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A 2.2 Verhaltensorganisation in der Zeit (Mikro-Ebene)
ОглавлениеWenn wir auf die Planung des Verhaltens in der Zeit fokussieren, dann greifen wir dabei auf Erinnerungsbestände zurück sowie auf aktuelle Wahrnehmungsinhalte, um auf deren Grundlage Handlungen für die unmittelbare oder spätere Zukunft vorzubereiten. Schon einfache bewusste Wahrnehmungen machen Kontinuität in der Zeit notwendig (Fuster 2003, S. 251). Bei dem Versuch, die funktionale Rolle des präfrontalen Kortex im Gehirn von Säugetieren zu bestimmen (Fuster 1997, S. 2), und nach Durchsicht der einschlägigen Literatur kommt der Neurowissenschaftler Joaquin Fuster zu der Einsicht, dass der präfrontale Kortex genau dieser Funktion der Organisation des Verhaltens in der Zeit dient. Fuster unterscheidet dabei die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Vergangenheit ordnet er das psychologische Konstrukt des Arbeitsgedächtnisses (working memory) zu, der Gegenwart die Interferenzkontrolle (interference control) und der Zukunft die Handlungsvorbereitung (preparatory set) (Fuster 1997, 2003; Vogeley und Kupke 2007). Es ist die zentrale Aufgabe des präfrontalen Kortex, das Verhalten des Organismus in der Zeit zu organisieren: »Integration across time is a basic function of the prefrontal cortex and the basis of its cardinal role in the temporal organization of behavior.« (Fuster 2003, S. 109).
Das mit der Vergangenheit assoziierte Arbeitsgedächtnis (working memory) ist dabei retrospektiv tätig (Fuster 1997, S. 230), es weist einen ständig wechselnden Inhalt auf, der gewissermaßen »online« bereitgehalten wird und einen operationalen Charakter hat (Fuster 1997, S. 231). Das Arbeitsgedächtnis ist dabei besonders relevant für die Vorbereitung von konkreten Handlungen (Fuster 1997, S. 230). Die mit der Zukunft assoziierte Handlungsvorbereitung (preparatory set) hat die Aufgabe, Handlungen vorzubereiten (Fuster 1997, S. 232). Im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnis ist die Handlungsvorbereitung daher prospektiv tätig. Ein sehr ausführlich in den letzten Jahren diskutierter Beleg ist das sogenannte Bereitschaftspotenzial, das etwa im Zeitraum von einer Sekunde unmittelbar vor einer ausgeführten Handlung beobachtet werden kann (für eine umfassende und kritische Diskussion siehe auch Schmidt et al. 2016). Mit anderen Worten geht Aktivität im präfrontalen Kortex der Handlungsinitiierung im motorischen Kortex voraus. Diese besonders dem dorsolateralen Teil des präfrontalen Kortex zugeordnete Funktion lässt sich sowohl bei nichtmenschlichen Primaten (Hoshi und Tanji 2004) als auch beim Menschen zeigen (Johnson-Frey et al. 2005; Den Ouden et al. 2005). Die der Gegenwart zugeordnete hemmende Funktion (interference control) wird von Fuster als die dritte integrative Funktion des sogenannten präfrontalen Cortex (PFC) angesehen. Sie ist wichtig bei dem Schutz der Struktur oder der »Gestalt« des Verhaltens gegenüber störenden internen oder externen Einflüssen, die in Konflikt zur Handlungsplanung stehen können. Fuster setzt Gedächtnis und Gedächtnisabruf mit einer Form der selektiven Aufmerksamkeit, nämlich der Aufmerksamkeit für interne Prozesse gleich (Fuster 1997, S. 236 f.). Dass die Aufmerksamkeit von der Funktionstüchtigkeit des PFC abhängt, ist gut belegt (Stephan et al. 2004).
Das resultierende Konzept der Organisation von Verhalten in der Zeit ist im Wesentlichen auf der Möglichkeit der Entwicklung von überzeitlichen Beziehungen (cross-temporal contingencies) wie Schemata, Ziele oder Handlungsintentionen aufgebaut. Die Komponenten des Arbeitsgedächtnisses und der Handlungsvorbereitung gleichen Vergangenheit und Zukunft gegeneinander ab (Fuster 1997, S. 236). Es resultiert eine einheitliche, holistische Struktur im Sinne einer zeitlichen »Gestalt«, ähnlich einer Melodie (Fuster 1997, S. 215). Vermutlich muss aber angenommen werden, dass der PFC zwar zeitliche Abstände bei der Verhaltensplanung überbrücken kann, diese aber nur in einem vergleichsweise kurzen Zeitfenster stattfinden, etwa in einer Kette von Handlungen, im rationalen Diskurs oder bei der Generierung von Sprache (Fuster 1997, S. 4). Das zeigen Studien, die eine Beteiligung des dorsolateralen PFC in einer auditorischen Zeitschätzungsaufgabe belegen (Nenadic et al. 2003). Daneben sind auch andere Regionen beteiligt, unter anderem das Cerebellum sowie der Temporallappen bei einer expliziten prospektiven Zeitintervall-Produktionsaufgabe (Tracy et al. 2000). Zeitliche Informationsverarbeitung im Gehirn auf der Mikro-Ebene ergibt sich damit als ein komplexer verteilter Prozess zwischen modalitätsspezifischen kortikalen Arealen und zusätzlichen präfrontalen Arealen und dem Striatum, die dem Gedächtnis und der Aufmerksamkeit zugeordnet werden können. Der unmittelbar gefühlte Zeitverlauf im Sekundenbereich könnte zudem von der Wahrnehmung von Körperpozessen und ihrer Repräsentation im insularen Kortex abhängen (Wittmann 2013). Diese grundlegende verkörperte Wahrnehmung von Zeit würde auf der neuronalen Ebene des PFC zu einem Ganzen der überzeitlichen Wahrnehmung integriert werden.
Die Verbindung des PFC mit dem Zeiterleben wird auch an Störungen des Zeiterlebens bei psychischen Erkrankungen deutlich. Das sogenannte autonoetische Bewusstsein als die Fähigkeit, Erlebnisse der eigenen Lebensgeschichte mental wieder zu durchleben, ist an die Integrationsfähigkeit in der Zeit gebunden, die verschiedene Aspekte von Ereignissen miteinander verknüpfen kann. Patienten mit Schizophrenie zeigten eine verringerte Wiedererkennungsrate und eine Reduktion des autonoetischen Bewusstseins (Danion et al. 1999). Auf der Ebene des Gehirns lassen sich ebenfalls Dysfunktionen des PFC bei Schizophrenie nachweisen. Bei einer auditorischen Zeitschätzungsaufgabe und einer Frequenz-Diskriminierungaufgabe zeigten Patienten mit Schizophrenie eine geringere Aktivierung des PFC und des Nucleus caudatus (Volz et al. 2001; Yang et al. 2004). Unter dem Stichwort einer sogenannten »kognitiven Dysmetrie« ist postuliert worden, dass bei der Schizophrenie eine komplexe Störung der Kommunikation zwischen neokortikalen, zerebellären und thalamischen Signalen vorliegen könnte (Andreasen 1999; Andreasen et al. 1999).