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Es hatte wieder angefangen zu regnen, was zu Tims Stimmung passte. Mit Einbruch der Dunkelheit nahmen die Schauer an Stärke zu, der Regen trommelte an die Türen und auf die Palmenblätter im Garten. Die Fenster klirrten, wenn es donnerte. Tim saß stumm auf dem Sofa und starrte den ausgeschalteten Fernseher an, auf dessen Bildschirm sich nur die Regentropfen spiegelten, die an der Glasschiebetür neben ihm herunterliefen. Dray arbeitete hinter ihm am Küchentisch an einem Fotoalbum, sie schnitt Bilder von Ginny zurecht und klebte sie mit einer Entschlossenheit ein, als hinge davon etwas Wichtiges ab. Mit dem Daumen drückte Tim auf die Fernbedienung, und das Bild erblühte. William Rayner, der pressegeilste Sozialpsychologe der University of California Los Angeles, der UCLA, erschien auf der linken Seite; er führte auf dem zweigeteilten Bildschirm ein Interview mit KCOMs Nachrichtenfrau Melissa Yueh. In der Liveübertragung saß er in einer düsteren Bibliothek und hatte die Beine übereinander geschlagen. Sein silberfarbenes Haar und der gepflegte weiße Schnäuzer sorgten für eine zwar antiquierte, aber ausgesprochen ordentliche Erscheinung. Auf den Buchregalen hinter ihm standen Exemplare seines neuesten Sachbuch-Bestsellers, When the Law Fails. Rayner war ein großartiger Performer und hatte genauso viele Feinde wie Bewunderer, er war ein Sozialkritiker des »Männer sind vom Mars«-Typs, ähnlich wie Dominick Dunne und Gerry Spence. »... entsetzliches Gefühl der Impotenz, wenn jemand wie Roger Kindell der Gerechtigkeit entkommt. Wie Sie wissen, berühren mich solche Fälle sehr persönlich. Als mein Sohn ermordet und sein Mörder freigelassen wurde, litt ich unter einer schrecklichen Depression.«

Yueh schaute mit einem Ausdruck sahnedicken Mitleids in die Kamera.

»Daher habe ich mein Interesse diesem Bereich zugewandt«, fuhr Rayner fort. »Ich habe zahllose Gespräche geführt, zahllose Studien geleitet. Ich habe angefangen, mit anderen Menschen darüber zu sprechen, wie sie derartige Gesetzeslücken empfinden und inwieweit diese Gerechtigkeit und Fairness unterminieren. Leider gibt es keine einfache Lösung. Aber ich bin mir sicher: Wenn die Gesetze versagen, gefährdet das unsere gesamte Gesellschaft. Wenn wir nicht glauben können, dass die Polizei und die Gerichte für Gerechtigkeit sorgen, welche Alternative bleibt uns dann?«

Tim drückte noch einmal auf die Fernbedienung, und der Fernseher ging wieder aus. Er saß ein paar Minuten still da, dann drückte er erneut auf den Knopf. Yueh hatte sich nun Delaney zugewandt, die ungewöhnlich nervös wirkte. Tim drückte wieder auf den Knopf und beobachtete die Regentropfenschatten auf dem leeren Bildschirm.

»Wieso hat Delaney nicht herausbekommen, dass der Kerl taub war?«, fragte Dray. »Ich meine, er war taub. Es ist nicht so, als hätte sie seine Augenfarbe übersehen.«

»Sie hat seine alte Akte gehabt. Da war er noch nicht taub.«

Ein wütender Schnitt mit der Schere, ein Streifen Papier flatterte zu Boden. »Er ist viermal verhaftet worden, kennt er da wirklich seine Rechte nicht? Er kennt seine Rechte ganz genau. Und warum hat Fowler nicht auf einen Durchsuchungsbefehl gewartet? Aber was rede ich da? Natürlich hat er nicht auf einen Durchsuchungsbefehl gewartet. Natürlich hat er nicht ordnungsgemäß die Rechte vorgetragen oder auf Kindells mündliche Zustimmung gewartet. Er hat nie geglaubt, dass Kindell überhaupt vor Gericht kommen würde. Der Fall ist nicht abgewiesen worden, weil Kindell taub ist – er ist abgewiesen worden, weil das Letzte, was irgendwer von euch am Tatort im Kopf hatte, war, die Verhaftung ordentlich vorzunehmen, es alles langsam und richtig laufen zu lassen.« Sie knallte die Schere auf den Tisch. »Diese verfluchte Richterin. Sie hätte irgendwas machen müssen. Sie musste doch nicht den Fall gleich abweisen.«

Tim schaute sie noch immer nicht an. »Na klar. Denn die Gesetze gelten nicht für jeden.«

»Sei nicht so arrogant und gefühllos, Timmy.«

»Nenn mich nicht Timmy.« Er legte die Fernbedienung auf den Couchtisch. »Komm schon, Dray – das bringt doch nichts.«

»Es bringt nichts?« Sie lachte, aber es klang wie ein Bellen. »Ich darf doch wohl ein oder zwei Tage unproduktiv sein, findest du nicht?«

»Aber mir ist nicht danach, von dir zusammengeschissen zu werden.«

»Dann hau doch ab.«

Er war froh, dass er immer noch abgewandt saß, so dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Er brauchte einen Augenblick, um sich zusammenzureißen. »Das ist nicht das, was ich ...«

»Wenn du schon in jener Nacht zu Kindell gefahren bist, dann hättest du ihn auch erschießen sollen. Du hättest ihn umbringen sollen, als du die Gelegenheit hattest.«

»Ja, wenn ich Kindell bloß das Licht ausgeblasen hätte, dann wäre unsere Trauerarbeit erledigt.«

Drays Gesicht zog sich zusammen. »Zumindest wäre es eine Art Abschluss.«

»›Abschlüsse‹ sind Unsinn, den Talkshow-Moderatoren und Ratgeberautoren erfunden haben. Außerdem, Dray, du hast eine eigene Waffe. Wenn du über meine Entscheidung so unglücklich bist, wieso gehst du ihn nicht erschießen?«

»Weil ich das jetzt nicht kann. Es gibt keine Gelegenheit. Außerdem wäre ich die Hauptverdächtige. Aber Fowler hat dir alles auf dem Silbertablett serviert. Seine Waffe, am Tatort. Man schmuggelt die Waffe ein, behauptet, es hätte einen Kampf gegeben, das war’s. Dann würden uns keine Phantomkomplizen plagen, dann wäre Kindell nicht frei für den Rest unseres Lebens.« Sie knallte das Fotoalbum zu. »Das ist Gerechtigkeit.«

Tims Stimme war ruhig und gemessen, doch es lag eine stechende Grausamkeit darin. »Wenn du Ginny an ihrem Geburtstag von der Schule abgeholt hättest, dann müsstest du jetzt auch nicht immer allen anderen die Schuld geben.«

Er sah sie nicht kommen, bis ihre Faust ihn von rechts traf. Der Schlag ließ ihn vom Sofa stürzen, dann war Dray über ihm, sie prügelte auf ihn ein. Er trat sie beiseite und rollte sich auf die Füße, aber sie stemmte sich vom Sofa hoch und ging wieder auf ihn los. Sie führte mit rechts, aber er packte ihr Handgelenk mit links, hielt ihren Ellenbogen mit seiner rechten Hand. Ihr eigener Schwung ließ sie gegen das Bücherregal prallen. Bücher und Bilderrahmen regneten auf sie herunter. Irgendetwas zerbrach.

Dray rappelte sich schnell auf und ging erneut auf ihn los. Sie kämpfte wie eine exzellent ausgebildete Polizistin, was an sich logisch war, obwohl ihm diese spezielle Fähigkeit bei ihr noch nie klar geworden war. Er umschlang sie mit beiden Armen, blockierte ihre Handgelenke durch den Druck seines Körpers, um ihr nicht wirklich Schaden zuzufügen; er klemmte ihre Arme zwischen ihnen beiden ein. Sie taumelten zurück, sie stieß ihn an die Wand. Er spürte, wie sein Schulterblatt durch die Leichtbauwand brach, hielt sie aber weiter fest. Er schob sie zurück, hakte seinen Fuß hinter ihren Knöchel und ließ sie beide hart auf den Teppich stürzen. Sie wehrte sich und schrie, während er auf ihr lag. Er hatte die Hüfte gedreht, um seine Genitalien zu schützen, den Kopf gesenkt und an ihren gedrückt, damit sie ihn nicht beißen oder ihm die Stirn gegen den Kopf schlagen konnte. Er war ein eiskalter Kämpfer, nur Logik und Strategie, gegen den sie in ihrer blinden Wut keine Chance hatte.

Dray zappelte und fluchte, aber er hielt seinen Kopf gesenkt und wiederholte ihren vollen Namen wie ein Mantra, er drängte sie sanft, sich zu beruhigen, tief durchzuatmen, damit er sie loslassen könnte. Ihr Gesicht war heiß und klebrig vom Schweiß und den wütenden Tränen.

Der Sturm war abgeklungen, es regnete nun gleichmäßig. Nur Tims Murmeln, unterbrochen durch Drays Flüche, unterbrach das sanfte Regenmuster auf dem Dach. Fünf Minuten vergingen oder vielleicht auch zwanzig. Schließlich, als er überzeugt war, dass ihre Wut sich entladen hatte, ließ er sie los. Sie erhob sich. Vorsichtig berührte er die Haut neben seinem Auge. Sie war geschwollen von dem heftigen Schlag, den sie ihm verabreicht hatte. Keuchend starrten sie einander über Glasscherben und heruntergefallene Bücher an.

Es klingelte an der Tür. Einmal, zweimal.

»Ich gehe«, sagte Tim. Er behielt Dray im Auge, ging vorsichtig rückwärts zur Tür und öffnete sie.

Mac und Fowler standen mit verschränkten Armen auf der Schwelle. Mac trug Fowlers kleinen Deputy-Hut auf dem Kopf wie einen Propellerhut, und Fowler trug Macs, so dass ihm die Krempe über die Augen hing. Ein alter Trick, wenn man zu häuslichen Streitigkeiten gerufen wurde – bringt die Leute zum Lachen.

Fowler schob den Hut in den Nacken und stellte fest, dass niemand sich amüsierte. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich, als er die Schäden im Haus entdeckte. »Wir, äh – die Hartleys nebenan haben sich beschwert. Streitet ihr?«

»Ja«, sagte Dray. Sie wischte sich Blut unter der Nase weg. »Und ich war gerade dabei zu gewinnen.«

»Es ist jetzt alles unter Kontrolle«, erklärte Tim. »Danke, dass ihr vorbeigekommen seid.« Er wollte die Tür zumachen, aber Fowler stellte einen Fuß vor.

Mac schaute an ihm vorbei nach Dray. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

Sie vollführte eine schwache Geste mit dem Arm. »Bestens.«

»Ich meine es ernst, Dray. Alles in Ordnung?«

»Ja.«

»Keiner von uns will ein Formular ausfüllen«, meinte Fowler.

»Können wir euch beide hier allein lassen, ohne dass ihr weitermacht?«

»Ja«, antwortete Dray. »Absolut.«

»Na gut.« Fowler sah erst Dray an, dann Tim. »Ich weiß, dass ihr wirklich viel Scheiß mitmachen müsst jetzt, aber lasst uns nicht noch einmal herkommen.«

Mac schaute nun Tim an, sein Ausdruck wandelte sich von Besorgnis in Wut. Es sah nicht gut aus, so viel war auch Tim klar, aber dennoch störte ihn der stumme Vorwurf in Macs Blick.

»Wir meinen es ernst, Rack«, sagte Mac. »Wenn wir auch nur ein Quieken aus dem Haus hören, dann buchte ich dich höchstpersönlich ein.«

Sie schlappten zurück zum Wagen, duckten sich im Regen. Tim schloss die Tür.

»Es ist nicht meine Schuld, dass ich sie nicht abgeholt habe.« Drays Stimme brach. »Mach mir das verflucht noch mal nicht zum Vorwurf. Ich konnte das nicht wissen.«

»Du hast recht«, gab Tim zu. »Es tut mir leid.«

Sie wischte sich noch einmal die Nase, sie schmierte einen dunklen Streifen auf ihren Sweatshirtärmel, dann ging sie an ihm vorbei zur Haustür hinaus. Sie stand im Regen und wandte sich zu ihm um. Ihr Haar klebte an ihren Wangen, ihr Kinn war blutverkrustet, ihre Augen schimmerten im schönsten Grün, das er je gesehen hatte. »Ich liebe dich noch immer, Timothy.«

Sie knallte die Tür so heftig zu, dass auf Tims Seite ein Bild von der Wand fiel. Der Rahmen zerbrach auf den harten Fliesen des Eingangsbereichs.

Er ging durch das verwüstete Wohnzimmer, griff sich einen Stuhl vom Küchentisch und drehte ihn herum, so dass er den Regen sah, der gegen die Schiebetür klatschte. Er beugte sich vor, bis seine Stirn das kühle Glas erreichte. Der Sturm hatte wieder zugenommen. Abgerissene Palmwedel lagen im Garten. Ginnys Fahrrad war umgefallen und lag auf dem Rasen, eines der Stützräder drehte sich langsam im Wind. Die Dunkelheit schien über eine merkwürdige Zähigkeit zu verfügen, sie legte sich wie ein Tuch um das Haus, aber Tim begriff, dass diese Vorstellung nur ein Produkt seines Bedürfnisses nach düsteren, billigen Metaphern war.

Das Rad drehte sich immer weiter, sein rostiges Quietschen war über den Regen hinweg zu hören. Das Geräusch ließ alle Enttäuschungen und das gesamte Entsetzen der letzten zwei Wochen wieder hochkommen. Es war, als wäre ein neues Licht auf Tims Leben gefallen, das die Ordnung darin als genau das enthüllte, was sie war: ein Gerüst, dass dem Chaos bloß eine künstliche Form verlieh. Er hatte keine Tochter mehr, die ihm eine Zukunft versprach, keine Aufgabe, die ihm Halt gab, keine Frau, die seine Menschlichkeit bestätigte. Die krasse Ungerechtigkeit seiner Verluste wurde ihm bewusst. Er hatte alles getan, um seinen Vertrag mit der Welt einzuhalten, und doch war ihm dies zugestoßen.

Er senkte sein Gesicht in die Hände, roch die Feuchtigkeit der Luft. Der Stuhl quietschte, als er ihn zurückschob. Er atmete tief durch, es fiel ihm schwer, er stand kurz davor zu schluchzen.

Es klingelte an der Tür.

Tim fühlte sich unendlich erleichtert. »Andrea«, rief er. Er eilte durchs Wohnzimmer, rutschte beinahe auf einem Buch aus.

Er riss die Eingangstür auf. Die Schattenform eines Mannes stand am Ende der Veranda, der Regen ging auf seinen Mantel hernieder. Ein dunkelgrüner Südwester schmiegte sich an sein Gesicht, hüllte es in Düsternis. Er stand ein wenig gebeugt, fast unmerklich, eine Andeutung von Alter oder dem Aufkommen einer Krankheit. Ein Lichtblitz erhellte ihn, die Helligkeit eines entfernten Blitzes, aber zu erahnen waren nur ein Mund und ein Kinn. Der Donner hallte durch die Luft, ließ Tims Körper erzittern.

»Wer sind Sie?«

Der Mann schaute auf, das Wasser ergoss sich in kleinen Bächen über die gebogene Krempe seines Vinylhutes. »Die Antwort«, sagte er.

Die Scharfrichter

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