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2.3.3 Neuberechnete Verhältniszahlen und Berücksichtigung von Mitversorgungseffekten
ОглавлениеDas Gutachten hat empfohlen, morbiditätsbedingte Abweichungen der Verhältniszahlen der Planungsbereiche von einer durchschnittlichen bundesweiten Verhältniszahl als Richtwert für die bedarfsgerechte Versorgung heranzuziehen. Die morbiditätsgewichteten Verhältniszahlen ermitteln das bedarfsgerechte Einwohner-Arzt-Verhältnis für die Einwohner eines Planungsbereichs. Für die allgemeine fachärztliche Versorgung muss die Typisierung der Verhältniszahlen in sechs Klassen aufgrund geschätzter Mitversorgungsbeziehungen im ersten Schritt nicht erfolgen. Während die Teilversorgung von infrastrukturell gut angeschlossenen Planungsräumen durch Zentren sowohl aus Sicht der Patienten (bestehende Pendlerbeziehungen, sonstige Dienstleistungs-Infrastruktur) als auch hinsichtlich der Anbindung medizinischer Weiterbildung, des fachlichen Austauschs und im Sinne der Wirtschaftlichkeit zielführend ist, sollten Verhältniszahlen zunächst die für eine bedarfsgerechte Versorgung geschätzten notwendigen Arztkapazitäten für die Bevölkerung innerhalb eines Planungsbereichs ausweisen.
Die direkte Adjustierung der allgemeinen fachärztlichen Verhältniszahlen um die in der BPL-RL angenommenen Mitversorgungsbeziehungen führt zu Irritationen und/oder der Notwendigkeit, die Verhältniszahlen im Rahmen regionaler Besonderheiten gemäß § 99 Absatz 1 SGB V in denjenigen Planungsregionen anzupassen, für welche die Annahmen der Mitversorgung empirisch nicht oder kaum zutreffen.
Die wesentlichen Einflussgrößen regionaler Mitversorgung liegen in den strukturellen Charakteristika der Räume selbst. Diese umfassen sowohl die räumliche Lage von Mitversorgern gegenüber den mitversorgten Regionen als auch die Arzt-Einwohner-Verhältnisse der eigenen und der Nachbarkreise, die flächenmäßige Ausdehnung der Kreise sowie die Verteilung der Standorte in den Kreisen. Anpassungsfaktoren, wie sie aktuell Anwendung finden, haben den Nachteil, dass sie stets nur in eine Richtung und unabhängig von den benachbarten Anpassungsfaktoren wirken. Das bedeutet, sie ignorieren die räumliche Lage an sich und müssten, um dies zu kompensieren, für jede Region separat festgelegt werden. Im Vergleich zu Anpassungsfaktoren können Gravitationsmodelle Mitversorgung unter Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten präziser abbilden (siehe Gutachten zur Weiterentwicklung der Bedarfsplanung, Sundmacher u. a. 2018).
In einem zweiten Schritt müssten dann gravitationsbasierte Ansätze nachvollziehbar darstellen, welche Planungsräume in welchem Ausmaß ihre benachbarten Regionen gemäß zuvor ermittelter Schwellen von Mindesterreichbarkeit und Mindestangebot vor Ort zu welchem Anteil mitversorgen, um eine bedarfsgerechte Versorgung zu gewährleisten.
Gravitationsmodelle lösen die feste Zuordnung der Anzahl von Leistungserbringern und der Anzahl der Bevölkerung in einer festgelegten Raumdefinition ab. Der Gravitationsansatz bedingt somit eine Veränderung im eigentlichen Planungskonzept, indem die Erreichbarkeit der medizinischen Versorgung in das Planungskonzept integriert wird. Aus der bisher geltenden Einwohner-Arzt-Relation wird eine fahrzeitgewichtete Einwohner-Arztrelation mit expliziten Mindesterreichbarkeiten für verschiedene Fachgruppen. Im Kern ordnet ein Gravitationsmodell auf Basis bestimmter Annahmen die Bevölkerung (und damit im übertragenen Sinne den Behandlungsbedarf) den regional unterschiedlich verteilten Praxisstandorten zu. Das Modell basiert auf der theoretischen Überlegung, dass Patienten wohnortnahe Versorgung und Praxisstandorte mit hoher Kapazität bei gleicher Eignung bevorzugen. Daraus resultieren zwei Wirkungen: Patienten werden zum einen von Standorten mit hoher Arztkapazität »angezogen«, eine zunehmende Distanz zwischen Patientenwohnort und Arztstandort wirkt dabei jedoch zunehmend »abstoßend«. Diese beiden Wirkungen bestimmen schließlich die Zuordnung der Bevölkerung zu den Praxisstandorten. Jeder Standort ist sodann mit einem bestimmten Bevölkerungspotenzial belastet, definiert als gravitationsgewichtete Einwohner-Arzt-Relation.
Die gravitationsgewichtete Relation kann grenzüberschreitend und unter Wahrung von Richtwerten der Mindesterreichbarkeit modelliert werden, sodass Mitversorgung zwischen Standorten – oder bei entsprechender Aggregation auch zwischen Planungsräumen – inkludiert wird. Die gravitationsgewichtete Relation kann an Stelle der bisher verwendeten aggregierten Durchschnittsrelation auf Mittelbereichs- oder Kreisebene angewendet werden. Durch die Berücksichtigung von Regionen-spezifischen Erreichbarkeiten und Mitversorgung jenseits fixer Grenzen wird das Versorgungsgeschehen für Patienten realitätsnäher als bislang abgebildet und kann dementsprechend im Einklang mit regionalen Gegebenheiten geplant werden.
Die Neuberechnung der Verhältniszahlen und die Berücksichtigung der Mitversorgung weisen neue Arztkapazitäten aus, die gegebenenfalls schwer sicherzustellen sind. Auch neue Versorgungsmodelle, die Telemedizin und die Delegation ärztlicher Leistungen einbeziehen, sollten flankierend genutzt werden, um den ärztlichen Versorgungsbedarf sicherzustellen. Gerade in Planungsbereichen, in denen infolge von Bevölkerungsrückgang keine stabile Planung von Vertragsarztsitzen möglich ist, müssen alternative Modelle flankierend eingesetzt werden oder zeitlich befristete Versorgungsaufträge erteilt werden. Im Gutachten sind weitere Berechnungen zum Einfluss des hier vorgestellten Ansatzes auf die Anzahl der Arztsitze je Arztgruppe zu finden.