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Von Homer zu Jesus

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Inhaltlich unveränderte Neuauflage von „Der Weise und sein Schatten. Sinnstifter der klassischen und biblischen Antike“ (Berlin 2014)

Worauf kommt es an im Leben? Darüber waren sich die Menschen bereits in der griechischen, römischen und biblischen Antike nicht einig. Lässt sich auf das Leben ein Reim machen, und wenn ja, wie? Das haben damals Dichter, Philosophen, Spötter und Propheten in alle Richtungen ausgelotet. Wenn wir heute über den Sinn unseres Lebens nachdenken, dann denken wir wahrscheinlich etwas, das sie damals auch schon gedacht haben.

So, haben sie das? Wie kann das sein, wo sie doch in einer völlig anderen Welt lebten als wir? Selbst die genialsten Köpfe wussten damals noch nicht einmal, was ein gedrucktes Buch ist. Was sollen die uns lehren – uns, die wir jederzeit und überall auf eine unendliche Vielfalt an Medien zugreifen können?

Nun, so vielgestaltig die Möglichkeiten auch geworden sind, die wir früheren Generationen voraus haben – alles kreist doch weiter um die ewig gleichen Themen: Liebe, Hass, Angst, Geburt, Krankheit, Schmerz, Lust, Treue, Verrat, Lüge, Macht, Gerechtigkeit, Geld, Konkurrenz, Fürsorge, Gefahr, Freundschaft, Feindschaft, Tod. Zwar haben wir heute die überlegenen Mittel, um all das so wirkungsvoll wie möglich in Szene zu setzen. Aber unser Vorsprung bröckelt, sobald wir fragen: Wozu das alles? Dann zählt eine Stärke, die unter multimedialem Dauerfeuer nicht wächst, sondern verkümmert: Nachdenklichkeit.

Nachdenklichkeit? Können wir denn heute das Nachdenken nicht den Wissenschaftlern überlassen? Die sollen uns sagen, was der Sinn des Lebens ist. Doch die winken ab: „Nicht unser Thema.“ Kampflos überlassen sie das Feld denen, die sich trauen, unwissenschaftlich zu sein: Dichtern, Philosophen vom alten Schlag – und Geistlichen: Nach wie vor suchen die meisten Menschen auf dieser Erde den Sinn ihres Lebens in der Religion.

Dann ist die Frage nach dem Sinn also eine religiöse Frage?

Bereits in der Antike sahen das nicht alle so. Natürlich dominierte damals ein religiöses Weltbild. Aber es entstanden auch beeindruckende Alternativen.

Ernsthafte Konkurrenz erhielt die religiöse Sinnstiftung im fünften Jahrhundert vor Christus. Damals ereignete sich in Griechenland der geistesgeschichtliche Umsturz, der eine Wahl zwischen religiösen und anderen Sinnentwürfen überhaupt erst ermöglichte. In Athen entstand eine erstaunlich freie Diskussionskultur, die den religiös Konservativen arg zusetzte. Die Atomisten verbreiteten, alles bestehe aus Atomen, die keinen Göttern, sondern Naturgesetzen folgen. Agnostiker reisten durch die Lande und predigten ein selbstbestimmtes Leben frei von religiösen Zwängen. Alexander der Große und später die Römer ermöglichten die Verbreitung solcher Ideen in der gesamten damaligen Welt.

Diese frühen Aufklärer fanden durchaus Anklang. So erreichte Epikurs rein diesseitige Lebenskunst im Römischen Reich des ersten nachchristlichen Jahrhunderts einigen Einfluss. Aber wer eroberte am Ende die Köpfe und Herzen? Kein Genie der griechisch-römischen Aufklärung. Sondern ein frommer Handwerkersohn aus einem Dorf in der jüdischen Provinz: Jesus von Nazaret. Der stellte schließlich die größten Philosophen in den Schatten und wurde zum Stifter der Weltanschauung, zu der sich heute ein Drittel der Menschheit bekennt.

Aus Sicht der Religionskritiker ist dieser Befund vernichtend – und das umso mehr, als die meisten frühen Christen sich mit der griechisch-römischen Aufklärung kaum auseinandersetzen mussten. Dafür war sie dann doch nicht einflussreich genug. Wem die Zukunft gehören würde – das machten die Frommen der römischen, jüdischen und christlichen Religion unter sich aus.

Nein, die antiken Religionskritiker haben es nicht geschafft, die Religionen zu überwinden. Aber sie haben sie verändert. Der Philosoph Seneca, ein Zeitgenosse Jesu, fromm, aber mit skeptischen Positionen wohlvertraut, forderte, dass der Mensch dem Menschen heilig sein müsse. Da hatte acht Jahrhunderte zuvor ein Homer noch andere Vorstellungen.

Die Religionskritiker haben sich also nicht durchgesetzt. Das heißt aber nicht, dass sie unrecht hatten. Wie steht es damit? Ist die Religion eine zwar erfolgreiche, aber dennoch wahnhafte Massensuggestion, die klare Köpfe hinter sich lassen?

In diesem Buch gehe ich davon aus, dass sich die Religion ebenso wenig erledigt hat wie die Kritik an ihr. Der Riss, der Gläubige und Atheisten voneinander trennt, geht durch jede und jeden von uns: Wohl jeden Gläubigen ficht irgendwann der Zweifel an. Und wohl jede Atheistin ertappt sich früher oder später bei abergläubischen Vorstellungen, die nicht zu ihrem rationalen Weltbild passen.

Erst in der Zusammenschau religiöser und religionskritischer Haltungen treten die menschlichen Möglichkeiten in ihrer Vielfalt zutage. Warum sollten wir diese Möglichkeiten nicht kennenlernen? Was davon wir annehmen und was wir verwerfen, bleibt unsere eigene Angelegenheit. Wir entscheiden, worauf wir unser Leben setzen – genauer: worauf wir setzen, was uns von unserem angebrochenen Leben bleibt.

Egal wie unsere persönliche Antwort auf die Gretchenfrage nach der Religion lautet: Stellen wir unser Urteil über „die anderen“ ein wenig zurück. Entspannen wir uns, gewinnen wir Abstand – auch zeitlich. Die Antike bietet uns diese Chance.

Lassen wir uns anregen von den alten Dichtern und Denkern. Was von ihnen zu uns gelangt ist, hat einen jahrhundertelangen gnadenlosen Ausleseprozess überstanden. Dieser Prozess war oft ungerecht, vieles Wertvolle ist für immer verloren. Und doch können wir vermuten: Was übriggeblieben ist, hat Substanz.

Überliefert ist nur ein Bruchteil dessen, was damals geschrieben wurde. Aber für Sinnsuchende ist es eine Fundgrube.

Wie vielfältig wir uns zum Leben verhalten können: nüchtern wissenschaftlich oder enthusiastisch, ideologisch verbohrt oder pragmatisch offen, achtsam gegenüber allen Mitgeschöpfen oder rücksichtslos auf unseren eigenen Vorteil fixiert – all das haben die Menschen der Antike exzessiv ausprobiert. Und überliefert sind nicht nur ihre Ideen: Oft erfahren wir auch, was sie damit bewegt – oder angerichtet haben.

Im Altertum unsere eigenen Hoffnungen und Nöte wiederzufinden – das ist, wie wenn wir die Welt wieder durch die Augen eines Kindes sähen.

Krieg war bereits absurd, als Homer seine „Ilias“ anstimmte. Deshalb sitzen bei ihm die erbittertsten Feinde friedlich beisammen – und beweinen gemeinsam ihre sinnlos hingemordeten Lieben.

Den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft kannte Sokrates schon. Doch wie er Glaube und Zweifel miteinander verquickte – das ist heute so unverschämt neu, dass wir uns fragen: Sind wir für so viel Freiheit immer noch oder schon wieder zu borniert?

Positive Gedanken gaben bereits dem Stoiker Zenon die Kraft, den Verlust seines Vermögens locker wegzustecken. Doch heftigen Nierenschmerzen war auch damals mit Gedanken schwer beizukommen – weshalb sein Schüler Dionysius das stoische Gerede von ihrer alles bezwingenden Kraft zur Hölle wünschte.

Eine Lüge wurde auch im Königreich Juda nicht dadurch wahrer, dass viele sie nachplapperten. Deshalb schlug König Josaphat vor einer schweren Entscheidung über Krieg und Frieden den einhelligen Rat seiner bezahlten 400 Hofpropheten in den Wind – und verlangte nach dem einzigen Mann, von dem er wusste, dass er unbestechlich war.

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