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Rauben, lügen, morden: Tugenden der Aristokratie

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Homers festlich tafelnde Zuhörer werden diese Erzählung genossen haben, ohne sich lange mit der Frage aufzuhalten, ob denn das alles nicht erlogen sei. Ohnehin pflegten sie zur Lüge ein Verhältnis vornehmer Diskretion. Anders wären die aristokratischen Tugenden, die sie hochhielten, gar nicht lebbar gewesen. Wie sollte etwa ein Hausherr die Tugend der Gastfreundschaft in Ehren halten, wenn er nicht zuvor die Ressourcen ergaunerte, mit denen er seine Gäste verwöhnte? Es verriet das Herz eines mittellosen Knechts, wenn man wie Eteoneus beim Anblick fremder Männer fragte: „Sollen wir sie weiter schicken, damit sie ein anderer bewirtet?“ Dagegen hatte Eteoneus’ Herr, der König Menelaos, genügend Reichtümer an sich gerafft, um diese Frage entrüstet zurückzuweisen: „Wir haben ja beide in Häusern anderer Menschen viel Gutes genossen“, beschämte der Zerstörer Trojas seinen Knecht (Od 4,33f).

Auf die Lüge angewiesen war auch, wer die hoch angesehene Tugend der Rache üben wollte. Denn er musste wie Odysseus seine Opfer gelegentlich täuschen, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen. Bei der Ausführung war dann die Krone aller Tugenden gefordert: die Tapferkeit. Um sie zu üben, brauchte man zwar nicht zu lügen, aber eben auch nicht ehrlich zu sein.

Waren Homers Zuhörer fromm? Ja, wenn man ihnen zugesteht, dass sie unter Frömmigkeit etwas anderes verstanden als ein braver Heilsarmist. Ihnen hatte kein Gott offenbart, dass gelten solle: „Eure Rede sei ja ja, nein nein“ (Mt 5,37). Sie verehrten Götter, die täuschten, betrogen und verführten und die ihnen die Lüge ausdrücklich erlaubten. Und sie verehrten diese Götter nicht, weil sie gut, sondern weil sie mächtig waren.

Wir können heute kaum noch nachfühlen, wie sehr sich die Menschen zu Homers Zeiten göttlichen Mächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlten. Bei kaum einer Situation beschreibt Homer dieses Lebensgefühl so anschaulich wie bei der Fahrt auf hoher See (Od 5,278ff). Jederzeit konnte ein ungnädiger Gott die friedliche See in eine mörderische Hölle aus feindseligen Stürmen und turmhohen Wellen verwandeln. Wer sich auf hohe See begab, hatte also allen Grund, sich mit dem Meergott Poseidon gut stellen.

Zwar konnte man in Homers Welt die Frömmigkeit auch übertreiben: Bei der Heimfahrt der Griechen nach der Zerstörung Trojas erwiesen sich diejenigen als erfolgreicher, die sich sofort auf den Weg machten, ohne sich lange mit umständlichen Gebeten und Opfern aufzuhalten (Od 3,141–146). Doch in der Regel war man besser beraten, den Göttern großzügig zu opfern: „Den Unsterblichen gebührend zu opfern, lohnt sich!“, sagte König Priamos, als er die Leiche seines Sohnes Hektor bei Achill abholte. Trotz übelster Schändungen war Hektors Körper für eine würdige Bestattung unversehrt bewahrt geblieben. Sein Vater führte dies darauf zurück, dass Hektor nie die Opfer für die Himmlischen versäumt hatte: „Nun denken die Götter sogar im Tod noch an ihn“ (Od 24,428).

Wer sich den Göttern ausgeliefert fühlt, macht ihnen keine Vorschriften, wie sie es mit der Wahrheit halten sollen. Sicherlich, die Götter machen sich gelegentlich ein Vergnügen daraus, uns Menschen trügerische Zeichen zu schicken. Aber sie schicken auch Zeichen, die zutreffen und auf die wir dringend angewiesen sind. Wir haben also keine Wahl: Wir müssen versuchen, die einen Zeichen von den anderen zu unterscheiden.

Hektor hat dafür ein einfaches Rezept: Er rätselt nicht über die Vorzeichen der Vögel, „ob sie rechts hinfliegen oder links“. Aber er vertraut sehr wohl dem „Ratschluss des erhabenen Zeus“, der das einzige Wahrzeichen gesetzt hat, das gilt: „Das Vaterland zu retten!“ (Il 12,243).

Das klingt gut, und tatsächlich kommt Hektor damit auch ziemlich weit. Doch am Ende erreicht er das genaue Gegenteil: Tragischerweise ist es ausgerechnet Hektor, der mit dem Sieg über Patroklos die Rache Achills entfesselt, die seiner Heimatstadt die Wende zum Verhängnis bringt.

Auch wer auf die Götter vertraut, kann also fehlgehen. Homers Götter lassen sich eben das Vergnügen nicht nehmen, ihre Helden immer wieder auf das Glatteis der Täuschung zu schicken.

Von Homer zu Jesus

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