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2.5 Kategorialer und dimensionaler Ansatz

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In der zeitgenössischen Debatte über die Klassifikation psychopathologischer Störungen bilden sich sowohl kategorial qualitative als auch dimensional quantitative Ansätze ab. Diese Debatte findet auch bei der Klassifikation von ADHS ihren Niederschlag. Mit dem kategorialen Ansatz wird angenommen, dass die Kernmerkmale Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität aufgrund von Symptomen, Ätiologie oder anderen Merkmalen eine klare Unterscheidung zwischen Individuen mit oder ohne ADHS ermöglichen. Diese Annahme wird auch unter der Annahme quantitativ verschiedener Merkmalsausprägungen aufrechterhalten. In dieser Sichtweite ist ADHS analog zu Krankheiten wie Masern oder Mumps zu betrachten.

Der kategoriale Ansatz steht mit der klinischen Praxis im Einklang, dass Erfahrung und Konsens die Basis der Einteilung von Krankheiten und Störungen bilden. Diese beruhen letztlich auf der klinischen Urteilsbildung, die wiederum auf der Exploration und Beobachtung des Patienten beruht. Mit der klaren Grenzziehung zwischen verschiedenen Einheiten von Störungen werden selbst verwandte Konzepte wie z. B. ADHS und Störungen des Sozialverhaltens unterscheidbar, die bei dimensionalen Ansätzen eher hohe Assoziationen aufweisen. Argumentative Stützen für die Gültigkeit des kategorialen Ansatzes lassen sich sowohl in der Analyse von komorbiden Störungen als auch in Untersuchungen mit der statistischen Methode der Latent Class Analysis finden.

Das in der Medizin traditionell unter Komorbidität abgehandelte Phänomen der koexistierenden psychischen Störungen ist auch bei ADHS ein häufiges Phänomen ( Kap. 14). Das Auftreten von zwei gleichzeitig manifesten Störungen wirft grundsätzlich die Frage auf, ob es sich hierbei um ein zufälliges Ereignis oder aber um einen validen Subtyp handelt, der im Rahmen eines Klassifikationssystems eine separate Berücksichtigung verlangt. Hierzu muss eine Reihe von Fragen positiv beantwortet werden, die in Kapitel 5 abgehandelt wird. Tatsächlich zeigen entsprechende Analysen, dass bei der Kombination ADHS mit einer Störung des Sozialverhaltens ein in der ICD-10 entsprechend berücksichtigter, im DSM-IV und DSM-5 hingegen nicht berücksichtigter Subtyp besteht (Jensen et al. 1997). Mit etwas geringerer Evidenz kann auch davon ausgegangen werden, dass die Verbindung von ADHS mit emotionalen Störungen (Angst, Depression) die Kriterien für einen validen Subtyp erfüllt. Beide Subtypen sind auch in der großen Multimodal Treatment of ADHD (MTA) Studie erneut identifiziert worden (Jensen et al. 2001).

Verschiedene Studien haben vornehmlich an Daten von Zwillingsstichproben mit der Methode der Latent Class Analysis das ADHS-Symptommuster untersucht (Neumann et al. 1999, 2001; Rasmussen et al. 2002). Dabei fanden sich stichprobenabhängige Lösungen separater Klassen von Ausprägungen einzelner ADHS-Komponenten mit und ohne Komorbidität, die im Einklang mit dem kategorialen Ansatz stehen.

Beim dimensionalen Ansatz wird das Verhalten als ein Kontinuum von normalen bis abnormen Ausprägungen mit individuellen Unterschieden der Expressivität auf einem Spektrum verstanden. Hier geht es weniger um das Vorliegen bzw. Fehlen einzelner Symptome, sondern um den Schweregrad eines Verhaltens bzw. Symptoms, welches die Unterscheidung zwischen Normalität und Abnormität gestattet. Die Ableitung einer klinischen Störung erfolgt durch die mehr oder weniger willkürliche Festlegung eines Schwellenwertes auf einer Dimension des Verhaltens. Das Konzept von ADHS findet bei dieser Sichtweise Entsprechungen in Krankheiten wie Bluthochdruck oder Übergewicht.

Wenngleich die Klassifikation von ICD und DSM kategorial sind, enthalten sie in den Entscheidungsregeln und der Festlegung operationalisierter Kriterien wie der Anzahl erforderlicher Einzelsymptome für die Sicherung der Diagnose zugleich dimensionale Aspekte. Ebenso ist das auch für ADHS favorisierte multifaktorielle Ursachenmodell mit der Annahme eines trichterförmig zulaufenden, schlussendlich gleichartigen Störungsbildes, das aus zahlreichen, individuell variierenden ätiologischen Komponenten resultiert, mit dem dimensionalen Konstrukt von ADHS kompatibel.

Eine definitive ätiologische Aufteilung in Menschen mit und ohne ADHS ist beim gegenwärtigen Stand des Wissens nicht möglich und hinsichtlich der Realisierbarkeit eher unwahrscheinlich. Wenngleich verschiedene genetische Faktoren bedeutsam sind ( Kap. 9), so können auch andere biologische Faktoren wie pränatale Alkoholexposition, Hirntraumen oder auch psychosoziale Risikofaktoren wie z. B. eine Deprivation im frühen Kindesalter zu einem phänotypisch gleichen psychopathologischen Bild von HKS bzw. ADHS führen.

Der dimensionale Ansatz in der Psychopathologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in der Entwicklung von Verhaltensbeurteilungsfragebögen und -skalen niedergeschlagen, wobei spezifische Instrumente zur Abbildung von HKS bzw. ADHS diese Tendenz besonders geprägt haben. In derartigen Skalen erfolgen Beschreibungen von Verhaltensmerkmalen wie »unruhig, kann nicht still sitzen« oder »kann sich nicht konzentrieren, ist leicht abgelenkt« mit der Vorgabe einer mehrstufigen Antwortskala zur Beurteilung der Ausprägung des jeweiligen Merkmals. Damit wird über die meist faktorenanalytisch vorgenommene Zusammenführung einzelner Merkmale zu Dimensionen bzw. Skalen die Berechnung von quantitativen Ausprägungen psychopathologischer Phänomene ermöglicht, die zwischen verschiedenen Individuen variieren und entsprechend auch normiert werden können. Diese Verfahren werden in Kapitel 21 dargestellt. Sie finden auch in der Forschung breiten Einsatz, z. B. bei der Suche nach Endophänotypen, die mit spezifischen genetischen Faktoren korrespondieren.

Gleichwohl gibt es auch kritische Argumente gegen den quantitativen Ansatz. Die jeweils ermittelten Dimensionen sind nicht frei von jeweils gesetzten Rahmenbedingungen und Entscheidungen z. B. hinsichtlich der Merkmalsauswahl und der statistischen Analysetechnik. Häufig korrespondieren die gefundenen Dimensionen nicht hinlänglich mit den klinisch etablierten Symptomebenen, wenn z. B. in der Child Behavior Checklist (CBCL) und den Parallelinstrumenten Teacher Rating Form (TRF) sowie Youth Self Report (YSR) kein ADHS-Faktor, sondern nur ein Aufmerksamkeitsproblemfaktor gefunden wird und Merkmale der Hyperaktivität teilweise auf der Dimension des aggressiven Verhaltens repräsentiert werden (Achenbach 1993). Entsprechend sind beim dimensionalen Ansatz auch relativ häufig Verbindungen unter verschiedenen Dimensionen bei einzelnen Patienten zu finden.

Zusammengefasst finden sich zahlreiche Argumente für und gegen jeweils den kategorialen und den dimensionalen Ansatz. Beide sind einem kontinuierlichen Prozess der empirischen Überprüfung unterworfen, um der in der Psychiatrie-Geschichte lange dominierenden Tendenz zu begegnen, nosologische Klassifikationen eher auf Tradition und Entwürfe einzelner Autoren als auf überprüfbare Fakten zu gründen.

Weitere Impulse werden möglicherweise von der Entwicklung der sog. Research Domain Criteria (RDoC) kommen, die vor einigen Jahren vom US-amerikanischen National Institute of Mental Health (NIMH) initiiert wurde. Die RDoC zentrieren sich auf dimensionale psychologische Konstrukte und Konzepte, die in verschiedenen methodischen Ansätzen gemessen werden und wesentlich im Kontext von Entwicklungsverläufen und Umgebungseinflüssen erfasst werden. Die Konstrukte werden in übergeordneten Ebenen als Domänen menschlichen Verhaltens und Funktionierens gruppiert, welche das aktuelle Wissen über Systeme der Emotion, Kognition, Motivation und des Sozialverhaltens widerspiegeln, wobei die Untersuchung der Konstrukte aus neuro- und verhaltenswissenschaftlichen Methoden abgeleitet werden. Die Auswirkungen dieser Forschungsaktivitäten auf die Versorgungssituation können derzeit noch nicht abgeschätzt werden. Weitere detaillierte Informationen befinden sich auf der Website des NIMH (https://www.nimh.nih.gov/research-priorities/rdoc/definitions-of-the-rdoc-domains-and-constructs.shtml, Zugriff am 27.09.2019).

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