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Martin Haltrich Die Kontrolle der Wildnis Eine Landschaftszeichnung aus dem 14. Jahrhundert als Vorgeschichte des Anthropozäns

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Am Anfang des 14. Jahrhunderts, so um 1310 oder 1315, beginnen die Zisterziensermönche im Stift Zwettl ein großes Projekt.1 Sie wollen ein Buch verfassen, in dem alle Informationen und Geschichten über ihr Kloster und die Gründerfamilie vereinigt sind. Aber nicht nur das, sie wollen auch alle Dokumente, die Aufzeichnungen über ihren Besitz und ihre Rechte in das Buch übertragen. So können sie das Werk auch für ihre Verwaltung nutzen, denn die Mönche betreiben eine Grundherrschaft, sie bewirtschaften Wiesen und Wälder, besitzen Fisch- und Jagdrechte, haben Schaf- und vielleicht sogar Rinderherden und verarbeiten die landwirtschaftlichen Rohstoffe in eigenen Betrieben, wie etwa Mühlen oder Käsereien. Das alles dient in erster Linie der Versorgung der Klostergemeinschaft, aber die überschüssigen Produkte – das ist meistens Wein – können sie selbst vermarkten, dafür hat ihnen der Landesfürst Höfe in den größeren Städten geschenkt, in denen sie auch von Zöllen und Steuern befreit sind.2

Dieses Buch enthält demnach existentiell wichtige Inhalte und deshalb wird es auch äußerst repräsentativ gestaltet. Die Kalbshäute bzw. die Pergamentblätter werden nur einmal in der Mitte zu Doppelblättern gefaltet, um das größtmögliche Format zu bekommen. Insgesamt sind fast 100 Tierhäute verarbeitet, die beschnitten, liniert und zu einzelnen Lagen zu je fünf Doppelblättern zusammengelegt wurden. So können sie von einem Schreiber in kalligraphisch hochstehender Schrift mit schwarzer und roter Tinte beschrieben werden. Er lässt immer wieder Bereiche für Zeichnungen frei, in denen Personen, Stammbäume oder bedeutende Szenen aus der Stiftsgeschichte dargestellt werden. Wenn der Schreiber fertig ist, können Buchmaler diese Lücken bunt illustrieren. Für dieses Werk, immerhin das „Stifterbuch“ des Klosters, so genannt, weil alle, die dem Kloster etwas gestiftet haben, darin verewigt wurden, werden die besten im Land verfügbaren Illuminatoren engagiert. Die Malerei muss allerdings ziemlich teuer gewesen sein, denn es wird nur eine einzige Seite fertig, jene mit dem Stammbaum der Kuenringer – der Stifterfamilie der Zwettler Zisterze. Zum Schluss werden die Blätter in den Lagen zusammengeheftet und für den prächtigen Einband Lindenholzbretter mit Wildschweinleder überzogen. Zu seinem Schutz werden die Ecken mit verziertem Messingblech beschlagen und auf dem Vorder- und Hinterdeckel jeweils fünf Buckel genagelt, denn in dieser Zeit werden Folianten liegend aufbewahrt.

Aus der Idee der Zwettler Mönche ist eines der berühmtesten Bücher des Spätmittelalters in Zentraleuropa entstanden, der Liber fundatorum Zwetlensis – im Volksmund nach dem erwähnten Einbandüberzug aus dem Fell eines Ebers bzw. Saubären auch „Bärenhaut“ genannt3. Doch warum dieser Aufwand? Und was hat das mit dem Anthropozän zu tun?

Die Basis für die geologisch sichtbare Einwirkung des Menschen im Sinne des Anthropozäns ist unter anderem ihre Einstellung zum Naturraum.4 Diese Vorstellungen beeinflussen seinen Umgang mit der Umwelt und es lohnt, ihnen nachzuspüren. Besonders an kleinräumigen Strukturen können die durch Jahrhunderte geleisteten Arbeiten im und am Naturraum nachvollzogen und jene Prozesse verdeutlicht werden, die von der unberührten Natur oder auch Wildnis zu der vom Menschen gezeichneten Kulturlandschaft führen.5 Mit der „Urbarmachung“ eines Territoriums beginnen permanente menschliche Eingriffe in die Erdoberfläche, die dauerhaft in der Erdkruste gespeichert sein werden und in den „Urbaren“ – den mittelalterlichen Vorläufern der Grundbücher – nachvollzogen werden können. Sie dokumentieren die Nutzung des Bodens und sind gute Quellen für die Reflexion des menschlichen bzw. anthropologischen Einwirkens auf den Planeten.

Was „Urbarmachung“ heißen kann, sehen wir, wenn wir die Bärenhaut auf Blatt 12r aufschlagen. Dort ist eine Grafik in Kreisform, die eine bemerkenswerte Informationsdichte im Hinblick auf unsere Fragestellungen aufweist (Abb. 1). Dargestellt ist der sogenannte Umritt, eine Szene, die am Neujahrstag des Jahres 1138 – einen Tag nach der offiziellen Gründung des Klosters – stattgefunden haben soll. Der Kuenringer Hadmar I. reitet mit Abt Hermann die Güter seiner Stiftung ab. Angeblich sollen sie in Moidrams, heute ein Stadtteil Zwettls und etwa 5 Kilometer vom Stift entfernt, begonnen haben und einen ganzen Tag lang geritten sein.6

Die Zeichnung ist analog zu diesem Umritt aufgebaut und von einem großen Außenkreis umschlossen. Auf den ersten Blick scheint alles recht chaotisch. Da ist allerlei Gekritzel, manche Textblöcke sind schief und teilweise auf den Kopf gestellt eingetragen, einzelne Wörter scheinen ohne Zusammenhang hingeschrieben und lange, wellenförmige Zeilen vermitteln den Eindruck, als ob der Schreiber ohne Linierung den Halt verliert. Alles in allem unübersichtlich und auch skizzenhaft, nichts ist koloriert. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass es sich bei dem Bild um eine sehr präzise Landkarte handelt. In den Kreis sind noch die Himmelsrichtungen der genordeten Karte eingetragen, im Osten steht der Sonnenaufgang und der Mond ist im Westen verortet.

In der Grafik befindet sich das Kloster in der Mitte, umgeben von einigen Gebäuden und innerhalb des Kreises, an den Medaillons angeheftet sind. Links unten ist Papst Innozenz zu sehen, ihm gegenüber oben rechts König Konrad, darunter ebenfalls rechts Herzog Leopold. und wiederum gegenüber oben links die beiden Reitenden Hadmar von Kuenring mit Abt Hermann. Es wird hier gezeigt, dass die Gründung des Stiftes im Rahmen der rechtlichen Vorschriften durchgeführt und somit von den politischen und religiösen Autoritäten des mittelalterlichen Herrschaftssystems gutgeheißen wurde.7

Die zentral dargestellte Stiftskirche ist auf drei Seiten von fünf der Grangien des Stiftes umgeben. So wie das Herrschaftssystem mit seinen angehefteten Autoritäten dargestellt ist, so ist auch das Wirtschaftssystem, dem das Kloster unterliegt, ersichtlich. Die hier gezeichnete Grangienwirtschaft ist ein von den Zisterziensern entwickeltes Wirtschaftskonzept, in dem das Kloster von Höfen – lateinisch grangia für Scheune oder auch Kornhaus – umgeben ist, die innerhalb von einer Stunde Fußweg erreichbar sein sollten.8 Diese Einheiten werden von Laienbrüdern geführt, die nur niedere Weihen haben, in einem eigenen Klostertrakt von den Priestermönchen getrennt wohnen und dem innerklösterlichen Alltag weniger verpflichtet sind.9 Auf der Karte sehen wir den Dürnhof sowie die Grangien Gaisruck, Petzleins, Erleich und den Ratschenhof.

Das Waldviertel war zur Zeit der Gründung des Stiftes keineswegs so unbesiedelt wie man meinen könnte und so sind westlich des Stiftes jene drei Orte verzeichnet, die schon vor dem Kloster existierten.10 Nämlich die Stadt Zwettl, die Pfarrkirche und ein nicht näher bezeichnetes predium, wahrscheinlich die Burg auf dem heutigen Propsteiberg. Außerdem handelt es sich bei Zwettl um keine abgelegene Gegend. Denn wie wir auf der Karte sehen, kommt der Polansteich (für „Steig“) von Südosten her und führt der Pehemsteich im Norden weiter. Diese zwei Straßen sind die beiden Hauptverkehrswege des Waldviertels und sie kreuzen sich in Zwettl.11 Wenn man mit der Gegend vertraut ist, erkennt man in dem als Spruchband gestalteten äußeren Kreis die gesamte Geografie der Gegend wieder. Oben links beginnend in Richtung (Groß-)Gerungs und Gutenbrunn, die ganze Runde bis nach Reichers und am Ende Weißenbach. Vergleicht man diese Angaben mit einer aktuellen Straßenkarte, so wird klar, dass es sich um eine genaue Beschriftung des Wegenetzes handelt.


Abbildung 1: Darstellung des Umritts in der Zwettler „Bärenhaut“ (Stiftsarchiv Zwettl, Hs. 2/1, fol. 12r).

Schlussendlich ist es aber nicht nur eine Straßenkarte, es ist auch andere Infrastruktur, wie Betriebe oder bewirtschaftete Fluren, die in die Grundherrschaft des Stiftes Zwettl fallen, eingezeichnet, angefangen vom Wald in Rabenthan, den Dörfern Salmans oder Gradnitz bis hin zum Klosterwald oder dem Forst in Reinprechtspruck, aber auch Naturerscheinungen wie etwa die Felsen bei Moidrams, wo der Umritt begann. Alle diese Informationen sind sehr genau in die natürlichen Voraussetzungen eingebettet, und dieser Naturraum wird von zwei Spruchbändern durchzogen, die als einzige die Begrenzungen des Kreises durchstoßen. Quer über das ganze Bild fließt der Kamp: Fluvius qui maior Champ dicitur, fluens cum Zwetlensi fluvio iuxta claustrum et contra orientem largiter derivatur, zu deutsch: Ein Fluss, der großer Kamp genannt wird, fließt durch den Fluss Zwettl vergrößert beim Kloster in Richtung Osten vorbei. Das Spruchband des Flusses Zwettl kommt aus dem Norden und mündet genau beim Wort Zwetlensi in das Band des Kamps, an dem das Wort Zwettl steht (Abb. 2). Das ist einzigartig, genauso wie die gesamte Karte.


Abbildung 2: Das Detail zeigt die Mündung der Zwettl in den Kamp, dargestellt als zwei Spruchbänder in der Umrittsdarstellung der Bärenhaut (Stiftsarchiv Zwettl, Hs. 2/1, fol. 12r – Ausschnitt).

Als diese Grafik Anfang des 14. Jahrhunderts in die Bärenhaut gezeichnet wurde, existierte das 1138 gegründete Stift Zwettl schon fast 200 Jahre lang. Warum überlegte man sich gerade zu dieser Zeit so ein Projekt? Was wird hier eigentlich vermittelt, und wer soll damit angesprochen werden?

Gehen wir einen Schritt zurück. Das Stift Zwettl wurde auf einer Halbinsel in einer Schlinge des Kamps gegründet. Der Fluss entspringt im Weinsberger Wald und mündet nach 153 Kilometern Flusslänge im Tullnerfeld in die Donau. Schon der keltische Name ist einer der ältesten Sprachtermini der Region und bedeutet „krumm“ bzw. Krümmung.12 Er weist auf die ersten noch vorrömischen Besiedlungen der Gegend des silva nortica oder „Nordwaldes“ hin, eines Urwalds, der zuerst von slavischen Gruppen besiedelt war und ab dem 11. Jahrhundert sukzessive unter die Kontrolle der Babenberger gebracht wurde. Zuständig für die Inbesitznahme und Kolonisierung dieses Gebietes waren die Kuenringer, die als Dienstleute der landesfürstlichen Babenberger das gesamte Territorium entlang dieses Flusses erschlossen.13

Die Zisterzienser übernahmen im 12. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Umwandlung der Natur- in eine Kulturlandschaft.14 Sie sind ein Reformorden der Benediktiner, die schon im Frühmittelalter mit ihren Reichsklöstern eine wesentliche Stütze des karolingischen Herrschaftssystems darstellten und in ihrer langen Kontinuität das gesamte europäische Mittelalter prägten. Benediktinerklöster sind – zumindest theoretisch – Institutionen, die in kultivierten Gegenden, meistens an beherrschender Stelle auf Hügeln gelegen, wie z.B. Melk und Göttweig, geistige Zentren bildeten und maßgeblich für das religiöse und kulturelle Leben des Mittelalters waren. Auf Basis der Bibeltexte adaptierten bzw. rechtfertigten die Mönchsorden die jeweiligen gesellschaftspolitischen Umsetzungen in der „Zähmung der Wildnis“, der Unterwerfung der Natur unter die Bedürfnisse des Menschen.15 Diese Texte werden von den frühmittelalterlichen Kirchenvätern vertieft gedeutet und weiterentwickelt. Die gebildeten Kleriker kennen sie fast auswendig, arbeiteten auch mit der Naturgeschichte des Plinius, dem Kräuterbuch des Dioscurides oder den Tierbeschreibungen des Physiologus.16 Sie lieferten die meist heilsgeschichtlich ausgerichteten Konzepte für den Umgang mit dem Lebensraum. Dahinter steht die Christianisierung Europas, in der sukzessive die Natur entmystifiziert bzw. entzaubert und damit unter Kontrolle gebracht werden soll. Die nötige Organisationskompetenz für Kolonisierung und Urbarmachung der Territorien kommt weitgehend von den alten Orden, die mit ihrem Bildungsmonopol antikes Wissen in ihre Theologie integrieren und diese Denkgebäude mit praktischen Erfahrungen zu einem Organisationswissen formen. Unser westliches naturwissenschaftlich-technisches Verständnis des Planeten nimmt hier seinen Ausgang. Ein bedeutendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist der St. Gallener Klosterplan aus dem beginnenden 9. Jahrhundert, in dem das Kloster eine eigene, nach außen abgeschlossene Welt ist.17 Diese klösterlichen Institutionen mit ihren Gelehrten und ihrer auf religiösen Vorstellungen basierenden zeitweiligen Deutungshoheit waren federführend in der Tradierung und Weiterentwicklung von Konzepten für den Umgang mit der Natur. Ihre Ideen werden in der Bearbeitung der Landschaft umgesetzt.18

Besonders gut nachvollziehbar sind die normativen Konstrukte der Zisterzienser, die es als Aufgabe sahen, zurück in die Natur zu gehen, dorthin wo es entlegen, unwirtlich und karg war, wo keine Zivilisation herrschte. Ein halbes Jahrtausend nachdem der Ordensgründer Benedikt sein Regelwerk verfasst hatte, fokussierten sich die Zisterzienser wieder auf Askese, Bildung und körperliche Arbeit. Sie betrachteten ihr Kloster als eine arbeitsteilig organisierte Gemeinschaft, die sich in einer Art Subsistenzwirtschaft von der äußeren Welt und ihren Einflüssen unabhängig versorgen kann. Die „Weißen Mönche“ wollten der unfruchtbaren, ungezähmten Natur unter größter Anstrengung ihre Früchte abtrotzen. Berühmt ist die Passage aus den 1134 festgeschriebenen Regeln des Generalkapitels: In Städten, Befestigungen oder Dörfern ist keines unserer Klöster anzulegen, sondern fern vom Verkehr der Menschen, in abgelegenen Orten.19

Diese Ideen kommen aus Frankreich und sind am Puls der Zeit, und das französische Kloster Clairvaux ist auch Vorbild für Zwettl.20 Die Kuenringer, die als Ministerialen der landesfürstlichen Babenberger für die Kolonisierung der kargen Gegend nördlich der Donau zuständig waren, holen diese hochgebildeten und asketischen Männer von Heiligenkreuz im Wienerwald ins heutige Waldviertel an den Kamp.21 Die Geistlichen siedeln auf einer Halbinsel in einer Schlinge des Kamps ihr Kloster an und beginnen die Arbeit am bzw. mit dem Fluss. Eine erste Brücke wird geschlagen und seine Strömung über Jahrhunderte für den Antrieb von land- und forstwirtschaftlichen Verarbeitungsbetrieben, zum Abtransport von Abfällen und schlussendlich zum Betrieb des ersten Elektrizitätswerkes im Waldviertel genutzt. Mittlerweile ist der Kamp mit Wasserkraftwerken weitgehend ausgebaut.

Der Beginn dieses Ausbaus zur sogenannten Kulturlandschaft der ersten Gründergeneration ist heute noch sichtbar und Architektur von damals wird immer noch genutzt. Wir können heute noch über die alte Brücke mit dem Auto den Fluss überqueren, der Mühlkanal für den Antrieb der noch gar nicht so lange verschwundenen Wasserräder ist noch vollständig erhalten ebenso wie das romanische Kloster mit Kapitelsaal, Kreuzgang und Necessarium, der über dem Kamp errichteten Latrinenanlage – die eigenwilligste Touristenattraktion des Zisterzienserstiftes Zwettl.22

Aber nochmal zurück ins 14. Jahrhundert, als die eben beschriebene Anlage schon gute 150 Jahre in Betrieb war. Im Jahr 1304 verkauft der Konvent des Stiftes Zwettl seinen Hof in Wien. Er stand ziemlich genau an der Stelle, an der heute der Südturm des Stephansdoms steht, und musste der Erweiterung des Domes weichen. Als Ersatz wird ein anderes Haus direkt daneben gekauft, denn ein Stadthof ist eine wichtige Drehscheibe für die Pflege des Netzwerks der Zwettler Mönche im Herrschaftszentrum Wien. Die Ressourcen in ihrer Umgebung sind nicht ausreichend für große Erweiterungen und so müssen sie neue Mittel herholen. Zum Beispiel stiftete 1274 die Wiener Familie der Paltrame einen Karner im Stift, in dem die Gebeine der im Kloster Begrabenen aufbewahrt werden können.23

Zur Pflege des Netzwerks ist es wichtig, die politischen Verbindungen zu verstehen, und das ist um das Jahr 1300 nicht leicht. Die Babenberger sind längst ausgestorben und König Ottokar von Böhmen hatte eine Generation lang als Landesfürst im Herzogtum Österreich regiert. Die Paltrame waren seine Gefolgsleute, genauso wie die Kuenringer, und auch der Konvent von Zwettl hatte enge Verbindungen zu Böhmen. Seit 1278 sind die Habsburger Landesherren und alle Allianzen müssen neu erarbeitet werden. Die einst mächtigen Kuenringer müssen sich neu positionieren und wollen auch in Wien Fuß fassen. Ihre zentrale symbolische Ressource ist das von ihnen gegründete Zisterzienserstift, und vielleicht ist der oben erwähnte Verkauf des Hofes an den Habsburger Herzog Albrecht der Beginn eines neuen Deals. Man könnte folglich darüber nachdenken, ob sich die Kuenringer auch mit dem Stifterbuch der Zwettler Mönche als altehrwürdiges Geschlecht vor den neuen habsburgischen Landesfürsten präsentieren wollten. Ein Argument dafür wäre der prunkvolle Stammbaum in der Bärenhaut, der höchstwahrscheinlich in der Wiener Gegend gemalt wurde – zumindest ist die Buchmalereiwerkstatt auch in Klosterneuburg nachweisbar.24

Aber auch unsere vorher beschriebene Landkarte würde diesem Repräsentationswillen entsprechen, indem sie die Hauptkompetenz der Familie präsentiert: die professionelle Zivilisierung des Nordwaldes, die von den verlässlichen Kuenringern mit ihrem Familienkloster erfolgreich abgewickelt wurde und zwar auf allen Ebenen – hinsichtlich der Religion, der Verwaltung, der Bildung und der Wirtschaft. Die Kuenringer haben eine der wildesten Gegenden des Herzogtums unterworfen und entmystifiziert. Das ist die Geschichte in der Bärenhaut. Und so ist es auch kein Zufall, dass in dieser Prachthandschrift zum ersten Mal die Gründungslegende des Stiftes auftaucht, also ein eigener Mythos ins Spiel kommt: Es heißt dort, dass dem Stifter Hadmar I. von Kuenring im Traum die Gottesmutter erschienen sei und ihm eine grünende Eiche im winterlichen Wald zeigte. Der Mönch Hermann, der als erster Abt dem Konvent vorstehen sollte, hatte den gleichen Traum. Und tatsächlich sollen die beiden diesen prophezeiten Baum dort gefunden haben, wo heute das Kloster steht.25 Die Botschaft an die Leute im Herrschaftszentrum ist, dass dort, wo noch vor gar nicht so langer Zeit göttliche Erscheinungen und unerklärliche Naturerscheinungen stattgefunden haben, Zivilisation und damit Sicherheit für mögliche Investitionen herrscht. Und die brauchen die Mönche, um ihre Pläne für die Vergrößerung ihres Klosters umzusetzen und vor allem, um eine größere Kirche zu bauen. Die theoretischen Konzepte für die Bewirtschaftung der kargen, asketischen Gegend funktionieren zwar, werfen aber nicht genug Mittel für die Bauvorhaben ab. Die Kuenringer machen also Werbung für Investitionen in Zwettl bei den Wiener Bürgern. Das ist die eine Variante. Die andere ist, dass die Mönche sehen, dass ihre Gründerfamilie sie nicht mehr erhalten kann und reiche Wiener Bürger als Investoren nach Zwettl locken wollen.26 Die Strategie ist erfolgreich, denn es entschließen sich einige Mitglieder von Wiener Familien, in das Kloster einzutreten, so viele, dass ein neues Dormitorium (Schlafsaal) für 64 Mönche gebaut und schließlich 1343 mit dem Bau einer gotischen Kirche in für die Gegend enormen Ausmaßen begonnen werden kann.27

Der Ausgang der Geschichte ist schnell erzählt. Fünf Jahre nach Baubeginn der großen Kirche ist das Pestjahr 1348, die Arbeiten kommen zum Erliegen. Zwar wird die Kirche unter größten Anstrengungen fertig gebaut, aber das Stift kann sich bis zum Ende des Mittelalters wirtschaftlich nicht mehr von dem Großprojekt erholen. Die Kuenringer versinken in der Bedeutungslosigkeit und werden am Ende von der Propaganda zu Raubrittern gemacht und geächtet.

Erst Mitte des 17. Jahrhunderts wird diese Geschichte von Abt Bernhard Linck wieder erforscht28. Er reitet mit seinem Amtmann den Umritt nach und lässt die Gegend von einem bedeutenden Kartographen in Kupfer stechen (Abb. 3). Auf dieser Zeichnung sehen wir eine voll entwickelte Kulturlandschaft mit bewirtschafteten Fluren, Gutshöfen, Fischteichen und einem Straßennetz. Im Zentrum dominiert dabei nicht mehr das Kloster, sondern der Kamp mit seinen Zuflüssen. Es ist nur mehr wenig Wald sichtbar und der ist fein säuberlich in Forsten kultiviert. Alles ist umschlossen von einem Kreis, den wir aus der Bärenhaut kennen und der am ehesten an die Projektierungen der vor Kurzem umgesetzten Zwettler Schnellstraßenumfahrung erinnert.

Die beschriebenen Einwirkungen des Menschen sind in der Erdkruste nachvollziehbar und gespeichert. Aber nicht nur dort, sondern auch in den Aufzeichnungen der handelnden Menschen sind sie dokumentiert. Die Archive und Bibliotheken sind voll von Material, das – ähnlich wie die geologisch „eingeschriebenen“ Informationen – im Hinblick auf das Anthropozän neu ausgewertet werden kann. Beiden Dokumentationen ist gemeinsam, dass sie uns eine Entwicklung im Sinne von Ursache und Wirkung nachzeichnen lassen. Der Unterschied zwischen beiden Wissensspeichern liegt vielleicht in den ideengeschichtlichen Informationen über die Vorstellungswelten und Motivationen, die aus den schriftlichen Quellen in den Archiven gelesen werden können. In der Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Interventionen in den Naturraum erlangen wir eine Vorstellung von den Auswirkungen. Im Bildungsbereich ist es umso wichtiger, diese Ursprünge freizulegen und die Motivation für Umwelthandeln zu verstehen und ihre Nützlichkeit zu reflektieren.


Abbildung 3: Darstellung des Umritts in den Annalen des Bernhard Linck aus dem Jahr 1670 (Stiftsarchiv Zwettl, Plansammlung, Nr. 11).

Die Auswirkung von menschlichem Handeln auf den Planeten Erde hat in unserer Generation ein Ausmaß erreicht, das mittlerweile als Bedrohung für nahezu alle Lebensformen gesehen werden kann. Was neu erscheint und im Diskurs des Anthropozäns bearbeitet werden kann, ist die Umkehr dieser Bedrohung. Nicht mehr die Naturgewalt beherrscht die Menschen, sondern der Mensch scheint seine Umwelt soweit kultiviert zu haben, dass sie wiederum unbeherrschbar und damit ähnlich bedrohlich erscheint wie die undurchdringlichen Urwälder des Nordwaldes im Mittelalter. Ob eine Marienerscheinung hilft, ist hier allerdings fraglich.

1 Einführend zu den Zisterziensern: Die Lebenswelt der Zisterzienser. Neue Studien zur Geschichte eines europäischen Ordens, hg. von Immo Eberl und Joachim Werz, Regensburg 2019; Die Zisterzienser im Mittelalter, hg. von Georg Mölich, Norbert Nußbaum und Harald Wolte-von dem Knesebeck, Köln-Weimar-Wien 2017. Zum Zisterzienserstift Zwettl Martin Haltrich, Illustrierte Kulturgeschichte des Stiftes Zwettl. Menschen, Bauten, Dokumente (Zwettler Zeitzeichen 16), Zwettl 2016. Mit ausführlichem Literaturverzeichnis auf S. 87–91.

2 Zur Wirtschaftsgeschichte der Zisterzienser Werner Rösener, Die Agrarwirtschaft der Zisterzienser. Innovation und Anpassung, in: Norm und Realität. Kontinuität und Wandel der Zisterzienser im Mittelalter, hg. von Franz Felten und Werner Rösener (Vita regularis, Abhandlungen 42), Berlin 2009, S. 67–95; Ernst Tremp, Mönche als Pioniere. Die Zisterzienser im Mittelalter, Näfels 1997. Vgl. auch Detailstudien zu einzelnen Klöstern, u.a. Maria M. Rückert, Grundherrschaft und Klosterwirtschaft im mittelalterlichen Zisterzienserkloster Schöntal, in: Die Zisterzienser (wie Anm. 1), S. 283–301; Werner Rösener, Von der Eigenwirtschaft zum Pachtund Rentensystem. Der wirtschaftliche Strukturwandel in den niederrheinischen Zisterzienserklöstern während des Hoch- und Spätmittelalters, in: Die niederrheinischen Zisterzienser im späten Mittelalter. Reformbemühungen, Wirtschaft und Kultur, hg. von Raymund Kottje, Köln 1992, S. 21–47; Winfried Schich, Der Handel der rheinischen Zisterzienserklöster und die Einrichtung ihrer Stadthöfe im 12. und 13. Jahrhundert, in: Kottje (s.o.), S. 49–73.

3 Die Handschrift ist online frei verfügbar unter http://manuscripta.at/?ID=35889 (Zugriff am 8.4.2020); Joachim Rössl, Kommentar vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift 2/1 des Stiftsarchivs Zwettl (Codices Selecti 73), Graz 1981; Karl Brunner, Die Zwettler „Bärenhaut“. Versuch einer Einordnung, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von Hans Patze (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 647–662; Joachim Rössl, Die Zwettler „Bärenhaut“, nochmals als exemplarischer Beleg, in: Geschichtsschreibung (wie oben), S. 663–680.

4 Aktuelle Informationen zur Kulturlandschaftsforschung bzw. die Umweltgeschichte sowie Materialien für den Schulunterricht beim Zentrum für Umweltgeschichte https://boku.ac.at/zentrum-fuer-umweltgeschichte (Zugriff am 10.4.2020). Vgl. Verena Winiwarter, Martin Knoll, Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln-Weimar-Wien 2007; Christoph Sonnlechner, Kulturlandschaftsforschung. Methodische Betrachtungen aus umweltgeschichtlicher Perspektive, in Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 25 (2009), S. 187–202; Ders., Landschaft und Tradition. Aspekte einer Umweltgeschichte des Mittelalters, in: Text, Schrift, Codex, hg. von Christoph Egger und Herwig Weigl (MIÖG, Erg.Bd. 35), Wien-München 2000, S. 123–223; Wirtschaft und Kulturlandschaft. Gesammelte Beiträge 1977 bis 1999 zur Geschichte der Zisterzienser und der „Germania Slavica“, bearb. und hrsg. von Ralf Gebuhr und Peter Neumeister, Berlin 2007; Winfried Schich (Hg.), Zisterziensische Wirtschaft und Kulturlandschaft. Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser Bd. 3, Berlin 1998.

5 Karl Brunner, Geschichte und „Natur“ am Beispiel des Mittelalters, in: Ders., Umgang mit Geschichte. Gesammelte Aufsätze zu Wissenschaftstheorie, Kultur- und Umweltgeschichte (MIÖG, Erg.Bd. 54), Wien-München 2009, S. 229–243.

6 Zur Gründung des Stiftes Zwettl und den Kuenringern vgl. Andreas Kusternig und Max Weltin, Kuenringer-Forschungen, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, NF 46/47 (1981); Die Kuenringer. Das Werden des Landes Niederösterreich. Niederösterreichische Landesausstellung, Stift Zwettl, 16. Mai – 26. Oktober 1981 (Katalog des Nö Landesmuseums; N.F. 110), Wien 1981.

7 Karl Ubl, Politische Ordnungsvorstellungen, in: Enzyklopädie des Mittelalters, Bd. 1, hg. von Gert Melville und Martial Staub, Darmstadt 2013, S. 9–41.

8 Enno Bünz, Artikel „Grangie“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (2011), Bd. 2, Sp. 527–529; Christian Stadelmaier, Zwischen Gebet und Pflug. Das Grangienwesen des Zisterzienserklosters Tennenbach, Freiburg-München 2014.

9 Guido Gassmann, Konversen der Zisterzienser. Eine sozial-, wirtschafts- und frömmigkeitsgeschichtliche Betrachtung anhand der neun Männerabteien auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, in: Die Zisterzienser (wie Anm. 1), S. 255–269. In der Stiftsbibliothek Zwettl ist mit Cod. 129 auch eine deutschsprachige Regel für Laienbrüder aus dem frühen 14. Jahrhundert erhalten, vgl. https://manuscripta.at/?ID=31740 und als Faksimile-Ausgabe bearbeitet von Charlotte Ziegler, Die Konversenregel Codex 129 des Stiftes Zwettl (Scriptorium ordinis Cisterciensium monasterii BMV in Zwettl 7), Zwettl 2005.

10 Zur Siedlungsgeschichte und den natürlichen Voraussetzungen vgl. Die Kuenringer (wie Anm. 6), S. 505–536; Markus Cerman, Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im Waldviertel bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, hg. von Herbert Knittler, Horn 2006, S. 1–76; Hans Krawarik, Frühe Siedlungsprozesse im Waldviertel, in: Das Waldviertel 50 (2001), S. 229–261; Christoph Sonnlechner, Umweltgeschichte und Siedlungsgeschichte. Methodische Anmerkungen zu Hans Krawariks „Frühe Siedlungsprozesse im Waldviertel“, in: Das Waldviertel 50 (2001), S. 158–173; Erdgeschichte des Waldviertels, hg. von Fritz F. Steininger, Horn-Waidhofen/Thaya 1999.

11 Peter Csendes: Die Straßen Niederösterreichs im Früh- und Hochmittelalter, Phil. Diss., Wien, 1969.

12 Werner Gamerith, Kamptal. Die Natur einer Kulturlandschaft, Horn 2012.

13 Markus Cerman, Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im Waldviertel bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, hg. von Herbert Knittler, WHB: Horn-Waidhofen/Thaya 2006, S. 1–75.

14 Allgemein zur Kultur der Klöster vgl. Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster, München 2012. Siehe auch die Beiträge im Sammelband: Landschaften. Begriffe, Formen, Implikationen, hg. von Franz J. Felten, Harald Müller und Heidrun Ochs (Geschichtliche Landeskunde, Band 69), Stuttgart 2012.

15 Rainer Berndt, Matthias M. Tischler, Arikel Bibel, in: Enzyklopädie des Mittelalters (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 337–340; Karl Brunner, Anfänge einer Naturwissenschaft im 12. Jahrhundert, in: Ders., Umgang (wie Anm. 5), S. 215–228.

16 Jürgen Sarnowsky, Artikel „Naturkunde“, in: Enzyklopädie des Mittelalters (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 388–390.

17 Online unter www.stgallplan.org (Zugriff am 12.4.20) und auch bei Barbara Schedl, Der Plan von St. Gallen. Ein Modell europäischer Klosterkultur, Wien-Köln-Weimar 2014.

18 Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012, darin das Kapitel „Kultur-Landschaften“, S. 216–247.

19 Vgl. Die Kuenringer (wie Anm. 6), S. 142.

20 James L. Smith, Water in Medieval Intellectual Culture. Case-Studies from Twelth-Century Monasticism (Cursor Mundi 30), Turnhout 2017, p. 143–175 nach der Descriptio positionis seu situationis monasterii Claraevallensis in: Jacques-Paul Migne, Patrologiae cursus completus SL 185 (Paris 1860) col. 569–574.

21 Details zum Gründungsprozess in Die Kuenringer (vgl. Anm. 6), S. 161–173.

22 Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 9–16.

23 Karl Lechner, Das Stift Zwettl und seine Beziehungen zur Stadt Wien, in: Festschrift 800-Jahrgedächtnis des Todes Bernhards von Clairvaux, Wien-München 1953, S. 211–231.

24 Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 39f., 43.

25 Peter Kneissl, Gründungslegenden Österreichischer Klöster, St. Peter-Freienstein, S. 94.

26 Zu den sozialen Räumen der hochmittelalterlichen Klöster in der Umgebung von Wien vgl. Christina Lutter, Locus horroris et vastae solitudinis? Zisterzienser und Zisterzienserinnen rund um Wien, in: Historisches Jahrbuch 132 (2012), S. 141–176; Herbert Krammer, Die Zisterzienserinnen von St. Niklas im 14. Jahrhundert. Soziales Beziehungsnetz, Stiftungspraxis und Klosterökonomie, Universität Wien (Masterarbeit) 2017.

27 Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 39–51.

28 Abt Johann (Malachias) Bernhard Linck (1606–1671) war auch Historiograph und hat das Geschichtsbild des mittelalterlichen Zwettl bis heute maßgeblich geprägt, vgl. Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 65f.

Das Anthropozän lernen und lehren

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