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1.1 Der blonde Eckbert (Ludwig Tieck, 1797)
ОглавлениеIm Unterschied zu den von den Gebrüdern Grimm überlieferten »Volksmärchen«, deren Kern in einem mündlich und anonym tradierten Legenden- oder Sagenstoff bestand, erhält das Kunstmärchen bei Tieck und de la Motte Fouqué eine beziehungsweise mehrere Rahmungen, innerhalb derer die Erzählsituation durch den Text selbst hergestellt wird. Eine solche tritt beispielsweise in Der blonde Eckbert infolge eines Besuchs am Abend ein, als Eckberts Frau Berta der Bitte nachkommt, dem befreundeten Gast ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Markiert wird diese Intradiegese durch einen Absatz, eingeleitet von Bertas Warnung an den Besucher wie die Leserschaft, die Erzählung »für kein Märchen« zu halten, »so sonderbar sie auch klingen mag« (Tieck 1979, S. 633). Selbstreferentialität wird so über die Perspektive der sekundären Erzählerin erzeugt, zugleich werden die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen unterlaufen. Dabei bleibt die Geschichte Berthas nicht ohne Folgen für die extradiegetische Handlung: Die »seltsame« Begebenheit ihrer Jugend, die für die Wendung ihres Schicksals gesorgt hatte und ein bislang zwischen ihr und Eckbert geteiltes Geheimnis gewesen war, schlägt am Ende auf die Psyche (vgl. Rippere 1970) Eckberts durch, »der tötet, um sich von Mitwissern einer verborgenen Schuld zu befreien« (Mayer/Tismar 2003, S. 60). Die märchenhafte Erzählung Bertas setzt auf diese Weise erst ein Wissen frei,4 das auf einen Inzest der Ehepartner hindeutet und die beiden einzigen Freunde Eckberts als Doppelgänger der alten Frau erscheinen lässt, an der sich Berta einst schuldig gemacht hat. Mayer und Tisman haben diesem Kunstmärchen einen »Repräsentationscharakter« attestiert, der den Ängsten und der Unsicherheit einer frühkapitalistischen, bürgerlichen Klasse gelte, »was sie zum eigenen Vorteil gegenüber den undurchschaubaren Mächten sich wünschen dürfte« (ebd.).