Читать книгу Essentielle Schriften, Band 2 - Gregor von Nyssa - Страница 15
III
ОглавлениеBesser noch dürfte es sein, durch Beispiele aus dem Leben selbst die Sache zu erklären. Zweifach ist bei jedem Menschen die Bewegung des Willens, der in Freiheit sich dahin wendet, wohin es ihm beliebt: auf der einen Seite zur Mäßigung, auf der anderen zur Zügellosigkeit. Und was von den einzelnen Betätigungen der Tugend und der Lasterhaftigkeit gilt, das gilt von unserem ganzen Wesen. Der Mensch hat nämlich bei seinem Handeln überhaupt zwischen Gegensätzen zu wählen; so steht der Zorn im Gegensatz zur Gelassenheit, der Hochmut zur Demut, die Mißgunst zum Wohlwollen, der Haß zur liebevollen und der damit verwandten friedfertigen Gesinnung. Da nun unser Leben ein materielles ist, die Leidenschaften so zum Bereiche der Materie gehören und jede Leidenschaft einen heftigen, unwiderstehlichen Drang zur Befriedigung in sich schließt, ― schwer und nach abwärts ziehend ist die Materie ―, so preist der Herr nicht diejenigen selig, die ganz frei und unberührt von Leidenschaft leben; denn es ist unmöglich, sich in einem sinnlichen Leben vollkommen über Leidenschaft und Sinnlichkeit zu erheben. Er bezeichnet vielmehr die Sanftmut als die im fleischlichen Leben erreichbare höchste Stufe der Tugend und erklärt, daß es zur Seligkeit genüge, sanftmütig zu sein. Nicht gänzliche Unempfindlichkeit fordert er von der menschlichen Natur, weil ja nur ein ungerechter Gesetzgeber verlangen könnte, was die menschliche Natur nicht zu leisten vermag. Denn ein solches Verlangen wäre so, wie wenn man den Wassertieren das Leben in der Luft und den Vögeln den Aufenthalt im Wasser anweisen wollte; vielmehr muß ein Gesetz den besonderen und natürlichen Kräften der verschiedenen Wesen entsprechen. Deshalb befiehlt die Seligpreisung nur Mäßigung und Sanftmut, nicht gänzliche Unempfindlichkeit; letztere überschreitet die Kräfte unserer Natur, erstere aber lassen sich durch Tugend erreichen. Würde also die Seligpreisung gänzliche Unempfänglichkeit gegenüber der Begierde zu ihrer Grundlage machen, so wäre sie für das Leben unnütz und unbrauchbar. Wie könnte ein solches Verlangen von dem erfüllt werden, der an Fleisch und Blut gebunden ist? So aber erklärt sie nicht den für verdammenswert, der zufällig von der Begierde erfaßt wird, sondern den, der die Begierde vorsätzlich an sich heranzieht. Denn daß zuweilen eine leidenschaftliche Begierde in uns sich regt, das veranlaßt oft die mit unserer Natur engverbundene Schwäche auch gegen unseren Willen. Daß man sich aber nicht wie ein Gießbach vom Drange der Leidenschaft fortreißen lasse, sondern mannhaft einem solchen Triebe widerstehe und durch Gründe des Geistes die Leidenschaft zurücktreibe, das muß die Tugend bewirken. Selig sind also jene, die den leidenschaftlichen Regungen der Seele nicht schnell nachgeben, sondern durch Mäßigung die Ruhe im Innern bewahren, jene, bei denen die Vernunft wie ein Zügel die Triebe im Zaume hält und die Seele nicht zur Ausschreitung durchgehen läßt.