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A 1.5.2 Bewusstes, aktives Erleben von Zeit: biographische Ebene
ОглавлениеDie von Husserl beschriebene passive Zeitsynthese, durch die überhaupt ein Erleben möglich wird, ist dem Bewusstsein, als einem abkünftigen Modus dieses Erlebens, nicht zugänglich. Sie kann uns zwar, z. B. in einer phänomenologischen Beschreibung, bewusst werden, aber da unser Bewusstsein durch sie strukturiert ist, sie also selbst die fundamentale Struktur ist, in der das Bewusstsein Veränderungen erfährt, kann es sie nicht modifizieren. Allenfalls Psychopharmaka oder Drogen könnten auf dieser ersten – mikrologischen – Ebene eine Wirkung entfalten (vgl. Heimann 1989, S. 63 ff.).
Erst auf einer zweiten – makrologischen – Ebene oder Schicht der Zeitsynthese, die nicht nur einen erkenntnis-, sondern auch einen biographiekonstitutiven Status hat, gibt es die Möglichkeit der bewussten Modifikation. Auch hier ist das Erleben zunächst durch die Richtung und Kontinuität des Zeitflusses geprägt (vgl. A 1.4.1). Das Subjekt wird sich seiner Kontinuität und Richtung jedoch bewusst, d. h. der Zeitfluss ist dem Bewusstsein gegenwärtig. Das Subjekt weiß, dass die Zeit einen einsinnigen Verlauf hat: vom Früheren zum Späteren; und es weiß ebenso, dass es diese Richtung aktual nicht umkehren, zu keinem früheren Wahrnehmungszustand zurückkehren kann.
Dieses Wissen setzt jedoch bereits bewusste und aktive Prozesse der Erinnerung und Erwartung voraus, die Husserl zur besseren Unterscheidung von den unbewussten und passiven als sekundäre Erinnerung und Erwartung bezeichnet (vgl. Husserl 1928, S. 365 ff.): Das Subjekt erinnert sich z. B. an eine frühere Wahrnehmung und verknüpft sie mit einer gegenwärtigen, oder es erwartet die Wahrnehmung von etwas, das es sich schon jetzt vergegenwärtigen kann usw. In diesen bewussten Intentionen konstituieren sich also auf einer höheren, komplexeren Stufe erneut Erkenntnisse, aber sie sind nun Teil der Biographie eines sich bewusst in der Welt orientierenden Subjekts (vgl. Kupke 2011).
Das unbewusste ist dabei dem bewussten Zeiterleben nicht äußerlich, sondern in es integriert. Es ist sein Implement. Umgekehrt aber erweitert das bewusste das unbewusste Zeiterleben, so dass es in dieses gerade nicht integriert sein kann. Es ist dessen Emergent (zur Terminologie vgl. Elias 1987, S. 185 ff.; Kupke 2008). Das sekundäre Zeiterleben baut ontologisch auf das primäre auf, aber dieses ontologisch Sekundäre ist, existenziell gesehen, gerade das Primäre: Dass die Zeit einsinnig verläuft, aber auch strukturiert ist, dass sie nicht nur die Zeit dinglicher, sondern lebendiger Wesen ist, gewinnt für das seiner selbst bewusste Wesen »Mensch« gravierende, existenzielle Bedeutung.