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Exkurs 2: Erkenntnistheoretische Fragen im Anthropozän

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Die Hypothese des Anthropozäns verweist auf eine Welt komplexer dynamischer Strukturen, mit selbstorganisierenden und selbstreferenziellen Phänomenen, bei denen wir Menschen als einer von mehreren untrennbar miteinander verflochtenen Treibern hochwirksam sind. Pointiert könnte man sagen, dass unsere traditionellen Sichtweisen von Epistemologie und Ontologie in einer Welt entwickelt wurden, die einfacher und langsamer gewesen zu sein schien. Zumindest hatten wir aufgrund der grundsätzlichen Trennung von Natur|Kultur, Sinn|Materie, Leib|Seele usw. den Eindruck, dass sich unsere Wirklichkeit leichter in Segmente und Einheiten unterteilen ließ, die mithilfe von Spezialwissenschaften losgelöst von allem anderen en detail untersucht werden können. Die grundlegend veränderte Situation im Anthropozän dagegen benötigt andere Zugänge, solche, die Prozesse anstelle von Objekten in den Mittelpunkt stellen (z.B. Whitehead 1987; Sohst 2009), und gleichsam den Blick auf das Dazwischen und nicht auf voneinander getrennte Entitäten richtet. Eine Perspektive also, die weder die Materialität der Welt als unabhängig und losgelöst von uns Menschen, noch uns Menschen als unabhängig und losgelöst von der Materie begreift (vgl. Egner 2017b). Erste Hinweise auf diese grundlegenden Veränderungen unserer Weltsicht gaben die Experimente der Quantenphysik vor knapp 100 Jahren mit dem Befund, dass der Beobachtungskontext die Beobachtung bestimmt und damit wir Menschen mit unserem Bewusstsein immer auch Teil der Experimente sowie Teil unserer Wissenschaft sind. In die Physik ist dieses Wissen mittlerweile integriert – ihr ist bewusst, dass sie nicht mehr beschreibt, was wirklich ist, sondern das beschreibt, was sie über die Natur aussagen kann (vgl. Aspelmeyer 2018).

Auf erkenntnistheoretischer Ebene finden sich bereits Vorschläge für radikal neue Zugänge. Basierend auf quantenphysikalischer Einsicht schlägt beispielsweise Karen Barad „Phänomene“ anstelle von unabhängigen Objekten mit inhärenten Grenzen und Eigenschaften als primäre ontologische Einheit vor (Barad 2007, Barad 2012, Barad 2015). Bei ihrem Konzept des agentiellen Realismus geht es ihr um eine Ontologie, die Verbundenheit als Ausgangspunkt des Denkens nimmt und auf der grundlegenden Annahme aufsetzt, dass „Getrenntsein keine inhärente Eigenschaft der Welt“ sei (Barad 2007, S. 136). Damit begreift Barad sowohl das So-Sein von uns Menschen als auch alle Manifestationen in unserer Welt als ein Ergebnis von „Intra-Aktionen“, im Gegensatz zu „Interaktionen“ zwischen unterschiedlichen Entitäten. Sowohl die Welt als auch das Bewusstsein über die Welt entstehen nur in, durch und aufgrund ihrer wechselseitigen Verschränkung miteinander und nicht durch ihre Trennung. Barads Sichtweise auf die untrennbar verschränkte Verbindung von Bewusstsein und Materie, aus der wir selbst sowie die Welt immer wieder, und immer wieder neu, hervorgehen, erscheint mir für das Denken im Anthropozän als guter Ausgangspunkt.

Das Anthropozän lernen und lehren

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