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Carmen Sippl In medias res
– oder: Ins kalte Wasser springen
ОглавлениеDer Titel dieses Bandes, „Das Anthropozän lernen und lehren“, suggeriert die Vorannahme, das Anthropozän sei ein Fach, dessen fachwissenschaftliche Inhalte zu lernen und fachdidaktisch aufbereitet zu lehren sind. Als (noch nicht fixierte) Bezeichnung eines Erdzeitalters wäre das Anthropozän Thema der Geologie bzw. der Erdsystemwissenschaften – die es in der Schule allenfalls als fragmentiertes Teilwissen in MINT-Fächern gibt. Als „kulturelles Konzept“ (Trischler 2016, S. 270) – schließlich geht es um den Menschen (‚anthropos‘) als „geologischen Faktor“ (ebd., S. 269) und die nachhaltigen Spuren, die er im Erdsystem hinterlässt – wäre das Anthropozän in der Kulturellen Bildung zu verorten. Aber diese ist kein Schulfach; sie ist vielmehr den künstlerisch-ästhetisch-kreativen (also vermeintlich entbehrlichen) Gegenständen wie Bildnerische und Musikerziehung, Technisches und Textiles Werken zuzuordnen bzw. Unverbindlichen Übungen wie Darstellendes Spiel, Bildnerisches und Musikalisches Gestalten und mit etwas Glück und Verstand auch dem Deutsch-, Geschichts- und Religions- bzw. Ethikunterricht mit ihren jeweiligen Narrativen.
Das Anthropozän aber, so Eva Horn, Kulturwissenschaftlerin und Begründerin des Vienna Anthropocene Network, ist „eine Gegenwartsdiagnose“ und „eine ethische Herausforderung“: „Es geht darum, unser Verhältnis zur Welt neu zu denken.“ (Horn 2019a, S. 12f.) Dies betrifft insbesondere das Verhältnis von Natur und Kultur – denn die massiven Eingriffe des Menschen in das Erdsystem und das Erreichen von Kipppunkten machen dieses Neudenken und ein entsprechendes Handeln notwendig. Das Anthropozän als „Brückenkonzept und Querschnittsaufgabe“ (Dürbeck 2015, S. 107) fordert daher Natur- ebenso wie Kultur- und Geisteswissenschaften dazu heraus, in einen bislang ungewohnten Dialog zu treten. „Anthropozän-Wissenschaften zu betreiben“, betont Reinhold Leinfelder, Geologe und Mitglied der Anthropocene Working Group, „bedeutet also insbesondere die umfassende Verschränkung von Natur-, Kultur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, um gemeinsam die Interaktion zwischen belebter und unbelebter sowie zwischen natürlicher, kulturell-technischer und sozialer Umwelt zu erforschen.“ (Leinfelder 2015, S. 259)
Aber wie kann interdisziplinär generiertes Wissen in sektorale Bildungssysteme Eingang finden? Gerald Bast plädiert dafür, dass die „Veränderungen der Bildungssysteme und der Bildungsrealität […] in ihrer Radikalität der Radikalität der gesellschaftlichen, klimatischen und technologischen Veränderungen entsprechen“ müssten (Bast 2020, S. 380f.). Die Wechselwirkung von Mensch und Natur hat durch die erkennbaren Folgen etwa von Klimawandel und Artensterben eine Aktualität gewonnen, die für hoch-/schulische Bildung von zentraler Bedeutung ist. Dabei ist das Anthropozän „nicht als Konkurrenz, sondern als verbindende, integrative Ergänzung zu existierenden Fächern“ zu sehen (Leinfelder, in diesem Band, S. 27). Es gilt also, das Anthropozän als Denkrahmen für Bildungsprozesse zu nutzen, die ein transformatives Potenzial entfalten können.
Diese Aufgabe hat sich das Forschungs- und Entwicklungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich „Das Anthropozän lernen und lehren“ gestellt, gefördert von der Abteilung Wissenschaft und Forschung der NÖ Landesregierung.1 Leitend für die Projektpartner2 sind dabei die Fragen: Wie kann die Mensch-Natur-Beziehung zukunftsorientiert neu gestaltet werden? Welche aktiven Lernprozesse können dafür notwendiges Wissen generieren und zu Zukunftsverantwortlichkeit und Gestaltungskompetenz befähigen? Im Lernraum Hoch-/Schule, so die Prämisse, bietet die fächerübergreifende und fächerverbindende Auseinandersetzung mit der Mensch-Natur-Beziehung im Kontext der Dimensionen Zeit und Raum die Möglichkeit, das Anthropozän als Reflexionsbegriff im Sinne transformativer Bildung zu nutzen. Denn transformatives Lernen sieht „erfolgreiche Lernprozesse dann, wenn sich die grundlegenden Muster, die dem menschlichen Wahrnehmen und Interpretieren zugrunde liegen, verändern“ (Singer-Brodowski 2016, S. 134).
Wie kann das Anthropozän gelernt und gelehrt werden? Wir haben Fachwissenschaftler/innen und Fachdidaktiker/innen eingeladen, ihre Ideen, Projekte, Zugänge, Visionen dazu vorzustellen und miteinander zu diskutieren. Die Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 verhinderten einen persönlichen Austausch beim geplanten Symposium am Campus Baden der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich. Der vorliegende Sammelband versteht sich daher als Agora, auf der verschiedene Sichtweisen zur Aushandlung kommen. Die Autorinnen und Autoren haben die Herausforderung interdisziplinären Denkens angenommen.3 Als verbindendes Element haben wir uns das Thema Wasser gewählt, inspiriert durch den Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme und seine Feststellung (1988, S. 12f.):
Es gibt kein Gefühl, keine Kunst, kein Sprechen, kein Handeln, keine gesellschaftliche Einrichtung, keinen Raum auf dieser Erde, der nicht materiell oder symbolisch, direkt oder indirekt mit dem Wasser zu tun hat.
Viele der in diesem Sammelband vereinten Perspektiven richten daher den Blick auf das Thema Wasser, stellvertretend für das Neudenken des Verhältnisses von Natur und Kultur im Anthropozän, wie es auch der Aktionsplan für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen für die Wasser-Aktions-Dekade 2018–2028 fokussiert.4
Reinhold Leinfelder eröffnet den Band mit einer fachlichen Klärung des Anthropozän-Konzepts – „mit offenem Blick in die Zukunft der Bildung“. Er gewährt damit den ersten grundlegenden Einblick in das Themenfeld und den mit ihm verbundenen Bildungsauftrag.
Teil I führt davon ausgehend verschiedene fachliche Perspektiven – global und lokal – auf das Thema Wasser im Anthropozän zusammen: aus Sicht der Humangeographie (Heike Egner), der Kulturgeschichte (Martin Haltrich), der Gewässernamenkunde (Georg Holzer), der Kultur- und Sozialanthropologie (Alexandra Meyer), der Wasserwirtschaft (Roman Neunteufel; Alexander Pressl, Florian Kretschmer, Günter Langergraber), der (Schöpfungs-) Geschichte (Christine Schörg), der Meeresbiologie (Branko Velimirov), der Geologie (Michael Wagreich). Die Beiträge bringen historische Quellen, empirische Fakten, globale und lokale Beispiele zum Sprechen – und geben in ihrer Vielfalt einen Eindruck von dem Facettenreichtum fachlichen Wissens, dessen interdisziplinäre Erforschung Gegenstand der Anthropozän-Wissenschaften ist.
Erwin Rauscher entwickelt den von Reinhold Leinfelder geprägten inklusiven Begriff der ‚Unswelt‘ (anstelle des exklusiven Begriffs der ‚Umwelt‘) weiter zur ‚Wirwelt‘: denn Schule sind WIR (Rauscher 2012). Er gewährt damit den zweiten grundlegenden Einblick in die Herausforderungen des Anthropozäns für die Schule und ihre zukunftsorientierte Gestaltung.
Teil II weist verschiedene bildungstheoretische Perspektiven aus, die der Bildung für das Anthropozän zugrunde liegen: aus Sicht der Pädagogik (Kurt Allabauer), der Elementarpädagogik (Simone Breit), der Bildungssoziologie (Johannes Dammerer), der Grünen Pädagogik (Angela Forstner-Ebhart, Wilhelm Linder), des Interkulturellen Lernens (Jan Christoph Heiser, Tanja Prieler), der Religionspädagogik (Michael Holzwieser), der Geographiedidaktik (Karin Huser, Kai Niebert, Norman Backhaus, Sibylle Reinfried), der Berufsbildung (Norbert Kraker), der Primarpädagogik (Alexandria Krug), der Lernpsychologie (Gudrun Wagner), der Entwicklungspädagogik und der pädagogischen Anthropologie (Christian Wiesner), der Sozial- und Bildungswissenschaften (Christian Wiesner, Claudia Schreiner, Gerhard Brandhofer), der fachdidaktischen Lehr-Lernforschung mit Neuen Medien (Jörg Zumbach, Ines Deibl, Viola Geiger). Die Beiträge machen deutlich, dass der reflexive Blick auf den „Anthropos des Anthropozäns […] bedeutet, den Menschen aus der Perspektive seiner ökologischen Transformationskraft zu betrachten“ (Horn 2019b, S. 81) – und damit ein Neudenken nachhaltiger Bildungsprozesse erfordert.
Mandy Singer-Brodowski und Janina Taigel erörtern die theoretische Basis eines transformativen Lernens für Nachhaltigkeit. Sie gewähren damit den dritten grundlegenden Einblick in das Themenfeld, indem sie Bildungs- und Lernprozesse für die notwendige sozioökologische Transformation im Anthropozän im Kontext der Bildung für nachhaltige Entwicklung und des Globalen Lernens verorten und theoretisch fundieren.
Teil III lotet didaktische Modelle und Möglichkeiten für konkrete Lern-/Lehrsituationen in der Primar- und der Sekundarstufe sowie in der hochschulischen Lehrerbildung aus: in den Schwerpunkten Bildnerische Erziehung (Heidelinde Balzarek), Sprachförderung (Petra Breuer-Küppers), Environmental Humanities (Heidi Danzl), Digitalisierung (Walter Fikisz) bzw. Digitalität (Uta Hauck-Thum), Musikerziehung (Hubert Gruber), Literaturdidaktik (Elisabeth Hollerweger) bzw. Literarisches Lernen (Carmen Sippl), Philosophieren mit Kindern (Petra Koder), Naturwissenschaften (Irene Lampert, Kai Niebert; Gabriele Weigelhofer, Eva Feldbacher), Englisch (Claudia Mewald), Mathematik (Elisabeth Mürwald-Scheifinger, Sabine Apfler, Christian Spreitzer), Sachunterricht (Kerstin Steindl-Kuscher), Geographie (Stefanie Preiml, Moremi Zeil). Die Beiträge geben sowohl Impulse zur Erprobung in der Praxis als auch Erfahrungen aus der Praxis wieder und skizzieren das Bild einer Didaktik des Anthropozäns.
Im abschließenden Teil werden die solchermaßen eröffneten fachwissenschaftlichen, bildungstheoretischen und fachdidaktischen Perspektiven noch einmal erweitert: Khaled Hakami und Christian Wiesner wählen ein Wiener Kaffeehaus als Aushandlungsort, um sich im philosophierenden Gespräch der „epistemischen Schwierigkeit im Denken des Anthropozäns“ zu widmen, „dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher quantitativer, räumlicher und temporaler Größenordnungen“ (Horn 2019a, S. 18) – Khaled Hakami mit seinen Erfahrungen aus der Feldforschung bei Jäger-und-Sammler-Kulturen und Christian Wiesner als Bildungswissenschaftler. Vanessa Janeczek und Christian Spreitzer nutzen dieselbe Herausforderung zu einer naturwissenschaftlich-kritischen Reflexion des Anthropozän-Begriffs. Diese Ausblicke in offene Fragen, die sich aus der Beschäftigung mit dem Anthropozän im Kontext des Lernens und Lehrens ergeben, beschließt ein literarischer Text der Schriftstellerin und Schreibpädagogin Sophie Reyer. Er lässt die mit dem Wasser verbundenen Fabelwesen ihre Sicht der Dinge zum Ausdruck bringen – als dystopischer Ausblick, aber verbunden mit der hoffnungsvollen Gewissheit, dass das Gedächtnis allen menschlichen und nicht-menschlichen Lebens und aller Materie die Brücke bildet, vom Handeln im Jetzt in die Gestaltung der Zukunft. In medias res des Anthropozäns heißt also: ins kalte Wasser springen.