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Heike Egner Das „Modell des Wasserkreislaufs“ Weder nachhaltig noch global gültig 1. Einleitung: Das Anthropozän als Herausforderung unseres bisherigen Denkens

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Die These des Anthropozäns stellt uns vor große Herausforderungen – sowohl jeden einzelnen von uns als auch als Gesellschaft. Nimmt man die These ernst, dann irritiert sie über alle Maßen, stellt unsere bisherigen Gewissheiten infrage und zwingt uns, alles bisher für normal und selbstverständlich Gehaltene neu zu überdenken (Egner & Zeil 2019). Für die schulische Bildung wird das Anthropozän mittlerweile als „Denkrahmen für Bildungsprozesse“ (Sippl & Scheuch 2019), als fächerübergreifende „Querschnittsaufgabe“ (Niebert 2016, S. 80) und als „integratives Wissens- und Bildungskonzept“ (Leinfelder 2018) diskutiert. Es wird jedoch noch einiges an Arbeit und Zeit brauchen, bis das grundsätzlich veränderte Denken, das als Konsequenz aus der Hypothese des Anthropozäns erwächst, tatsächlich seine konkrete Umsetzung in Lehrplänen, Schulbüchern und durch entsprechend ausgebildetes Lehrpersonal findet.

Dieser Beitrag nutzt das Modell des globalen Wasserhaushalts als ein Beispiel, das in den Lehrplänen der Schule als Grundwissen in den Naturwissenschaften gelehrt und später an den Universitäten als selbstverständlich bekannt voraus gesetzt wird, um daran entlang nach Wegen des Denkens und Lehrens zu suchen, die für die Hypothese des Anthropozäns angemessenen sein können. Ich gehe dabei von zwei Grundannahmen aus, die der Argumentation dieses Beitrags den Rahmen geben:

(1) Unser Denken ist geprägt von Theorien und Modellen, auch wenn es uns im Alltag oftmals nicht bewusst ist. Wann immer wir etwas wahrnehmen, bietet unser Gehirn uns eine Erklärung dafür an. Das geht in der Regel blitzschnell, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken. Über diese Fähigkeit verfügen wir offenbar bereits seit unserem frühesten Kindesalter, lange bevor wir Sprache erworben haben (vgl. Liu et al. 2019). Ein grundlegendes Verständnis von Korrelationen (Wechselbeziehungen) und Kausalitäten (Ursache-Wirkungs-Beziehungen) scheint in uns Menschen als Kernkompetenz angelegt zu sein. Wir bringen also bereits ein Set von Annahmen über das Funktionieren unserer Welt mit. Im Laufe unserer Sozialisation lernen wir dann weitere Theorien und Modelle, die unser Verständnis von „normal“ unserer Alltagswelt prägen, wobei uns oftmals die zugrundeliegende Theorie oder das Modell nicht bewusst ist. Treten neue Phänomene oder andere Erklärungsmuster für Bisheriges auf, entsteht zunächst eine Phase kognitiver Dissonanz (im Sinne von Festinger 2001/1957), bevor sie in unsere Alltagslogik integriert werden können. Die Hypothese des Anthropozäns stellt ein derartiges neues Erklärungsmuster bereit, das auf ganz umfassende Weise unsere impliziten und expliziten Theorien und damit unseren Denkrahmen herausfordert.

(2) Anders als die Fähigkeiten zu kausalen Erklärungen bringen wir ein Verständnis von Zeit nicht als Kernkompetenz mit in diese Welt. „Zeit“ müssen wir erst erlernen. Gleichzeitig ist Zeit das „unsichtbare Andere“ (vgl. Adams 1995, Adams 1998), das unser Denken und Handeln gleichermaßen fundamental strukturiert. Unser derzeitiges Verständnis von Zeit basiert weitgehend auf der Wahrnehmung unserer alltäglich-lebensweltlichen Verhältnisse und umfasst im besten Falle einige Jahrzehnte. Wenn wir sehr weit denken (und vielleicht in der Mitte unseres Lebens stehen), dann kann sich unsere heutige Zeitvorstellung noch in die Vergangenheit auf zwei Generationen vor uns (Großeltern) und in die Zukunft gerichtet auf die beiden Generationen nach uns (Enkel) erstrecken (außer wir sind Historiker*innen oder Geolog*innen, was jedoch die wenigsten von uns sein werden). Unsere alltagsweltlichen Möglichkeiten, Zeiträume zu erfassen, scheinen sich im Laufe des Lebens zu erweitern. Für Kinder, die „Zeit“ als Konzept und Strukturgeber des Lebens erst noch erlernen müssen, sieht Zeit anders aus als für ihre Eltern oder gar die Großeltern. Die Hypothese des Anthropozäns sensibilisiert uns dafür, dass für die Wahrnehmung und Nutzung unserer natürlichen Ressourcen ein Denken in ganz anderen Zeiträumen relevant ist, insbesondere wenn es sich dabei um fossile Ressourcen dreht, die sich nur in geologischen Zeiträumen erneuern (vgl. Görg 2016). Das Anthropozän lehrt uns, unsere Wahrnehmungsfähigkeit und damit unser Bewusstsein für jene Zeit, die in unseren Ressourcen steckt, zu erweitern, also gleichsam unsere Narrative über uns und die Welt an unsere „irdischen Verhältnisse“ (vgl. Zahnen 2015) anzupassen.

Was folgt? Kapitel 2 nimmt unser Verständnis von Wasser und insbesondere das Modell des Wasserkreislaufs in den Fokus und möchte daran zeigen, in welcher Weise unser Blick in die Welt und unser Normalitätsverständnis durch solche Modelle geprägt werden. Die Hypothese des Anthropozäns sowie die damit zusammengefasste globale Veränderungsdynamik erlaubt, ein als sicher angenommenes „Wissen“ zu hinterfragen, unseren Denkrahmen neu zu justieren und eine neue Erzählung zu beginnen, die veränderter Theorien und Modelle bedarf. Kapitel 3 zieht einige mögliche Schlussfolgerungen für die Lehre aus dem Beispiel. Ergänzt wird der Beitrag durch zwei Exkurse, wodurch sich der Text auf dreierlei Wegen lesen lässt: Kapitel 1, 2 und 3 legen den argumentativen Pfad und enden mit möglichen Weisen, das Modell des Wasserkreislaufs im Unterricht umzusetzen (Leseweg 1, gleichsam für Pragmatiker*innen empfohlen). Für jene, die eine erweiterte theoretisch-konzeptionelle Einbettung der Argumentation in die grundlegenderen Fragen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse vorziehen, sei die ergänzende Lektüre von Exkurs 1 „Veränderungen der Mensch-Natur-Verhältnisse im Anthropozän“ empfohlen. Jene Leser*innen, die darüber hinaus auch ein Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen treibt, bietet Exkurs 2 vielleicht einige Anregungen.

Das Anthropozän lernen und lehren

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