Читать книгу Das Anthropozän lernen und lehren - Группа авторов - Страница 27

Mensch-Umwelt-Beziehungen und das Anthropozän in der Anthropologie

Оглавление

Die Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen und der natürlichen Umwelt ist seit der Herausbildung der Anthropologie eines der Kernthemen des Faches (Dove & Carpenter 2009). Die Debatte über die Rolle der physischen und sozialen Dimensionen in der conditio humana zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Anthropologie. Während umweltanthropologische Analysen lange mit den Kategorien Mensch/Umwelt, Kultur/Natur operierten, wurden sie und ihre Gegenüberstellung im Zuge postmoderner und konstruktivistischer Kritik der 1980/1990er-Jahre hinterfragt (Descola & Pálsson 1996). Die akademische Kategorie einer objektiv erfassbaren, vom Menschen getrennten Umwelt wurde „entnaturalisiert“ und als ein kulturelles Konstrukt westlichen Denkens dekonstruiert (Milton 1996): „what we consider to be truth about the natural world is not inherently found in nature, but is a product of our own cultural frameworks” (Gibson & Venkanteswar 2015: 8). Ethnographische Forschung zeigte auf, dass das Verständnis von Natur und Gesellschaft als zwei ontologisch unterschiedliche Bereiche nicht universell ist, sondern historisch und bestimmten Gesellschaften entsprungen ist (Descola & Pálsson 1996). Diese Kritik der Natur-Kultur-Dichotomie hatte jedoch nur begrenzten Einfluss auf die Naturwissenschaften und verblieb weitgehend eine interne Debatte der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Diese Diskussion gewinnt nun mit dem Begriff Anthropozän an Relevanz und wird aktualisiert, auch außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften. Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän nicht (nur) eine geologische Tatsache, sondern auch ein Konzept, das unser Verständnis von Natur und Gesellschaft und deren Verhältnis sowohl reflektiert als auch beeinflusst (Kersten 2013). Als solches stellt das Anthropozän einerseits eine „opportunity to break down Westernized dichotomies of culture/nature“ dar (Gibson & Venkateswar 2015: 11). Die theoretische Konsequenz der Benennung der derzeitigen geologischen Epoche als „Anthropozän“ ist die Anerkennung, dass Natur nicht mehr ohne den Menschen verstanden werden kann: „In the Anthropocene, nature is no longer what conventional science imagined it to be” (Haraway et al. 2016: 535). Den Menschen als die unsere Epoche definierende „Naturgewalt“ anzuerkennen, impliziert die Verwischung der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft (Chua & Fair 2019).

Andererseits kann das Konzept Anthropozän durch den Fokus auf Anthropos auch ebendiese Dichotomie verfestigen: „The underlying implications of the name ‘Anthropocene’ is reflective of the self-appointed dominant place humans hold above all other life on Earth” (Gibson & Venkateswar 2015: 6). Das Konzept Anthropozän situiert den Menschen als die definierende Kraft dieser geologischen Epoche: „the very idea of the Anthropocene places the ‘human agency’ […] smack in the center of attention“ (Latour 2017: 37). Ein einseitiger Fokus auf Anthropos läuft jedoch die Gefahr, andere Spezien und deren Rolle in der Gestaltung der Erde zu ignorieren (Haraway et al. 2016: 539). In der Anthropologie inspiriert die kritische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän unter anderem sogenannte „more-than-human“ und „multispecies“ Ethnographien, die versuchen, nicht-menschliche Entitäten in die Studie des menschlichen Handelns miteinzubeziehen (Kirksey & Helmreich 2010). AnthropologInnen betonen des Weiteren dass menschliches Handeln nicht undifferenziert und universell ist. Unterschiedliche Lebensformen bringen unterschiedliche Mensch-Umwelt-Beziehungen hervor. Die „Naturgewalt“ Anthropos ist demnach keine einheitliche Entität, sondern bestimmte menschliche Konfigurationen tragen die Verantwortlichkeit für die ökologischen Krisen des Anthropozäns. Dies wirft die Frage der Verantwortung, der Responsibility, auf, aber auch die der Response ability (Haraway 2015): Welche menschlichen Lebensweisen produzieren das Anthropozän, welche leiden darunter, und wie können Menschen mit Umweltveränderungen umgehen? Haraway (2015) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „Kapitalozän“ treffender wäre, da er impliziert, dass nicht alle Gesellschaftsformen, sondern hauptsächlich das kapitalistische System die Natur nachhaltig modifiziert. Diese Perspektiven betonen, dass das Anthropozän ein Resultat historischer und globaler Ungleichheiten ist (Chua & Fair 2019) und dass Anthropos kein passiver Akteur, sondern ein moralisches und politisches Wesen ist, das für seine Handlungen Verantwortung trägt (Latour 2017: 39).

Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän also ein paradoxes Konzept, das sowohl dem Menschen eine dominante Rolle gegenüber der Umwelt zuschreibt und somit den Menschen konzeptuell von der Natur abgrenzt, als auch die Möglichkeit birgt, ebendiese konzeptuelle Trennung zwischen Gesellschaft und Natur aufzulösen.

Das Anthropozän lernen und lehren

Подняться наверх