»Könnte man vielleicht dafür sorgen, dass einer unserer Männer sich mit dem Fall meiner Tochter beschäftigt? Die Detectives, die damit befasst sind, sind nicht ...« Er hielt inne, er konnte Tannino nicht in die Augen sehen.

»Wir können die Ressourcen unserer Abteilung nicht für Gefälligkeiten einsetzen, Rackley. So funktioniert das einfach nicht. Sie müssten wissen, dass Sie mich so etwas gar nicht fragen sollten.«

Tims Gesicht rötete sich. »Ja. Ich weiß. Es tut mir leid.« Er erhob sich vom Tisch. »Kann ich jetzt gehen?«

»Ich möchte Sie lieber noch ein bisschen von den Medien fern halten. Drei Tote, eine öffentliche Schießerei – das wird ein Zirkus. Wir müssen das sehr methodisch angehen.« Er sah Tim an, als wäre er nicht sicher, ob der verstand. »Außerdem ist Ihr FLEOA-Anwalt unterwegs hierher. Der hilft Ihnen mit Ihrer Aussage, damit alles stimmt.«

»Okay«, sagte Tim. »Danke.«

»Tut mir leid, der ganze Mist. Aber so ist das heutzutage. Und wir müssen es sauber zu Ende bringen. Man kann einen schlechten Einsatz nicht in einen guten verwandeln, aber man kann aus einem guten einen schlechten machen.«

»Es war ein guter Einsatz.«

»Dann sollten wir dafür sorgen, dass das so bleibt.«

Dray lag zusammengekauert im Dämmerlicht auf der Wohnzimmercouch, als Tim zurückkehrte. Die Jalousien waren heruntergelassen. Das waren sie gewesen, als Tim morgens ging, und er fragte sich, ob sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie irgendwann zu öffnen. Sie trug eine zerrissene Jeans und ein Sweatshirt von der Akademie und sah aus, als hätte sie es nicht einmal geschafft zu duschen. Eine Armlänge von ihr entfernt stand eine halb leere Schüssel Frühstücksflocken, daneben lagen zwei leere Cola-Dosen.

Es war zu dunkel, als dass Tim erkennen konnte, ob sie schlief, obwohl er das Gefühl hatte, dass sie wach war. Er schaute auf die Uhr am Videorekorder. Fast elf. »Tut mir leid, dass ich so spät komme. Ich habe ...«

»Ich weiß. Ich hab die Nachrichten gesehen. Ich dachte, du würdest vielleicht anrufen.«

»Das ging nicht, so wie es gelaufen ist.«

Mühsam stemmte Dray sich auf ihre Ellenbogen, ihr Gesicht wurde sichtbar. »Wie ist es gelaufen?«

Er erzählte es ihr. Auf halber Strecke erschien eine nachdenkliche Stirnfalte auf ihrem Gesicht.

»Komm her«, sagte sie, als er fertig war. Er ging zu ihr hinüber und sie machte ihm Platz auf der Couch, zwischen ihren Beinen. Er setzte sich, lehnte sich gegen sie, ihr Körper war noch warm vom Schlaf, muskulös. Letzten Monat hatte sie an ihren Trizeps gearbeitet, und jetzt ragten sie wie Höcker auf den Rückseiten ihrer Arme heraus. Sie spielte mit seinem Haar. Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust, und er ließ es zu. Als er innerlich losließ, wurde ihm klar, wie sehr er sich in schützende Steifheit zurückgezogen hatte, um die letzen Tage durchzustehen. Er lehnte sich zurück, er atmete Dray ein, er genoss ihre Berührungen.

Nach ein paar Minuten wandte er sich um und küsste sie. Sie lösten sich voneinander, zögerten, küssten sich wieder.

Dray strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, fuhr mit dem Finger über die schmale Narbe an seinem Haaransatz, wo er etwas außerhalb von Kandahar einen Gewehrkolben abbekommen hatte. Er kämmte sein Haar meist auf der rechten Seite darüber, um sie zu verbergen. Nur Dray durfte sie anschauen, ohne dass es ihm unangenehm war. »Vielleicht könnten wir, ich weiß auch nicht, ins Schlafzimmer gehen«, fragte sie.

»Willst du mich anmachen?«

»Ich glaub schon.«

Tim erhob sich und beugte sich über sie, er schob seine Hände unter ihre Knie und Schultern. Sie kicherte, was ganz untypisch für sie war, und schlang ihre Arme um seinen Hals. Er tat so, als fiele es ihm schrecklich schwer, sie hochzuheben, er stöhnte und ließ sie zurück auf die Couch fallen. »Du musst mal ein paar Pfund runterhungern.«

Er hatte es als Witz gemeint, aber es klang scharfzüngig. Ihr Lächeln verblasste, und er spürte, wie sein Vorwurf sie traf und sich in Selbsthass verwandelte. Er kniete nieder und nahm ihr Gesicht in beide Hände, er ließ sie die Reue in seinem Blick lesen.

»Komm mit«, bat er.

Sie erhob sich, sie betrachteten einander. Sie hatten nicht miteinander geschlafen, seit Ginny ermordet worden war. Obwohl das erst sechs Tage her war, belastete sie diese Tatsache stark. Vielleicht bestraften sie einander, sie versagten sich Intimität, vielleicht fürchteten sie auch die Nähe selbst.

Tim war so nervös wie bei einem ersten Date, er fand es eigenartig, sich in seinem Alter so unsicher zu fühlen, in seinem Haus, mit seiner Frau. Sie atmete schwer, auf ihrem Hals schimmerte eine dünne Schweißschicht, sie streckte den Arm aus und nahm seine Hand, ein wenig ungeschickt.

Sie gingen ins Schlafzimmer, zogen sich aus und begannen sich zu küssen, vorsichtig, zögernd. Sie legte sich aufs Bett, er schob sich zärtlich über sie, aber dann veränderten sich die Geräusche, die sie von sich gab, sie wurden stechender. Er hielt inne, und dann wurde ihm klar, dass sie weinte. Sie spreizte die Finger, stemmte ihre Handflächen gegen seine Schultern, drückte ihn weg, von sich herunter. Er saß auf dem Bett, nackt und verwirrt, während sie das Laken ungeschickt über sich zog. Ginnys leeres Zimmer auf der anderen Flurseite schien eine tiefe Vibration auszusenden.

Dray drücke einen Arm auf ihren Bauch, die andere Hand hielt sie vor ihre zitternden Lippen, bis sie sich beruhigten. »Es tut mir leid. Ich dachte, ich wäre schon so weit.«

»Das muss dir nicht leid tun.« Er streckte den Arm aus und streichelte ihr Haar, aber sie reagierte nicht. Er zog sich leise an. Er war nicht sicher, ob sie das als Beleidigung ansah, oder als seinen Versuch, eine wenig Stolz zu wahren; nichts von beidem lag in seiner Absicht.

»Ich glaube, ich brauche noch ein wenig Raum.«

»Vielleicht sollte ich wieder zurückgehen ...?« Er zeigte durch den Flur, dann zog er sich langsam aus dem Schlafzimmer zurück. Er blieb einen Moment in der Tür stehen, aber sie hielt ihn nicht auf.

Tim schlief unruhig mit einem Wirrwarr aus Alpträumen. Er erwachte wenige Stunden später vollkommen verschwitzt, seine grauen Traumbilder bestätigten auf irgendeine Weise seine Vermutung, dass Ginny unter den Händen zweier Mörder gestorben war – von denen einer immer noch ein Rätsel darstellte.

Er konnte sich nicht auf die Kompetenz der Detectives verlassen. Er stimmte nicht mit der Sichtweise des Staatsanwalts überein. Er konnte sich seiner dienstlichen Möglichkeiten nicht bedienen. Er konnte in dem Fall nicht selbst ermitteln.

Er war verzweifelt.

Verzweifelt genug, um an einem Ort um Hilfe zu suchen, von dem er sich geschworen hatte, dies nie zu tun.

Er schaute auf die Uhr – 23:37.

Er hinterließ Dray eine Notiz, falls sie aufwachte, ging leise aus dem Haus, fuhr zügig nach Pasadena. Er durchquerte die sauberen Vorstädte, Herzschlag und Panik nahmen zu, je näher er seinem Ziel kam. Er parkte vor einem akkuraten Betonweg, dessen Platten genauso fein geglättet waren wie die auf Tims Terrasse. Die Fenster glitzerten – kein Hauch von Schmutz. Der Rasen war kurz und ordentlich geschnitten, die Ränder hatte man perfekt mit einem Rasentrimmer oder vielleicht sogar der Schere gekürzt.

Tim ging den Weg entlang, blieb einen Augenblick stehen. Er betrachtete die Farbe auf der Eingangstür, es war nicht ein einziger Pinselstrich auszumachen. Er klingelte, wartete.

Die Schritte näherten sich gleichmäßig, wie ein Metronom.

Sein Vater öffnete die Tür.

»Timmy.«

»Dad.«

Sein Vater stand, wie immer, zwischen Tür und Rahmen, als müsste er das Haus vor dem Angriff eines Bibelverkäufers schützen. Sein grauer Anzug war billig, aber ordentlich gebügelt, der Knoten seiner Krawatte saß, obwohl es spät in der Nacht war, hoch und fest an seinem Hals. »Wie geht es dir? Ich hab nach der Neuigkeit nicht mit dir gesprochen.«

Die Neuigkeit. Eine Verlobung. Ein Business-Deal. Eine ermordete Tochter.

»Kann ich hereinkommen?«

Sein Vater atmete tief ein und hielt einen Augenblick den Atem an, was zeigte, wie unangenehm ihm das war. Schließlich aber trat er zur Seite und ließ die Tür aufschwingen. »Würde es dir etwas ausmachen, deine Schuhe auszuziehen?«

Tim setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch, gegenüber eines La-Z-Boy-Sessels, von dem er wusste, dass sein Vater darin Platz nehmen würde. Der blieb einen Moment vor ihm stehen, die Arme überkreuzt. »Möchtest du etwas trinken?«

»Ein Wasser wäre schön.«

Sein Vater beugte sich vor, nahm einen Untersetzer vom Couchtisch und reichte ihn Tim, bevor er in der Küche verschwand.

Tim sah sich in dem altbekannten Zimmer um, unverändert seit seiner Kindheit. Eine Reihe Bilderrahmen stand auf dem Kaminsims, darin die verblassten Werbefotos, mit denen sie verkauft worden waren. Eine Frau am Strand. Drei Babys in einem Kinderbecken. Ein Pärchen beim Picknicken. Tim war nicht sicher, ob sich in den Rahmen jemals private Bilder befunden hatten. Er versuchte sich zu erinnern, ob je ein Bild seiner Mutter in diesem Haus gestanden hatte. Er wusste es nicht. Sie hatte seinen Vater klugerweise verlassen, als Tim drei gewesen war.

Ginny war die Letzte der Rackleys gewesen, das Ende der Familie.

Sein Vater kehrte zurück, reichte Tim ein Glas, streckte ihm die Hand hin. Sie schüttelten einander die Hände.

Dann setzte er sich in den La-Z-Boy, betätigte den Holzhebel an der Seite, und lehnte sich zurück, die Fußstütze hob seine Unterschenkel an. Tim wurde klar, dass er seinen Vater seit Ginnys viertem Geburtstag nicht mehr gesehen hatte. Sein Vater war gealtert, nicht erschreckend, aber erkennbar – ein leichtes Faltennetz unter den Augen, tiefere Fältchen an den Mundwinkeln, kleine weiße Härchen in den Augenbrauen. Das machte Tim Sorgen. Wieder ein deutlicher Hinweis auf die Annäherung des Todes – diesmal langsam, aber genauso gnadenlos.

Er dachte daran, dass er, als er klein war, den Tod nicht verstanden hatte. Oder vielleicht hatte er ihn auch besser verstanden. Er hatte ihn verführt. Er hatte Krieg gespielt, er hatte Räuber und Gendarm gespielt, er hatte Cowboy und Indianer gespielt, aber er hatte nichts gespielt, bei dem es nicht um Leben und Tod ging. Als seine ersten Ranger-Kollegen gestorben waren, hatte er bei den Beerdigungen Uniform und Sonnenbrille getragen und stoisch zugeschaut, düster und stark. Und er hatte nicht um seine Freunde getrauert, nicht wirklich, denn sie hatten ihn einfach bloß überholt. Erster mit Führerschein, Erster mit fester Freundin, erster Toter. Aber nachdem er sich verliebt hatte, nachdem er seine Tochter verloren hatte, hatte sich all das verändert. Der Tod war nicht mehr verführerisch. Als Ginny starb, spürte er, wie ein Teil von ihm abriss und in ein dunkles Loch fiel. Etwas fehlte ihm. Er war verwundbarer geworden.

Er stellte fest, dass er den Tod immer weniger ertragen konnte.

Um sich zu stählen, zog er sich auf einen zuverlässigen Vorwurf zurück. »Bist du sauber geblieben?«, fragte er.

»Absolut.«

»Keine getürkten Schecks, keine falschen Kreditkartennummern?«

»Nicht eine. Immerhin vier Jahre jetzt. Mein Bewährungshelfer ist stolz auf mich, selbst wenn das nicht für meinen Sohn gilt.« Sein Vater legte den Kopf ein wenig zur Seite, hörte auf zu lächeln.

Er beugte sich vor, die Fußstütze verschwand unter billigem Stoff und rastete ein. Er legte die Beine über Kreuz, faltete die Hände auf dem oberen Knie. Er hatte immer schon eine Eleganz an sich gehabt, die alle Menschen und Dinge, mit denen er sich umgab, weit hinter sich ließ. Es war schwer, seine manikürten Nägel mit einem Leben in Einklang zu bringen, das durch zweitklassige Betrügereien finanziert wurde.

Was er als Nächstes sagte, überraschte Tim mehr als alles, was er je von seinem Vater gehört hatte.

»Ich vermisse Virginia.«

Tim nahm einen Schluck Wasser, um sich zu besinnen, nicht so sehr, weil er Durst hatte. »Du hast sie nicht oft gesehen.«

Sein Vater nickte, wieder mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, als lauschte er einer fernen Musik. »Ich weiß. Aber ich vermisse die Vorstellung von ihr.«

Tim schaute hinüber zu den Fotos auf dem Kaminsims. »Sie war nicht nur eine Vorstellung.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

Es fiel Tim nicht leicht, die Worte auszusprechen. »Ich brauche Hilfe.«

»Tun wir das nicht alle?« Sein Vater löste die Beine voneinander und lehnte sich zurück, seine Hände lagen nun auf den Armlehnen, wie beim Lincoln-Denkmal. »Geld?«

»Nein. Informationen.«

Sein Vater nickte langsam, wie ein Richter, der das alles schon x-mal gesehen hatte.

»Ich habe mich gefragt, ob du dich nach Ginnys Tod erkundigen könntest. Bei deinen Bekannten. Du kennst alle möglichen Leute – vielleicht hat jemand etwas gehört.«

Sein Vater erhob sich, zog ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Jacketts. Er wischte das Kondenswasser von Tims Glas, wischte den Untersetzer ab, legte ihn zurück auf den Couchtisch, stellte das Glas darauf, setzte sich wieder. Tim fragte sich, ob seine eigene Ordnungsliebe der Versuch war, einen unbewussten Drang zu befriedigen, es seinem Vater recht zu machen, oder einfach nur das angelernte Bedürfnis, wenigstens die Dinge in Ordnung zu halten, die man in Ordnung halten konnte. Das Haus strahlte nicht etwa eine liebevolle Pflege aus, sondern die Hartherzigkeit der Unsicheren. Sein Vater hatte es Brett für Brett selbst gebaut, zumindest hatte er das stets behauptet.

»Soweit ich aus den Zeitungen weiß, gibt es doch einen eindeutigen Verdächtigen. Diesen Kindell.«

»Den gibt es. Aber ich habe das Gefühl, dass mehr hinter der Sache steckt.«

»Das klingt, als wärst du ein wenig emotional.« Er betrachtete Tim, wartete auf eine Antwort. Als klar wurde, dass er keine bekäme, sagte er: »Warum hörst du dich nicht um? Du hast Informanten, Kollegen. Du hast auch mit Leuten auf der falschen Seite des Gesetzes zu tun, denke ich. Mal abgesehen von deinem Vater, meine ich.«

»Ich möchte nicht zu nahe an den Fall geraten, da ich eindeutig parteiisch bin. Und ich kann mich im Büro nicht um eine persönliche Sache kümmern.«

»Ah. Das Über-Ich spricht.« Sein Vater schürzte die Lippen, er hatte eine ausgeprägte Mulde in der Mitte seiner Oberlippe, sein Gesicht war feiner geschnitten und hübscher als Tims. »Also schiebst du lieber mich vor, ich soll meine Kontakte nutzen, aber du nicht deine.«

»Ich kann die Sache nicht objektiv behandeln, das ist doch offensichtlich. Ich dachte, wenn du etwas Relevantes findest, eine richtige Spur, könnten wir sie an die Polizei weitergeben.«

»Ich mag die Polizei nicht besonders, Timmy.«

Tim kämpfte dreiunddreißig Jahre Instinkt nieder und setzte sich der unglaublichen Verwundbarkeit aus, die in ihm entstand, wenn er etwas – irgendetwas – von seinem Vater erwartete. »Ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Noch nie. Um einen Job, um Geld, um einen Gefallen. Bitte.«

Sein Vater seufzte, er tat reuevoll. »Nun, Timmy, die Zeiten sind schwierig, und ich habe nur eine begrenzte Anzahl an Gefälligkeiten gut. Damit muss ich haushalten.«

Tims Mund war wie ausgetrocknet. »Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Aber was für dich wichtig ist, musst du verstehen, ist nicht unbedingt für mich wichtig, im Moment. Es ist nicht so, dass ich dir nicht helfen will, Timmy, ich habe nur meine eigenen Probleme, meine eigenen Prioritäten. Und ich habe keine ausstehenden Gefälligkeiten übrig, die ich dafür verwenden könnte.«

»Keine ausstehenden oder keine ausstehenden übrig?«

»Keine ausstehenden übrig, würde ich sagen.«

Tim biss sich auf die Unterlippe und ließ den Schmerz einige Sekunden andauern. »Ich verstehe.«

Sein Vater fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel, als striche er einen Kinnbart glatt. »Der Gesetzeshüter kommt zum Betrüger, um ihn um Hilfe zu bitten. Ich glaube, das nennt man Ironie.«

»Ich glaube, da hast du recht.«

Sein Vater erhob sich, er strich seine Hose glatt. Timm stand ebenfalls auf.

»Bitte grüß Andrea von mir.«

»Das mache ich.«

An der Tür streckte sein Vater die Arme zur Seite, er präsentierte sein Jackett. »Gefällt dir mein neuer Kirchenanzug, Timmy?«

»Ich wusste nicht, dass du in die Kirche gehst.«

Er zwinkerte. »Kann ja nicht schaden.«

Die Scharfrichter

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