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Als Bear kam, um ihm zu sagen, dass man Ginnys Leiche missbraucht und zerstückelt in einem Bach sechs Meilen von seinem Haus entfernt gefunden hatte, dass sie drei Leichensäcke gebraucht hatten, um ihre Überreste wegzuschaffen, und dass sie jetzt bereits auf dem Tisch des Leichenbeschauers lag, um genauer untersucht zu werden, fiel Tims Reaktion nicht so aus, wie er es erwartet hätte. Er wurde eiskalt. Er empfand keine Trauer – Trauer, würde er lernen, verlangte nach Perspektive, nach Erinnerung und brauchte Zeit, um sich auszubreiten. Die Nachricht traf ihn hart und schmerzhaft wie ein Schlag ins Gesicht. Und unerklärlicherweise empfand er sie als peinlich, obwohl er nicht wusste, warum. Seine Hand sank herunter, tastete nach dem Griff seiner Smith & Wesson, die er jedoch um 18:37 Uhr zu Hause nicht mehr trug.

Rechts neben ihm ging Dray in die Knie, mit einer Hand klammerte sie sich an den Türrahmen, ihre Finger krochen zwischen Angel und Tür, sie schienen geradezu nach Schmerz zu suchen. Unter der scharfen Kante ihres blonden Haars, am Rand ihres Nackens, glitzerte Schweiß.

Einen Moment lang erstarrte alles. Die Februarluft war schwer vom Regen. Ein Luftzug zerrte an den Flammen der sieben Kerzen auf dem rosaweiß glasierten Geburtstagskuchen, den Judy Hartley im Wohnzimmer hochhielt. Bears Stiefel, an denen noch Schlamm vom Tatort klebte, verdreckten die Veranda, deren Steine Tim letzten Herbst auf Händen und Knien eingeschlämmt hatte.

Bear sagte: »Vielleicht wollt ihr euch setzen.« In seinem Blick lagen dieselbe Schuld und dasselbe Mitgefühl, die Tim selbst in solchen endlosen Situationen empfunden hatte, und Tim hasste ihn ungerechterweise dafür. Aber die Wut verschwand schnell, und zurück blieb nur eine schwindelerregende Leere.

Die kleine Versammlung im Wohnzimmer spiegelte den Schrecken, der von dem leisen Gespräch an der Tür ausging, und hielt den Atem an. Eines der kleinen Mädchen sagte weiterhin Harry Potters Quidditchregeln und wurde streng zur Ruhe gerufen. Eine Mutter beugte sich vor und blies die Kerzen aus, die Dray nach dem Klopfen an der Tür voller Vorfreude entzündet hatte.

»Ich dachte, du wärst sie«, sagte Dray. »Ich habe gerade ihren Kuchen fertig ...« Ihre Stimme begann zu zittern.

Als er sie hörte, bereute es Tim sofort, dass er Bear gleich hier an der Tür nach Einzelheiten gefragt hatte. Seine einzige Möglichkeit, die Bedeutung dieser Nachricht zu erfassen, hatte darin bestanden, sie in Fragen und Fakten aufzugliedern, sie in kleine Stücke zu zerlegen, die er verdauen konnte. Jetzt, nachdem er das vollbracht hatte, war ihm übel. Aber er hatte selbst an genug Türen geklopft – genau wie Dray –, um zu wissen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie alles erfahren hätten. Besser schnell hineinwaten, ohne zu zögern, und sich gegen die Kälte wappnen, denn das eisige Gefühl würde ihre Knochen nicht so schnell verlassen, vielleicht niemals.

»Andrea«, sagte er. Mit zitternder Hand fuhr er durch die Luft; er suchte nach ihrer Schulter, fand sie nicht. Er konnte sich nicht rühren, konnte nicht einmal den Kopf drehen.

Dray senkte ihr Gesicht und begann zu weinen. Es waren Laute, wie sie Tim noch nie gehört hatte. Drinnen im Haus tat eine von Ginnys Schulkameraden es ihr gleich – eine verwirrte, instinktive Mimikry.

Bear ging in die Hocke, seine Knie knirschten, sein fülliger Körper kauerte sich zusammen, seine Nylonjacke umhüllte ihn wie ein Cape. Die gelben Buchstaben, blass und fahl, verkündeten DEPUTY US MARSHAL, falls das jemand kümmerte. »Liebes, halt durch«, sagte er. »Halt durch.«

Mit seinen riesigen Händen umfasste er ihren Bizeps und zog sie zu sich heran, so dass ihr Gesicht an seiner Brust ruhte. Ihre Hände fuhren durch die Luft, als fürchteten sie, etwas zu berühren, denn wer weiß, was sie dann täten.

Er hob bekümmert den Kopf. »Wir müssen noch ...«

Tim streckte sich nach unten, streichelte den Kopf seiner Frau. »Ich gehe.«

Die Riesenreifen von Bears zerschrammtem silbernen Dodge Ram holperten über die Sprünge im Asphalt, der schreckliche Scherbenhaufen in Tims Magen wurde durchgerüttelt.

Moorpark, zwölf Quadratmeilen mit Häusern an baumbewachsenen Straßen, etwa fünfzig Meilen nordwestlich von Los Angeles gelegen, kannte man vor allem deswegen, weil hier am meisten Gesetzeshüter wohnten. Es war ein preiswerter Country Club für die Anstandswauwaus, eine Zuflucht nach der Schicht auf den Straßen einer aus dem Gleichgewicht geratenen Metropole, mit der sie sich den Großteil des Tages herumplagten. Moorpark strahlte ein künstliches Fünfziger-Jahre-Fernsehserien-Flair aus – es gab keine Tätowierstudios, keine Obdachlosen, keine Schüsse aus fahrenden Autos. Ein Mitarbeiter des Secret Service, zwei FBI-Familien und ein PostInspektor teilten sich mit Tim und Dray die Sackgasse, in der sie wohnten. Einbrüche hatten in Moorpark ein Nullwachstum zu verzeichnen.

Bear starrte geradeaus auf die gelben reflektierenden Streifen in der Mitte der Straße, sie kamen aus dem Dunkel und verschwanden wieder dorthin. Er fuhr aufmerksam, nicht wie sonst in sich zusammengesunken; er schien dankbar zu sein, etwas tun zu können.

Tim ging den Berg der verbleibenden Fragen durch und versuchte eine zu finden, mit der er beginnen konnte. »Warum hast du ... warum warst du dort? Es ist kein Fall für die Bundesbehörden.«

»Die Sheriffs haben einen Abdruck von ihrer Hand genommen ...«

Von ihrer Hand. Eine separate Einheit. Nicht von ihr. Voller Entsetzen fragte sich Tim, in welchem der drei Säcke man ihre Hand fortgetragen hatte, ihren Arm, ihren Oberkörper. An einem von Bears Knöcheln klebte ein wenig getrockneter Schlamm.

»... das Gesicht war wohl schlimm, schätze ich. Teufel, Rack, es tut mir leid.« Bear seufzte so tief, dass es vom Armaturenbrett widerhallte. »Jedenfalls war Bill Fowler vor Ort. Er bestätigte die ID ...« Er unterbrach sich, riss sich zusammen, formulierte es neu. »Er erkannte Ginny und rief mich an, weil er weiß, dass ich mit dir und Dray befreundet bin.«

»Warum hat er es uns nicht gesagt? Er war Drays erster Partner nach der Akademie. Erst letzten Monat war er bei uns zum Grillen.« Tim hob die Stimme, klagte an. In seiner Aufregung erkannte er den verzweifelten Versuch, einen Schuldigen zu finden.

»Manche Leute sind einfach nicht dafür gemacht, Eltern zu sagen, dass ...« Bear ließ den Rest des Satzes aus, er fand ihn offensichtlich genauso abscheulich wie Tim.

Er nahm die Ausfahrt und donnerte über die Buckel auf der Rampe, so dass sie in ihren Sitzen auf und ab schnellten.

Tim atmete aus, er versuchte, die Schwärze loszuwerden, die seit der Abfahrt seinen Körper lähmte, grausam und methodisch. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.« Seine Stimme schien von weit her zu kommen. Sie verriet wenig von dem Chaos, das er im Zaum zu halten und zu kategorisieren versuchte. »Spuren?«

»Reifenabdrücke, die aus dem Bachbett führen. Es war ziemlich schlammig. Die Deputies sind dran. Ich habe nicht wirklich ... daran habe ich nicht wirklich gedacht.« In Bears Bartstoppeln schimmerte getrockneter Schweiß. Sein freundliches, überbreites Gesicht wirkte hoffnungslos erschöpft.

Tim dachte daran zurück, wie Bear letzten Juni Ginny in Disneyland auf seine Schultern gehoben hatte, er trug ihre dreiundfünfzig Pfund wie eine Tüte voller Federn. Bear war jung verwaist, hatte nie geheiratet. Die Rackleys waren im Grunde seine Ersatzfamilie.

Tim hatte drei Jahre lang als Mitglied des Escape Teams mit Bear zusammen Haftbefehle zugestellt, nach seinen elf Jahren bei den Army Rangers. Sie arbeiteten auch jetzt beim Arrest Response Team zusammen, der SWAT-artigen Truppe des Marshals, die Türen eintrat und so viele der zweitausendfünfhundert von Bundesbehörden gesuchten Verbrecher, die sich in der riesigen Metropole L. A. versteckten, einkassierte, wie sie in die Finger bekam.

Obwohl er noch fünfzehn Jahre von der vorgeschriebenen Pensionierung mit siebenundfünfzig entfernt war, hatte Bear in letzter Zeit begonnen, knurrig auf dieses Datum anzuspielen, als käme es bald. Um sicherzustellen, dass er es auch im Rentenalter noch mit genug Konflikten im Leben zu tun bekam, hatte Bear an der Abendschule der South West Los Angeles Legal Training Academy Jura studiert, und nachdem er zweimal durchgefallen war, hatte er schließlich letzten Juli bestanden. Er hatte sich von Chance Andrews – einem Richter, mit dem er oft zusammengearbeitet hatte – im Federal Building in der Innenstadt vereidigen lassen, und er, Dray und Tim hatten danach in der Lobby gefeiert. Sie hatten Cook’s aus Pappbechern getrunken. Bears Zulassung lag in der untersten Schublade seines Schreibtisches und staubte ein, es war nur eine präventive Maßnahme gegen mögliche Langeweile in der Zukunft. Er war neun Jahre älter als Tim, was man jetzt an den tiefen Furchen in seinem Gesicht erkennen konnte. Tim, der sich mit neunzehn verpflichtet hatte, verfügte über den Vorteil, sich dem Stress der Ausbildung mit seiner Jugendlichkeit entgegenstemmen zu können. Er war von den Rangers erfahren, aber nicht gealtert, weggegangen.

»Reifenspuren«, sagte Tim. »Wenn der Kerl so schlampig vorgeht, macht er noch mehr Fehler.«

»Ja«, sagte Bear. »Ja, das sicher.«

Er verringerte das Tempo und fuhr auf den Parkplatz, vorbei an dem quadratischen Schild, auf dem VENTURA COUNTY LEICHENSCHAUHAUS stand. Er parkte auf dem Behindertenparkplatz ganz vorne und warf seinen Marshal-Ausweis auf das Armaturenbrett. Sie saßen schweigend da. Tim presste seine Handflächen gegeneinander, quetschte sie zwischen die Knie.

Bear griff ins Handschuhfach und zog ein Fläschchen Wild Turkey heraus. Er nahm zwei Schlucke, ließ die Luft in die Flasche gurgeln, hielt sie dann Tim hin. Tim nahm einen halben Mund voll, spürte, wie der Alkohol rauchig und heiß in seinem Hals brannte, bevor er sich im Morast seines Bauches verlor. Er drehte den Verschluss zu, dann wieder auf und nahm noch einen Schluck. Er stellte die Flasche auf das Armaturenbrett, stieß seine Tür kräftiger auf, als nötig war, und sah Bear über die durchgehende Vorderbank hinweg an.

Jetzt – jetzt erst – begann er zu trauern. Bears Lider waren geschwollen und rot gerändert, und Tim fragte sich, ob er auf dem Weg zu ihnen nach Hause angehalten, in seinem Wagen gesessen und geweint hatte.

Einen Augenblick lang glaubte Tim, er würde zerbrechen, er würde schreien und nie wieder aufhören. Er dachte an die Aufgabe, die vor ihm lag – daran, was ihn hinter der doppelten Glastür erwartete –, und fand ein wenig Stärke irgendwo tief in sich, eine Stärke, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Sein Magen gurgelte hörbar, und er presste die Lippen aufeinander.

»Bist du bereit?«, fragte Bear.

»Nein.«

Tim stieg aus, Bear folgte ihm.

Das Neonlicht war gnadenlos hell, es brach sich auf den polierten Bodenfliesen und den Leichenschubladen aus Edelstahl an der Wand. Ein großer Klumpen lag leblos unter einem krankenhausblauen Laken auf dem mittleren Tisch, wartete auf sie.

Der Leichenbeschauer, ein kleiner Mann mit einem hufförmigen Haarkranz und einer alle Vorurteile bedienenden runden Brille, spielte nervös an dem Mundschutz herum, der an seinem Hals hing. Tim schwankte, seinen Blick auf das blaue Laken gerichtet. Die bedeckte Form war schrecklich klein und von unnatürlichen Proportionen. Der Geruch traf ihn überraschend, etwas widerlich Erdiges unter dem scharfen Duft von Metall und Desinfektionsmitteln. Der Whiskey schwappte in seinem Magen hin und her, als versuchte er herauszugelangen.

Der Leichenbeschauer rieb sich die Hände wie ein beflissener, ein wenig zurückhaltender Kellner. »Timothy Rackley, Vater von Virginia Rackley?«

»Stimmt.«

»Wenn Sie möchten, äh, können Sie nach nebenan gehen, und ich schiebe den Tisch vor das Fenster, damit Sie sie, äh, identifizieren können.«

»Ich wäre gern allein mit ihr.«

»Nun, da gibt es, äh, Fragen der Beweissicherung, also kann ich nicht wirklich ...«

Tim klappte seine Geldbörse auf und zeigte seine fünfzackige Marshal-Marke. Der Leichenbeschauer nickte gewichtig und verließ den Saal. Trauer wird, wie die meisten Dinge, mit mehr Rücksicht behandelt, wenn man ein wenig Autorität dahinterlegen kann.

Tim wandte sich an Bear. »Okay ...«

Bear betrachtete Tim einen Augenblick, sein Blick wanderte über das Gesicht. Irgendetwas, das er sah, musste ihn beunruhigt haben, denn auch er wandte sich ab und ging hinaus. Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu, so dass der Riegel nur leise klickte.

Tim betrachtete den Umriss auf dem Tisch, bevor er näher trat. Er war nicht sicher, welches Ende des Lakens er anheben sollte, er war nur Leichensäcke gewöhnt. Er wollte nicht das falsche Ende abheben und mehr sehen, als er unbedingt musste. Bei der Arbeit hatte er gelernt, dass man manche Erinnerungen niemals auslöschen konnte.

Er vermutete, dass der Leichenbeschauer Ginny mit dem Kopf in Richtung Tür gelegt hatte, und er tastete vorsichtig den Rand des Umrisses entlang, er machte die Ausbeulung ihrer Nase aus, die Augenhöhlen. Er war nicht sicher, ob sie ihr Gesicht gesäubert hatten, und er war sich auch nicht sicher, ob ihm das lieber wäre, oder ob er sie lieber so sehen wollte, wie sie zurückgelassen worden war, damit er dem Schrecken näher kam, den sie in ihren letzten Augenblicken durchlebt hatte.

Er schlug das Laken zur Seite. Er stieß die Luft aus, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen, aber er krümmte sich nicht zusammen, er zuckte nicht, er wandte sich nicht ab. Wut brannte in ihm, scharf und auf Zerstörung ausgerichtet, er betrachtete ihr lebloses, zerschmettertes Gesicht, bis das Gefühl abebbte.

Mit zitternder Hand zog er einen Stift aus seiner Tasche und zupfte damit eine von Ginnys Haarsträhnen – vom selben hellen Blond wie Drays – aus ihrem Mundwinkel. Das wenigstens wollte er in Ordnung bringen, trotz all der Schäden und Schmerzen, die ihr Gesicht zeigte. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er sie nicht berührt. Sie war jetzt ein Beweisstück.

Er war dankbar dafür, dass Dray die Erinnerung an diesen Anblick nicht mit sich tragen musste.

Vorsichtig legte er das Laken zurück über Ginnys Gesicht und ging hinaus. Bear sprang von einem der billigen grünen Stühle auf, und der Leichenbeschauer eilte zu ihm, er trank aus einem Papierbecher, der mit Wasser aus dem Wasserspender gefüllt war.

Tim wollte sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. Als seine Stimme zurückkehrte, sagte er: »Das ist sie.«

Die Scharfrichter

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