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Hesiod: Im Anfang war kein Gott

 Hesiod (* vor 700 v. Chr.) ist neben dem älteren Homer die Hauptquelle der griechischen Mythologie.

Wie fühlte sich das Leben an, als der Himmel noch ein entmachteter Tyrann war, die Erde seine rebellische Gattin und die Unterwelt ein Ort voll grässlicher Ungeheuer?

Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Kultur ohne Fernrohre und Raumfähren. Vom Urknall hätten wir noch nie etwas gehört. Noch hätte die moderne Physik nicht unseren Planeten zu einem Staubkörnchen erklärt, verloren in einem viel zu großen All, das dem Leben nahezu überall feind ist. Stattdessen wäre unser Zutrauen in unsere eigenen Sinne ungebrochen: Aus dem, was wir um uns sehen und hören, würden wir unverdrossen schließen, wie es sich mit der Welt überhaupt verhält. Und was unsere Sinne nicht liefern, würden wir aus unserer Fantasie ergänzen. Wie würden wir wohl die Welt erleben, und wie uns selbst in dieser Welt?

Wer sich das vorstellen möchte, dem – oder der – sei die Lektüre Hesiods empfohlen, eines dichtenden Bauern im Griechenland des achten vorchristlichen Jahrhunderts.

Hesiod fühlte sich voller Leben, und überall um sich fand er Leben vor. Warum also sollte die Erde für ihn nicht das Zentrum eines Universums voller Leben sein?

Wenn Hesiod an einem schönen Sommerabend den aufsteigenden Mond auf sich wirken ließ, dann erblickte er keinen leblosen Gesteinsklumpen: Was dort am Himmel so herrlich strahlte, war eine Göttin. Wieso auch hätte Hesiod Sonne, Mond und Sterne für tot halten sollen? Sie sprachen nicht weniger lebhaft zu seinen Sinnen als Pflanzen, Tiere und Menschen.

Die Sonne gar war nicht nur lebendig, sie spendete großzügig Leben. Ihren allgegenwärtigen Strahlen entging nichts. Aus Respekt vor der erhabenen Gottheit begab sich Hesiod beim Verrichten der Notdurft ehrerbietig in den Schatten einer Mauer oder – mit umhüllendem Gewand – in die Hocke.

Im Anfang war das Chaos

Leben, das wusste der Bauer Hesiod, wird gezeugt und zeugt sich fort. Das galt natürlich auch für das göttliche Leben, von dem er sich umgeben glaubte. Sonne, Mond und Morgenröte waren Geschwister. Sie waren ebenso irgendwann geworden wie andere Gottheiten, etwa die Meeresstille, der Sieg, das Gedächtnis und die Nacht.

Doch wie hatte alles begonnen? Im Anfang war kein Leben: Hesiods „Schöpfungsgeschichte“ beginnt nicht mit einem Gott, der Himmel und Erde schuf, sondern mit dem Chaos (T 116). Dabei dachte Hesiod aber nicht an ein chaotisches Urgerümpel, sondern an den leeren Raum vor allen Dingen und Göttern. Auch dieser Raum ist entstanden, doch was davor war, sagt Hesiod nicht.

In dem leeren Raum entstand zuerst die Erde. Natürlich ist Hesiods Erde keine Kugel. Aber ist sie eine Scheibe? Das wäre kein schmeichelhafter Ausdruck für eine weit sich hinbreitende Göttin mit üppigen Brüsten.

Mangels Partner erzeugte die Erde eingeschlechtlich ihren späteren Gatten, den Himmel. Für Hesiod war also zuerst die Henne da, dann der Gockel. Allerdings nur, wenn man von dem Liebesgott Eros absieht, der möglicherweise zeitgleich mit der Erde entstanden ist.

Nacht für Nacht senkte sich nun der Himmel liebend auf die empfangende Erde. Lehrt das nicht schon die Anschauung? Schließen denn nicht Erde und Himmel am Horizont nahtlos aneinander an? In der Nacht gar sind sie überhaupt nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Und kommt der Regen, der die Erde befruchtet, nicht vom Himmel?

Aus der inzestuösen Verbindung von Erde und Himmel entstanden Kinder, an denen der Vater keine Freude hatte: die schrecklichen Titanen. Hundertarmige Riesen waren darunter, und grässlich anzusehende einäugige Monster. Angewidert sperrte der Vater diese Brut weg in der Erde – in ihrer eigenen Mutter also. Das konnte nicht lange gut gehen. Und tatsächlich reizte die Erde ihren Jüngsten, Kronos, zur Rebellion. Mit einer Sichel mähte er das väterliche Geschlecht und schleuderte es in hohem Bogen ins Meer, bei welcher Gelegenheit Giganten, Rachegöttinnen, Baumgeister und die Liebesgöttin Aphrodite entstanden.

Nun trat Kronos die Weltherrschaft an, freilich nur, um die Fehler seines Vaters zu wiederholen. Auch er ging nicht pfleglich um mit den Kinder aus seiner – ebenfalls inzestuösen – Ehe: Er verschlang sie. Und wieder rebellierte die Mutter, in diesem Fall die Kronos-Schwester Rhea. Es gelang ihr, Kronos zu überlisten und seinen Jüngsten – Zeus – vor dem Vater zu verstecken.

Zeus überwältigte schließlich seinen Vater und zwang ihn, die Geschwister zu erbrechen. Unter ihnen befand sich auch Hera. Mit ihr würde Zeus eines fernen Tages – in siebter Ehe – die Familientradition inzestuöser Verbindungen fortsetzen.

Der Weltenherrscher Zeus war also – anders als der Gott der Bibel – nicht immer schon die Nummer 1 gewesen: Zur Macht gekommen ist er erst in der dritten Generation.

Und Zeus war nicht unumstritten: Um seine Position zu sichern, musste er die rebellischen Götter der zweiten Generation, die Titanen, besiegen. Die überwundenen Aufrührer landeten in der Unterwelt. Danach nahm Zeus es mit seinem letzten Widersacher auf: dem grässlichen Typhoeus, den Oma Erde von dem finsteren Höllenfürsten Tartaros empfangen hatte. Als das Monster sich anschickte, die Zwingherrschaft über Götter und Menschen zu erringen, stellte sich ihm Zeus in einem gewaltigen Zweikampf, der das ganze Weltgefüge in Aufruhr brachte. Mit seinen Blitzen verbrannte Zeus die 100 Drachenköpfe des Typhoeus und warf ihn in die Unterwelt.

Das Weltbild vor der modernen Physik hatte also durchaus seine beängstigenden Seiten: Hesiod glaubte unter sich ein riesiges Gefängnis voller brandgefährlicher Ungeheuer, die die Weltordnung stürzen wollten. Da sie unsterblich waren, war auch ihre Verdammnis ewig – es sei denn, sie würden sich eines Tages befreien. Eine unheimliche Vorstellung. Es mag Hesiod beruhigt haben, dass die Finsterlinge von der Erde weit entfernt waren: Ein Amboss brauchte im freien Fall neun Tage, bis er dort ankam. Aber würde Hesiod den entmachteten Titanen nach seinem Ableben bei der Fahrt in die Unterwelt nicht gefährlich nahe kommen?

Zeus duldet andere Götter – aber nicht auf gleicher Augenhöhe

Hatte Hesiod Gottvertrauen? Seine Weltordnung war eine gewordene, mit einem Gott an der Spitze, der sich nicht ständig um alles kümmern konnte. Schließlich wollte er sich auch mal bei einem prächtigen Gelage gütlich tun oder mit einer Schönen zurückziehen. Aber wie der Gott des Alten Testaments, so duldete auch Zeus keine Götter neben sich: Niemand durfte es wagen, an seinem absoluten Herrschaftsanspruch zu rütteln.

Die Macht des Zeus war so weitreichend, dass sie sogar bereits vor seiner Geburt wirksam war: Das kosmische Geschehen lief auf seine Herrschaft zu und fand in ihr sein Ziel. Die rohe Gewalt hatte in dieser Ordnung nur so lange eine Existenzberechtigung, wie sie dem Recht diente. Und was die Macht des Schicksals angeht: Sogar die Schicksalsgöttinnen, die den Menschen Gutes und Schlimmes zuteilen, stammen bei Hesiod von Zeus ab und sind ihm deshalb untertan – eine in der griechischen Antike keineswegs selbstverständliche Vorstellung.

Der herrschende Olympier besaß also bei Hesiod eine geradezu monotheistische Machtfülle (Veyne 52). Das erinnert doch sehr an die Bibel – und es ist nicht die einzige Parallele: Auch bei Hesiod durchlebt die Menschheit zunächst eine paradiesische Urzeit. Dass diese zu Ende geht, hat auch bei ihm mit Ungehorsam gegen die göttliche Ordnung zu tun, und auch bei ihm spielt eine Urfrau in diesem Zusammenhang eine verhängnisvolle Rolle (WuT 60ff).

Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ der Bibel wäre Hesiod nicht genug: Er rät, erlittenes Unrecht doppelt heimzuzahlen (WuT 710). Doch biblisch klingt es wieder, wenn Hesiod das bevorstehende Ende des gegenwärtigen Menschengeschlechts beschreibt. Unwillkürlich denkt man dabei an die – viel späteren – apokalyptischen Visionen des Neuen Testaments. An die Goldene Regel der Bergpredigt erinnert Hesiods Mahnung: „Schlimmes bereitet sich selbst, wer anderen Schlimmes bereitet“ (WuT 264). Und wenn Zeus den Niedrigen erhöht und den Erhabenen schrumpfen lässt (WuT 5f), drängt sich der Vergleich mit dem Magnifikat auf, dem Loblied Marias.

Hesiods Vorsicht beim Verrichten der Notdurft ist nicht sein einziger Versuch, verschiedene Sphären der Reinheit auseinanderzuhalten. So rät er, den Göttern nicht mit ungewaschenen Händen zu opfern. Wer von einem Grab heimkehrt, soll den Beischlaf meiden, bis er ein Mahl für die Götter gehalten hat. So bleibt der Abstand zwischen den Sphären der Fortpflanzung und des Todes gewahrt (WuT 734f).

Tiefes Naturempfinden und frommer Respekt vor den Flussgöttern sprechen aus diesen Versen: „Setze nie den Fuß in das klare Nass stets strömender Flüsse, bevor du mit Blick auf die herrlichen Fluten gebetet und dir die Hände gewaschen hast im lieblichen Wasser“ (WuT 737ff).

Wer zweifelt, kränkt die Musen

Wie also kam Hesiod dazu, zu glauben was er glaubte? Wer sich an die eigene Kindheit erinnert, in der es noch ein Heiliger war, der an Nikolausi den Stiefel vor der Haustür füllte, ist wohl auf der richtigen Spur. Hesiod war wie ein Kind, das am Weihnachtsmann nicht zweifeln lernt, weil auch die Erwachsenen an ihn glauben. Hinzu gekommen sein dürfte in seinem Fall ein gewisser Hang zum Martialischen, wie er sich heute in finsteren Computerspielen austobt.

Aber hat es Hesiod nicht stutzig gemacht, dass ihm die Göttergeschichten, die er aufgriff, in widersprüchlichen Versionen vorlagen? Und muss er sich nicht als Lügner gefühlt haben, wenn er seinerseits die bekannten Geschichten veränderte?

Eine mögliche Antwort sind die Göttinnen, als deren Sprachrohr sich Hesiod verstand: Wenn sich dem Dichter eine Geschichte aufdrängte, dann war nicht etwa seine Fantasie tätig – dann sprachen die Musen zu ihm. Und die konnten auch lügen: „Wir können euch die reine Wahrheit verkünden“, lässt Hesiod sie sprechen, „wir können euch aber auch Erdichtetes auftischen und als Wahrheit ausgeben“ (T 26ff).

Doch ob sie nun täuschten oder die Wahrheit sagten – weitergeben musste Hesiod die Eingebungen der Musen so oder so. Sonst hätte er sich Ärger mit diesen mächtigen Töchtern des Zeus eingehandelt.

So konnte Hesiod nur hoffen, dass die Musen ihn nicht gar zu sehr hinters Licht führten. Dabei scheint er recht zuversichtlich gewesen zu sein. Offensichtlich hat er sich im Umgang mit den Musen an seine eigene Maxime gehalten: Nicht nur Vertrauensseligkeit kann einen Menschen zugrunde richten, warnt Hesiod, sondern auch übertriebenes Misstrauen (WuT 371).

Zum Schmökern

Was von Hesiod überliefert ist, lässt sich in zwei bis drei Stunden lesen. Die darin vorkommenden Götter und ihre Verwandtschaftsverhältnisse sich einzuprägen – das dauert freilich etwas länger. Vollständig erhalten sind:

 Hesiod: Theogonie Gut tausend Verse über die Entstehung von Gott und Welt.

 Hesiod: Werke und TageLandleben im alten Griechenland. Die „älteste zusammenhängende Überlieferung griechischer Religiosität“ (Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte 2,3,2).

Das Wort hat Hesiod

 „Zwei Arten von Streit wirken in der Welt; die eine ist zu loben, die andere nicht. Gut ist der Wettstreit: Er treibt selbst die Faulen, ihre Nachbarn zu übertreffen. So grollt der Töpfer dem Töpfer, der Zimmerer dem Zimmerer. Doch schlecht ist der Streit, der den Sinn von der Arbeit abwendet zu Zänkereien“ (vgl. WuT 12ff).

 „Tiere fressen einander auf, denn bei ihnen herrscht kein Recht. Aber dem Mensch gab Zeus das Recht, das höchste Gut von allen“ (WuT 275).

 „Schlimmes bereitet sich selbst, wer anderen Schlimmes bereitet“ (WuT 264).

Von Homer zu Jesus

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