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1.3 Ritter Blaubart (Ludwig Tieck, 1797)
ОглавлениеWie schon beim Gestiefelten Kater entlehnt Ludwig Tieck auch den Stoff des Ritter Blaubart den Contes de ma mère l’Oye (1697), einer Märchensammlung von Charles Perrault. Die verbreitete Sage vom hässlichen Blaubart, der seine Ehefrauen zu töten und deren Leichen in einer von Blut getränkten Kammer zu verbergen pflegte, findet auch Eingang in Tiecks dramatisches Kunstmärchen, das er mit dem Untertitel: »Ein Ammenmärchen in vier Akten«, versieht. Damit verweist er bereits im Paratext auf die Tradition mündlicher Überlieferung und Rezeption der Märchen gerade durch Frauen (vgl. Zeller 1993, S. 57)5. In ihrer traditionellen Funktion als Erzieherinnen und primäre Bezugsperson von Kindern schlüpften sie gelegentlich in die Rolle der Erzählerinnen, um ihre Schützlinge zu besänftigen, aber eben auch: um sie vor drohenden Gefahren, seien es wahrscheinliche Gefahren oder eben auch vor mystischen Einbrüchen in die reale Welt zu warnen (qua Mangel besseren Wissens, befördert aber auch von einer an Eigenlogik gewinnenden, von mystifizierenden Elementen getragenen Erzähltradition).
Eingeführt wird das Schauspiel durch einen Prolog, der bereits das Leitmotiv des Schlüssels und des Aufschließens enthält. Dies »eröffnet« aus hermeneutischer Perspektive zudem eine weitere Dimension literarischer Texte: die des Verstehens als das Erschließen eines in ihnen verborgenen Sinns. Dabei richtet der Prolog die Aufmerksamkeit auf »[d]ie fernsten, wundervollsten Welten« (Tieck 2015, S.4), die vom »Zauberstab des Dichters« (ebd.) erschlossen würden; freilich mit der Anti-these, dass es eine »heimlich im Gebüsch versteckt[e] … Tür« (ebd.) noch zu entdecken gäbe, die zu öffnen dem Dichter vorbehalten sei.
Kern der Handlung ist denn auch ein Schlüsselbund, den Blaubart seiner Verlobten anvertraut, offenbar in der Absicht, sie auf eine Probe zu stellen. Von den Kammern, zu denen ihr die Schlüssel Zutritt verschaffen, stehen ihr sechs offen. Nur das siebte Zimmer, »das dieser goldene Schlüssel öffnet« (ebd.), soll ihr verboten sein. Dass Agnes schließlich ihrer Neugier nachgibt und die verbotene Kammer dennoch betritt, kann im Sinne Detlef Kremers zu Tiecks »Interesse für komplexe psychologische Konstellationen« gerechnet werden, »in denen einerseits eine differenzierte literarische Phänomenologie bürgerlicher Alltagswelt entsteht, andererseits eine wachsende Aufmerksamkeit für abweichende Verhaltensweisen und deren Psychogenese in individuellen Lebensgeschichten artikuliert wird« (Kremer 2011, S.498).
Im Unterschied zu den beiden bereits nach ihren protoromantischen Merkmalen untersuchten Kunstmärchen erscheint Ritter Blaubart jedoch mehr noch dem Modus spätaufklärerischen Erzählens verpflichtet, als sich in ihm keine eindeutigen Markierungen selbstreferentieller Bezugnahme erkennen lassen. Zwar ist auch anhand einiger parodistisch eingestreuter Dialogfetzen, die auf berühmte Philosophen verfasst sind, der Versuch der ironischen Rückkopplung an zeitgenössische Diskurse bemerkbar, beispielsweise an jenen der »Erfahrungsseelenkunde« (à la Karl Philipp Moritz)6 oder auch den der Frühromantik. So könnte man im sentimentalischen Grundton, den Bruder Simon anschlägt, sowohl das Reflexionsbedürfnis der Gebrüder Schlegel als auch Positionen des philosophischen Idealismus karikiert sehen, als er über die mangelnde Fähigkeit seiner Geschwister klagt, (selbst-)reflexiv zu denken:
Simon: Siehst du, jetzt versteht du mich gar nicht, weil du auf die Gedanken noch gar nicht gekommen bist. – Siehst du, ich denke, und mit dem Zeuge, womit ich denke, soll ich denken, wie dieses Zeug selbst beschaffen sei. Es ist pur unmöglich. Denn das, was denkt, kann nicht durch sich selbst gedacht werden. (Tieck 2015, S. 15)
Das Textverfahren dominiert jedoch im Blaubart, ähnlich wie im Gestiefelten Kater (abzüglich dessen vielschichtigen Panoramas) die Polyphonie der Figuren, in denen vielfach Gesellschaftstypen »gespiegelt« werden. Ob dieser »Spiegelung« eine ebensolche Brechung des konventionellen Märchens zukommt, wie sie die beiden anderen Kunstmärchen Tiecks demonstrieren, oder ob hier »lediglich« ein bekannter Stoff neu aufgelegt wird, muss an dieser Stelle offenbleiben. In der Thematisierung von innerweltlicher Kontingenz und der Unergründbarkeit menschlichen Daseins treten jedoch offensichtlich Aspekte auf, die Kremer als für die Spätaufklärung »charakteristisch« begreift. Allerdings könnte die Beobachtung, dass dem Drama eine hintergründige Ironie zu eigen ist, zumal es phantastische, schauerromantische Episoden in die Handlung integriert, Kremers Argument modifizieren. Ohnehin schloss dessen Behauptung, »daß der Großteil der Prosaarbeiten Tiecks bis etwa 1796/1797 formal wie thematisch der Spätaufklärung zuzuordnen und im Kern keineswegs als prä- oder protoromantisch zu verstehen« (Kremer 2011, S.496) sei, ja nicht im engeren Sinne auch die dramatischen Arbeiten mit ein (wenngleich Tieck das »Märchenspiel« Ritter Blaubart im Jahr seiner Entstehung auch noch in die Form einer Erzählung gießen sollte mit dem Titel Die sieben Weiber des Blaubart 7).
Dagegen herrscht weitgehend Einigkeit in der Einschätzung, dass Der blonde Eckbert einen »Bruch« mit der Spätaufklärung markiere, ja sogar als »zentrales Archiv der späteren romantischen Literatur« (Kremer 2011, S. 504) bezeichnet werden könne:
»Der blonde Eckbert« spielt die generischen Möglichkeiten des romantischen Kunstmärchens beinahe vollständig aus. […] Der epochale Bruch mit der Literatur der Spätaufklärung läuft über die Behauptung und Begründung ästhetischer Autonomie, deren Rückseite eine Abgrenzung von der rationalen Zweckbestimmung der Wissenschaft und der moralischen Funktionalität der Literatur der Aufklärung bezeichnet. Die beanspruchte Autonomie des romantischen Textes besteht u. a. in einer weitgehenden Selbstreflexion, in atmosphärischer Ambiguität und allegorischer Verdichtung, aber auch in einer auffälligen psychologischen Differenzierung. (Kremer 2011, S. 504)
Alle diese Kriterien finden in Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert ihre Konkretion: die Behauptung ästhetischer Autonomie qua erzählerischer Rahmung und selbstreferentieller Rückkopplung, die Verkettung von Wunderbarem und Wahrscheinlichem, die kunstvolle Ausgestaltung von (Leit-)Motiven wie auch die psychologisch höchst ausdifferenzierte Ambivalenz des Protagonisten.