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A 1.6 Die Bedeutung der Gewissheit des Todes für das Erleben von … Zeit A 1.6.1 Bewusstsein und Gewissheit des Todes: der Tod als das ganz Andere
ОглавлениеWodurch gewinnen der Zeitfluss und seine Struktur, das Fließen der Zeit und ihre Strukturierung für das Subjekt existenzielle, graviale Bedeutung? Durch die Gewissheit des Todes. Denn ontologisch gesehen ist die Zeit ein totales, unendliches Medium. Ihr Fluss, ihr triviales Transzendieren von Einem zu Anderem und immer wieder Anderem ist endlos. Und auch ihre Struktur, die die Struktur dieses Flusses ist, kennt keinen Tod. Ohne ihn wäre auch die dimensionale Strukturierungsleistung des Subjekts, die Synthese der Zeit aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, ohne Ende. Die Zeit wäre unendliche Zeit.
Durch das Bewusstsein des Todes jedoch verändert sich alles. Im Sinne des vorgestellten binären Schemas kann man die Frage stellen, ob diese Veränderung tatsächlich die Zeit als das Intendierte, das »Objekt« und nicht vielmehr nur deren Intention, das »Subjekt« betreffe; denn nicht die Zeit sterbe, sondern das einzelne Subjekt. Aber nimmt man den schon verdeutlichten phänomenologischen Grundsatz ernst, dass uns die Zeit nur als erlebte, nur in ihrem Für-uns, nicht aber in ihrem An-sich zugänglich ist, wird man mit aller Vorsicht sagen können: Die ontologisch unendliche Zeit wird durch das Todesbewusstsein für das Subjekt zur existenziell endlichen, sie wird ver-andert.
Worin besteht diese Ver-Anderung (zur Terminologie vgl. Kupke 2003, S. 105 ff.)? Alles, was in den dimensionalen, auf die Zukunft bezogenen Erwartungshorizont des Bewusstseins tritt, kann prinzipiell Teil der Biographie eines einzelnen Subjekts werden (vgl. Kap. A 1.5.2). Der Tod jedoch, anders als das Sterben, kann niemals Teil der Biographie des ihn erwartenden Subjekts werden: er ist kein zeitliches Geschehen, sondern gerade das ganz Andere dieses Geschehens, das zeitlos Unbekannte, das in den zeitlichen Selbst-Bezug des Subjektes in keiner Weise eingebunden werden kann. Denn, wie Epikur richtig sagt, gilt für den Tod:
»Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.« (Epikur 1973, S. 41)
Das heißt: Durch den Tod wird die ontologisch sekundäre, aber existenziell primäre Erwartungs- und damit Synthetisierungsleistung des Subjekts sistiert. Sie gerät an eine absolute Grenze und damit unter die Herrschaft dieses ganz Anderen, das es nicht mehr relativieren, d. h. in jene zeitliche Synthese implementieren kann, die die einzige Form des Widerstands des Subjekts dagegen ist, vom Strom des reinen ontologischen Verfließens der Zeit aufgesogen zu werden. Dieser Widerstand zerbricht an der Grenze des Todes. Das zeitliche Subjekt ist durch den Tod, der das radikal Zeitlose ist und gerade durch die Zeit auf das Subjekt zukommt, in einer Weise überfordert, dass es an der »Krankheit zum Tode« (Kierkegaard) zu zerbrechen droht.