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Das ganze Gewühle des Leichenbeschauers in Ginnys kleinem Körper hatte keine nützlichen Hinweise mehr ergeben. Die Vagina war extrem gedehnt worden, aber es gab keine Samenflüssigkeit. Der Täter hatte ein Kondom getragen – das Labor identifizierte es aufgrund der Überreste der Beschichtung als Durex Gold Coin – aber weder bei Kindell zu Hause noch am Tatort waren passende oder benutzte Kondome gefunden worden. Nach sieben Tagen gab der Leichenbeschauer die Leiche schließlich frei. Aufgrund der Grausamkeit, mit der Ginny getötet worden war, und der Gründlichkeit des Leichenbeschauers, hatten Tim und Dray keine andere Wahl, als den Sarg bei der Trauerfeier geschlossen zu lassen, was ihnen auch nur recht war.

Sie zahlten die Bestattung von Ginnys College-Sparbuch.

Die Trauerfeier war von gnädiger Kürze. Drays vier Brüder kamen zu früh, große und breite Kühlschränke, sie brachten Flachmänner voll Bourbon mit. Sie versammelten sich in einem kleinen Kreis, warfen Tim vorwurfsvolle Blicke zu und weinten. Bear saß allein in der letzten Reihe, den Kopf gesenkt. Mac und Fowler nutzten jede Gelegenheit, um sich an Drays Seite zu schmeißen. Sie hielten Abstand zu Bear.

Dray trug einen grauen Mantel über einem schwarzen Kleid und hielt sich wacker, obwohl sie erkennbar am Ende war.

Tims Vater kam zu spät, schlank, wohlfrisiert, er roch nach Aftershave. Er küsste Dray auf die Wange – sie begrüßte ihn zur Abwechslung warmherzig, umklammerte seine Hand –, dann nickte er Tim getragen zu. »Ich bedaure euren Verlust sehr.«

»Ich danke dir«, sagte Tim.

Nachdem sie mehrfach ungeschickt angesetzt hatten, brachten sie eine schiefe Umarmung zustande. Tim gab sich alle Mühe, seinem Vater für den Rest der Trauerfeier aus dem Weg zu gehen, und sein Vater schien diese unausgesprochene Vereinbarung genauso akzeptabel zu finden.

Die Beerdigung fand auf dem Friedhof Bardsdale bei einer feuchten Brise statt, so dass die Kleidung der Trauergäste unangenehm klamm wurde. Der Matsch, der sich an den Rändern von Tims Anzugsschuhen sammelte, erinnerte ihn an den an Kindells Stiefeln – die Flecken der Schuld. Tim überlegte, ob er sie nun trug, weil er den Mord an seiner Tochter nicht gerächt hatte.

Sein Vater verließ die Zeremonie noch vor ihrem Ende. Tim sah ihn allein den Grashang hinuntergehen, und seine Schultern waren nicht so gerade durchgedrückt, wie es sonst die Haltung seines Vaters – und diesen selbst – definierte.

Auf der Fahrt nach Hause hielt Tim am Straßenrand an und neigte sich über das Steuerrad, er rang nach Atem. Nach seiner Rückkehr aus Kroatien war er jeden Monat mehrfach so aufgewacht, wenn die Bilder der Massengräber über ihn hereinbrachen, aber er hatte noch nie zuvor bei Tageslicht einen klaustrophobischen Anfall gehabt. Dray beugte sich zu ihm herüber, sie rieb liebevoll und geduldig seinen Nacken. Das Gefühl des Eingeschlossenseins verschwand so plötzlich, wie es über ihn gekommen war. Er saß da und starrte benommen auf die Straße, seine Schultern hoben und senkten sich immer noch erkennbar.

»Ich wollte ihr so viel geben, was ich nie hatte. Ein stabiles Zuhause. Unterstützung. Ich wollte ihr Moral beibringen, Respekt für die Gesellschaft – Dinge, die man mir nie gezeigt hatte, Dinge, die ich selbst herausfinden musste. Das ist nun vorbei. Ich habe die Zukunft verloren.« Er atmete unsicher aus. »Was soll es jetzt alles noch? Warum noch eine Rate zahlen? Warum noch einmal zur Arbeit gehen, noch einmal einschlafen?«

Dray sah ihn an, sie wischte sich über die Wangen. »Ich weiß es nicht.«

So saßen sie da, bis Tims Atem sich normalisiert hatte, dann fuhren sie schweigend nach Hause.

Auf der Türschwelle wartete die Tageszeitung auf sie, noch ungelesen. Das Titelbild waren Maybeck und Denley, die sich vor Zimmer neun des Martía Domez Hotels abklatschten, während zwei Polizisten einen Leichensack auf einer Trage herausschleppten. Die beiden Deputies grinsten; Denleys Handschuh war blutverschmiert, wahrscheinlich, weil er drinnen Heidels Puls gefühlt hatte. Die Überschrift war: US MARSHALS FEIERN BLUTBAD IN DER INNENSTADT. Ohne ein Wort trug Dray die Zeitung zum Bordstein und warf sie in die Recyclingtonne.

Mitten in der Nacht erwachte Tim auf dem Sofa, weil er Drays Wimmern aus dem Bad hörte. Er ging in ihre Richtung, aber die Tür war abgeschlossen. Sie beantwortete sein leises Klopfen zwischen Schluchzern. »Ich muss ... einfach eine ... Weile allein ... sein.«

Er kehrte zum Sofa zurück und saß dort, ihr Schluchzen hörte er gedämpft durch die Wände.

Tim respektierte Drays Bedürfnis nach Freiraum und putzte sich im anderen Badezimmer, neben der Garage, die Zähne und duschte. Er betrat das Schlafzimmer nur, um sich saubere Sachen zu holen. Er stellte einen Wecker und eine Leselampe auf den Couchtisch neben dem Sofa. Marshal Tannino hatte ihn gebeten, ein paar Tage frei zu nehmen, bis alle sich beruhigt hatten, also versuchte Tim sich zu beschäftigen, er ging zum Sport, er nahm kleinere Reparaturarbeiten am Haus vor, er versuchte jeden Tag, die Zeit zu begrenzen, die er damit verbrachte, sich selbst leid zu tun oder seinem nutzlosen Hass auf Kindell nachzuhängen.

Dray und er aßen zu verschiedenen Zeiten, um sich in der Küche nicht zu begegnen, und wenn sie einander trafen, blieb ihr Blickkontakt kurz und unsicher. Dass Ginny fehlte, nahm großen Raum im Haus ein, ein stetig wachsender Schatten, der zwischen sie fiel.

Wenn Tim sich die Mühe gemacht hätte, den Fernseher einzuschalten oder Zeitung zu lesen, hätte er erfahren, dass die Heidel-Festnahme im grellsten Scheinwerferlicht gelandet war, die Höhepunkte des Verfahrens gegen Jedediah Lane – den Rechtsextremen, der für den Sarin-Nervengas-Anschlag im Lokalbüro der Volkszählungsbehörde verantwortlich gemacht wurde – vertrieb die Schießerei manchmal von der Titelseite, aber Tims Geschichte erwies sich als ausgesprochen dauerhaft. Zuerst erreichten ihn nur ein paar Reporteranrufe, dann wurden es immer mehr. Bald schon erkannte Tim allein daran, wie heftig Dray den Hörer aufknallte, dass wieder ein Journalist angerufen hatte. Tim schlug vor, eine neue Nummer zu beantragen, aber Dray war nicht im Stande, auch nur eine einzige weitere Veränderung zu ertragen, egal wie winzig klein diese auch war. Gnädigerweise warteten keine Medienvertreter vor ihrem Haus.

Tim sollte seine Aussage vor dem Shooting Review Board – einer Kommission, welche die Notwendigkeit abgegebener Schüsse überprüfte – am Tag vor Kindells Voranhörung ablegen. Er erwachte früh und duschte. Als er ins Schlafzimmer kam, saß Dray im Bett, die Hände im Schoß. Sie begrüßten einander höflich.

Tim ging zum Schrank und schaute hinein. Seine drei Anzugjacketts waren in der hinteren Mitte geschlitzt, damit man seine Pistole an der Hüfte nicht sehen konnte. Alle seine Schuhe waren Schnürschuhe; von Slippern hatte er nach einem Arbeitstag in matschigem Gelände für immer Abstand genommen.

Er zog sich schnell an, dann setzte er sich Dray gegenüber aufs Bett, um seine Schuhe zuzubinden.

»Bist du nervös?«, fragte sie.

Er machte eine Schleife und ging dann zum Pistolensafe, bevor ihm einfiel, dass er nicht mehr länger über eine Dienstwaffe verfügte. »Ja. Aber mehr wegen der Anhörung morgen.«

»Er wird da sitzen. Im selben Raum wie wir.« Sie schüttelte den Kopf, der Mund schmal vor Wut. »Er ist alles, was uns bleibt. Kindell. Kein Komplize, nichts.« Sie stand auf, als machte es sie verwundbar, sitzen zu bleiben. »Vielleicht schließen sie einen Deal mit ihm? Oder die Jury glaubt einfach nicht, dass er es war?«

»Bestimmt nicht. Der Staatsanwalt wird nichts mit ihm aushandeln, und es gibt genug Beweise, um ihn sechsmal zu verurteilen. Das geht alles klar, wir haben die besten Plätze bei seiner Hinrichtung, und dann können wir weitermachen.«

»Mit was?«

»Wir müssen den richtigen Platz für Ginny finden. Wir müssen herausbekommen, was wir loslassen müssen. Wir müssen lernen, wieder zusammen in diesem Haus zu leben.« Seine Stimme war sanft, es lag Verlangen in ihr. Er konnte sehen, wie seine Worte auf Dray wirkten, sie durchschnitten einige der Schwielen, die sich durch die Reibung der letzten Tage zwischen ihnen gebildet hatten.

»Vor zwei Wochen waren wir eine Familie«, sagte Dray. »Ich meine, wir waren einander so nahe, dass die anderen auf uns eifersüchtig waren. Die anderen, die mit den schlechten Ehen. Und jetzt, wo ich dich am meisten brauche, erkenne ich dich nicht einmal mehr.« Sie setzte sich wieder aufs Bett. »Ich erkenne nicht einmal mehr mich.«

Tim drückte die Schnalle seines leeren Holsters zu. »Ich erkenne uns auch nicht mehr wieder.«

Sie warteten noch eine Weile ab, sie schauten alles an, nur nicht einander. Tim überlegte, was er sagen wollte, aber es fiel ihm nichts ein, er war verwirrt und empfand ein intensives, ungewöhnliches Bedürfnis nach Bestätigung, das ihn noch weiter verunsicherte.

Schließlich sagte Dray: »Viel Glück vor dem Shooting Board.«

Die Scharfrichter

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