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Reinhold Leinfelder Das Anthropozän –
mit offenem Blick in die Zukunft der Bildung 1. Einleitung – Die großen Herausforderungen bei der Umweltbildung
ОглавлениеObwohl wir alle die Natur schätzen, hat sich der Unterschied zwischen Natur und Kultur durch die immer stärker zunehmenden menschlichen Eingriffe in die Umwelt gleichsam aufgelöst – und dies weitgehend unbemerkt, zumindest was das Ausmaß angeht: Nur noch etwa 25 % der eisfreien festen Erde können als Urnatur bezeichnet werden, den Rest haben wir schon extrem verändert (Ellis 2011, Ellis & Ramankutty 2008, Ellis 2011, Jones 2011). In den Meeren sieht es kaum anders aus (Halpern et al. 2008, 2015, WBGU 2013). Wir reduzieren die Biodiversität der Organismen in rasch zunehmender Weise (Ceballos et al. 2015, Williams et al. 2018, IPBES 20191) und verschieben sprichwörtlich die Gewichte der Lebewelt. So bestehen 96 % der Biomasse aller Säuger aus der Biomasse des Menschen (36 %) und seiner Säugernutztiere (60 %), nur vier Prozent der Biomasse verbleibt für die Vielfalt aller wilden Säugetiere. Bei den Vögeln ist es ähnlich, 70 % ihrer Biomasse wird von Zuchtgeflügel gestellt (Bar-on et al. 2018)2. Wir müssen also besser verstehen lernen, dass all unser Wirtschaften und Wohlergehen von den Dienstleistungen und Ressourcen dieser Erde abhängt. Diese sind aber nur zum Teil nachwachsend (biologische Ressourcen für Kleidung, Nahrungsmittel, Holz etc.), und dies auch nur, sofern wir die Bedingungen für das dauerhafte Nachwachsen, also Bodenqualität, Wasserverfügbarkeit, Nährstoffverfügbarkeit und Klima nicht aushebeln oder, wie bei der Wasser- und Nährstoffverfügbarkeit, durch Bewässern und Düngen nachhelfen. In sehr weiten Teilen bestehen die von uns verwendeten Stoffe aber aus nicht (bzw. nur unter erdgeschichtlichen Skalen) erneuerbaren Ressourcen (siehe Box 1).
Daraus ergeben sich eine große Verantwortung und damit verbunden auch viele neue Ansätze für die Umweltbildung. Gerade durch die zum Zeitpunkt der Finalisierung dieses Artikels immer noch herrschende, wenn auch in Europa abflauende SARS-CoV-2-Krise werden umfassende gesellschaftliche Herausforderungen nicht nur, aber gerade auch im Bereich der Umweltvorsorge und Umweltbildung wieder besonders klar. So räumt auch der Corona-Virus mit der Vorstellung auf, dass der Natur eine Nichtnatur in Form von Kultur und Gesellschaft als Dualismus gegenübersteht. Sowohl die Verbreitung des Virus als auch die Veränderung des Erdsystems sind heute dominant menschenbedingt: Die Natur umgibt uns nicht irgendwie in weiterer Distanz als Umwelt, sondern durchdringt uns und wir durchdringen sie – ein wechselseitiges Unterfangen. Wir sind Teil dieses Ganzen, dominieren allerdings immer stärker und sollten uns bewusst werden, dass wir uns als integrativen Teil dieser „Unswelt“ verstehen müssen (Leinfelder 2011, 2017a, 2020a, Leinfelder et al. 2012, Schwägerl & Leinfelder 2014)3. Auch gibt es für Problematiken wie die SARS-CoV-2-Krise genauso wie für die Anthropozän-Herausforderungen keine einfachen Richtig-oderfalsch-Lösungen, sondern nur gemischte Lösungsportfolios, die komplex sind und auch laufend dem jeweiligen Kenntnisstand angepasst werden müssen. Vor allem aber zeigt uns die SARS-CoV-2-Krise emotionale Herausforderungen auf, die auch für die Umweltkrise virulent sind: Zu Beginn der Krise war das gesellschaftliche Bedrohungsgefühl immens, vor allem auch wegen der Bilder der vielen Toten und des überlasteten Ärzte- und Pflegepersonals aus Italien. Kaum bekam man aber die Krise wegen der vielen Maßnahmen besser in den Griff, wurden Stimmen laut, alles sei ja wohl gar nicht so schlimm und insbesondere die Wirtschaft dürfe darunter nicht leiden. Dies mündet (mit Stand Mai 2020) in der Aufforderung, möglichst rasch zum Business as usual zurückzukehren, auch hinsichtlich unserer Freizeit, unseres Konsumverhaltens, unseren sozialen Gepflogenheiten. Warnenden Stimmen aus der Wissenschaft werden vereinzelte andere Stimmen von Experten oder auch nur solchen, die sich dafür ausgeben, entgegengesetzt. Statt eines gesellschaftlichen Diskurses über das weitere sowohl politische als auch gesamtgesellschaftliche und persönliche Vorgehen und Verhalten kommt es vielmehr zu Externalisierungen, die einen selbst freisprechen. Zunehmend viele sind dabei auch anfällig für „Fake News“ bis hin zu extrem kruden, oftmals sogar menschenverachtenden Verschwörungstheorien. Aber auch ohne extreme Spielarten ist die in der Psychologie als Verantwortungsdiffusion bezeichnete Entschuldigungs- und Externalisierungsstrategie in leider fast allen Problemarealen und Maßstäben möglich – vom Land zum Bundesland zur einzelnen Stadt, bis hin zu sich selbst. Sowohl hinsichtlich des Verhaltens in der SARS-CoV-2-Krise als auch bei den Klimaaspekten geschieht dieses persönliche Herunterbrechen etwa bei der Nutzung von Flügen, des Autos oder des Internets. Im Endeffekt muss damit keiner verantwortlich sein.
Besonders deutlich wird in „Corona-Zeiten“ aber auch das Präventionsparadox. Wenn Maßnahmen zur Kriseneindämmung gelockert werden, ist schnell konstatiert, dass eben diese Maßnahmen übertrieben waren und eigentlich vor allem negative Auswirkungen gehabt hätten. Hätte man die Maßnahmen aber nicht durchgeführt, wäre den Verantwortlichen Versagen vorgeworfen worden. Ähnlichkeiten zum Diskurs bei der Umweltkrise gibt es, etwa beim Waldsterben der 1980er-Jahre. Hier ist heute selbst von manchen Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen im Nachhinein immer wieder noch zu hören, dass der Wald ja doch nicht abgestorben sei, wie damals für weiteres Nichtstun prognostiziert wurde. Tatsächlich nahm aber der überwiegend ursächliche saure Regen durch die Etablierung geeigneter Filtermaßnahmen bei Kraftwerken und Verbrennungsanlagen extrem ab, was auch die Regeneration des Waldes bewirkte, auch wenn andere Schädigungen, insbesondere die intensive Waldbewirtschaftung, das Problem zusätzlich verschärft hatten. Oftmals allerdings wird das Präventionsparadox auch umgedreht. So wird vorab insinuiert, dass Maßnahmen, die ja zu einem guten Teil noch gar nicht getroffen wurden, katastrophale Auswirkungen auf die Wirtschaft und damit die Gesellschaft haben würden und man deshalb lieber nichts oder nur wenig oder nur sehr langsam tun sollte (siehe Abschnitt 3.1.1).
Dies führt uns zu einem wesentlichen Unterschied zwischen SARS-CoV-2-Krise und Anthropozän-Krise – der Frage der Zeitskala. Zwar sind beide Krisen – in all ihrer regionalen Differenziertheit – auch räumlich global, allerdings ist der zeitliche Maßstab doch ein sehr unterschiedlicher: SARS-CoV-2 breitet sich innerhalb von Tagen und Wochen aus und bedarf der Beobachtung sicherlich auch über viele Monate, wenn nicht gar Jahre. Aber die Krise begann jetzt und ist für jeden direkt – durch Erkrankung – oder indirekt – durch die einschränkenden Maßnahmen – spürbar. Die Klimakrise und andere Umweltkrisen sind aber überwiegend nicht bzw. kaum sichtbar oder – von Extremwetterereignissen abgesehen – spürbar. Bei gut sichtbaren Auswirkungen, wie beim extremen Zurückgehen von Insekten oder dem drohenden weiteren Verlust von Korallenriffen, erscheinen sie nicht von direkter Relevanz für uns – eine enorme Fehleinschätzung.
Abbildung 1: Ausmaß anthropogener Veränderungen des Erdsystems – einige Beispiele (verschiedene Quellen, siehe 2.1)
Da das Anthropozän-Konzept insbesondere auch auf den Geowissenschaften beruht, sei dieser Unterschied anhand der Erdgeschichte kurz erläutert: Die über viereinhalb Milliarden Jahre lange Geschichte unseres Planeten wird gerne zu Ausreden missbraucht, warum wir angeblich nichts tun müssen bzw. können. So sei die Geologie stärker als wir (dies gilt längst nicht mehr überall, so stoßen wir heute mindestens 100-mal mehr an CO2 aus fossilen Quellen aus als alle aktiven Vulkane dieser Welt zusammen4). Zu weiteren Beispielen menschlichen Tuns im geologischen Ausmaß siehe Abb. 1. Das Klima habe sich eh immer geändert – richtig, aber meist in Millionen von Jahren andauernden Zeiträumen, also nie dermaßen schnell wie wir dies heute bewerkstelligen; das Argument ist also eine klassische Skalenverkennung. Korallenriffe seien auch etliche Male ausgestorben, haben sich aber wieder erholt – richtig, aber die Erholung tropischer korallenreicher Riffe dauerte jeweils mehrere Millionen Jahre, in einem Fall sogar 140 Millionen Jahre (siehe Leinfelder 2019). Nein, die Erdgeschichte liefert uns keinesfalls Ausreden, um die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Verhaltensänderungen zurückzuweisen5. Diese Dominanz von Langzeitnarrativen wird allerdings – oft unbewusst – sogar bei Studierenden der geologischen Wissenschaften auch heute noch implementiert. Dabei erfordern die erdsystemaren, kulturellen und sozialen Herausforderungen des Anthropozäns nicht nur in den Geowissenschaften, sondern in vielen weiteren Fächern einen Wechsel unserer pädagogischen Ansätze6. Richtig betrachtet und mit neuen Narrativen erzählt, liefern die Geowissenschaften sogar überaus hilfreiche integrative Betrachtungsmöglichkeiten (siehe Abschnitt 3.2). Gerade das aus den Erdsystemwissenschaften und der Geologie hervorgegangene Anthropozän-Konzept liefert hier vielversprechende Ansätze und Möglichkeiten, sieht es doch das Heute als ein Produkt von erdgeschichtlichen Langzeitprozessen und den sozioökonomischen Prozessen der modernen Menschheit. Dies erlaubt damit auch die Entwicklung lösungsorientierter gesamtheitlicher Zukunftsszenarien im Kontext eines funktionsfähigen, die Menschheit und alle Organismen mittragenden Erdsystems. Dazu sollen das Konzept im Nachfolgenden kurz vorgestellt und danach einige Anregungen zu dessen gewinnbringender Nutzung im schulischen Kontext gegeben werden.
2. Das Anthropozän-Konzept im Kurzformat
2.1 Die analytischen Ebenen des Anthropozäns
Als „Vater des Anthropozäns“ wird der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen angesehen (Crutzen & Stoermer 2000, Crutzen 2002)7. Das Anthropozän-Konzept kann in mehrere, sich jedoch gegenseitig bedingende Teilbereiche untergliedert werden: Aus den beiden analytischen Ebenen – der erdsystemaren Ebene und der geologisch stratigraphischen Ebene – ergibt sich zwangsläufig eine konsequentiale Metaebene, welche das Anthropozän-Konzept auch zu einem transdisziplinären Zukunftsansatz macht (Leinfelder 2017a, 2019b).
Die erdsystemare Ebene des Anthropozän-Konzepts beschreibt und analysiert die Eingriffe der modernen Menschheit in die verschiedenen Erdsystemsphären. Erdsystemwissenschaften analysieren die Prozesse des Erdsystems, also das Zusammenspiel von Lithosphäre, Pedosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre und Atmosphäre, dabei wird zunehmend auch der Einfluss des Menschen (Anthroposphäre als Summe aller Soziosphären) auf diese Natursphären und damit auf die Stabilität des Erdsystems analysiert (Abb. 2). Die festgestellten menschlichen Eingriffe sind inzwischen geradezu von unglaublichem Ausmaß (s. Abb. 1): Die Menschheit ist zu einem wesentlichen Erdsystemfaktor geworden. So verändert sie die feste Erdoberfläche, die Ozeane und die Atmosphäre massiv, dominiert regionale wie globale Wasser-, Sediment-, Klima- und Stoffkreisläufe, produziert gigantische Mengen an Technomaterialien aus Ressourcen der Erdkruste (Box 1), dezimiert die biologische Vielfalt enorm und homogenisiert – wie bereits eingangs angeführt – an deren Stelle die Lebewelt durch Dominanz der von ihr gezüchteten Nutzpflanzen und Nutztiere sowie durch das bewusste oder unbewusste Verbringen regionaler Organismen über den ganzen Globus (z.B. Barnosky et al. 2012, Brown et al. 2013, Ellis 2011, Ellis et al. 2013, Leinfelder 2017a,b, Leinfelder et al. 2012, Steffen et al. 2016, 2020, Waters et al. 2016, Williams et al. 2016, 2018, Zalasiewicz et al. 2019a). Auch die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus muss in diesem anthropozänen Kontext gesehen werden.
Zwar sind die Umwelteingriffe durch den Menschen grundsätzlich gut untersucht und allgemein bekannt, dennoch werden deren globale, erdsystemare Auswirkungen und vor allem auch die Unumkehrbarkeit der meisten dieser Prozesse immer noch überwiegend verdrängt. Dabei ist es schlichtweg eine Tatsache, dass die umweltstabile Zeit des Holozäns, also der erdgeschichtlichen Epoche nach der letzten Eiszeit (welche formal noch bis heute reicht), bereits hinter uns liegt. Das Erdsystem verändert sich rasant, die Gefahr eines Kippens in einen völlig neuen Status ist groß, insbesondere wenn es nicht gelingt, die anthropogene Klimaerwärmung auf global höchstens 2°C zu begrenzen, wobei selbst eine Erwärmung um „nur“ 2°C bereits deutlich außerhalb der Spannbreite des Holozäns liegt (Leinfelder & Haum 2016).
Abbildung 2: Das Erdsystem im Anthropozän, vereinfachte Darstellung. Zu den klassischen Natursphären ist eine weitere hinzugekommen, die Anthroposphäre, als Gesamtausdruck aller menschlichen Aktivitäten und ihrer Hinterlassenschaften. Alle Sphären, also auch die Anthroposphäre, interagieren miteinander (für eine aktuelle wissenschaftliche Darstellung siehe Steffen et al. 2020, Fig. 3).
Box 1: Technosphäre:
Eine ganz besondere Rolle im menschlichen Tun spielt das Ausmaß der Nutzung nicht nachwachsender Ressourcen. So verwendet der Mensch nicht nur fossile Energieträger, deren Verbrennung den anthropogenen Klimawandel bedingen, sondern auch Unmengen anderer Rohstoffe, wie Sand, Kalk, Eisenerze oder seltene Erden, um daraus Gebäude, Infrastrukturen, Geräte, Maschinen und Fahrzeuge zu produzieren, deren Erstellung und Betrieb dann wiederum Energie benötigen. Eine wissenschaftliche Abschätzung der Anthropocene Working Group besagt, dass die Menschheit bislang die unvorstellbare Menge von 30 Billionen Tonnen an „Technosphäre“ hergestellt hat. 40 % dieser Technosphäre befinden sich in und unter den Städten dieser Welt (Zalasiewicz et al. 2017a). Andere technische Produkte, wie insbesondere Kunststoffe, verteilen sich über die ganze Erde. So hat die Menschheit insgesamt mehr als 8,3 Milliarden Tonnen Kunststoffe erstellt (Geyer et al. 2017). Während die Vorkriegsproduktion minimal war und 1950 erst etwa 1,5 Millionen Tonnen hergestellt wurden, stieg die jährliche Produktion auf nunmehr über 358 Millionen Tonnen8, was schon fast der Biomasse aller lebenden Menschen entspricht (Zalasiewicz et al. 2016, Leinfelder & Ivar do Sul, 2019). 2,5 Milliarden Tonnen des insgesamt produzierten Plastiks sind immerhin derzeit noch in Gebrauch, weltweit betrachtet wird allerdings nur ein sehr kleiner Teil recycelt oder verbrannt, während etwa 4,9 Milliarden Tonnen, also ca. 60 % allen bislang produzierten Plastiks in die Umwelt gelangt sind, sei es in langfristig nicht dauerhafte Deponien oder direkt in die Böden und Gewässer auf Land und im Meer (Geyer et al. 2017). Bau und Betrieb technischer Maschinen aus Naturressourcen ermöglichen wiederum, andere Ressourcen, beispielsweise Phosphate, abzubauen und diese in Form von Kunstdüngern auf landwirtschaftliche Flächen auszubringen oder für die Nahrungsmittelproduktion in anderer Weise zu verwenden. Eine neuere Studie trug die verfügbaren Daten zusammen: Zwischen 1910 und 2005 verdoppelte sich hiernach der menschengemachte Anteil an der pflanzlichen Nettoprimärproduktion (NPP) von 13 auf 25 % der globalen Vegetation, was auch eine Verdoppelung des Eintrags an reaktivem Stickstoff und Phosphor in die Umwelt bewirkte sowie gewaltige Anteile an fossiler Energie für die landwirtschaftliche Produktion erforderte. 2014 wurden 225 Millionen Tonnen fossiler Phosphate abgebaut, Tendenz stark steigend. Die Szenarien für den Anteil des Menschen an der gesamten pflanzlichen Primärproduktion bis zum Jahr 2050 belaufen sich auf 27 bis 44 % NPP (Williams et al. 2016, auch für weitere Literatur. Siehe auch Box 3).
Wie weit sich der Zustand des neuen Erdsystems von dem des Holozäns entfernt, wird von unserem zukünftigen Handeln abhängen (Steffen et al. 2016, 2018, 2020). Hierbei geht es vor allem um die Beherrschbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Menschheit an die neuen Bedingungen unter Wahrung freiheitlicher Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaften. Daher macht es einen immensen Unterschied für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften, ob planetarische Grenzen (Abb. 3), wie etwa die 2°C-Leitplanke, eingehalten werden oder nicht.
Um die menschlichen Eingriffe und die damit verbundene Umweltproblematik zu erfassen, ist es sinnvoll, die Problemkreise zuerst sektoral zu analysieren. Hierbei geht es insbesondere um das Ausmaß der Quantitäten und um die Frage, wie weit man sich jeweils planetarischer Stabilitätsgrenzen (Rockström et al. 2009, Steffen et al. 2015a) angenähert oder diese sogar schon überschritten hat (Abb. 1, Abb. 3). Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die „Große Beschleunigung“, der erdsystemare Sektoren durch die entsprechende Akzeleration sozioökonomischer menschlicher Aktivitäten seit den 1950er-Jahren unterliegen (Steffen et al. 2015b). Diese immensen Beschleunigungen hebeln die natürliche Anpassungsfähigkeit der belebten sowie der unbelebten Umwelt aus und lassen damit auch keinen „Trost“ durch die Daten der Erdgeschichte zu (siehe Abschnitt 1). Insgesamt stellt sich zudem die schwierige wissenschaftliche Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Problemsektoren und damit auch des Verhaltens von Kippelementen (Lenton et al. 2008, Steffen et al. 2018) (Abb. 4).
Abbildung 3: Planetarische Grenzen mit Hervorhebung des Anteils des Ernährungssektors. Planetarische Grenzen nach Steffen et al. (2015a), vereinfacht, Ernährungssektor sowie Ergänzung des Aerosol-Sektors nach Meier (2017)
Wie wird die Menschheit nun auch zur geologischen Kraft? Dies untersucht die geologisch-stratigraphische Ebene des Anthropozän-Konzepts. Ein Blick auf den historischen Ablauf ist erhellend. Natürlich haben sich die erdsystemaren Einflüsse durch die Menschheit graduell aufgebaut (vgl. Williams et al. 2016, Zalasiewicz et al. 2019a): So war bereits der frühe Mensch, wie auch jeder andere Organismus, ein biologischer Faktor, denn schon allein durch seinen Stoffwechsel war er in die Erdsystemkreisläufe integriert und hat sie – wenn auch in sehr kleinem Umfang – mit beeinflusst. Sobald jedoch Werkzeuge wie Faustkeile und Speere sowie der Gebrauch des Feuers dazukamen, war der Einfluss möglicherweise schon so groß, dass das Aussterben von Großsäugetieren zu und nach Ende der letzten Eiszeiten schon durch ihn mitbedingt war. Als sich Menschen in der Neolithischen Revolution niederließen und Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung betrieben, waren die Einflüsse durch die Landnutzung, ggf. auch auf die Atmosphäre (etwa rodungs- und reisanbaubedingte Entwicklung von Treibhausgasen), bereits deutlich höher – der Mensch wurde zum „geographischen Faktor“. Eine Hypothese besagt, dass die Eroberung Amerikas durch Europäer, welche mit dem Einschleppen von Krankheiten und der Ermordung großer Teile der indigenen Bevölkerung einherging, zu einer vorübergehenden natürlichen Wiederbewaldung früher gerodeter Gebiete und damit zu mehr Kohlenstoffspeichern führte, was als kleiner atmosphärischer CO2-Rückgang in Eiskernen messbar sei (Ruddimann et al. 2016, Ruddimann 2018, siehe jedoch Zalasiewicz et al. 2019b). Dies kehrte sich wieder um, als Jagd und Fallenstellerei der ersten europäischen Siedler durch immer mehr Ackerbau und Viehzucht ersetzt wurden und dazu auch diese regenerierten Urwälder wieder abgeholzt wurden. Aber erst durch die Optimierung der Dampfmaschine durch James Watt Ende des 18. Jahrhunderts startete die Industrialisierung voll durch: Bergbau wurde großmaßstäblich möglich, zur Eisenverhüttung wurden weitere Wälder gerodet, später kam Kohle dazu, auf landwirtschaftlichen Flächen in den USA wurde auf riesigen Flächen Baumwolle angebaut, wozu Bäche und Flüsse reguliert wurden, um ganzjährig bewässern zu können und mechanische Webstühle anzutreiben. Eisenbahn- und Handelsschifffahrt wurden mit Dampfmaschinen betrieben und sehr rasch ausgebaut, die Industrialisierung beschleunigte sich in allen Bereichen immens (siehe Abschnitte 3.1.3, 3.2.2). Damit vergrößerte sich nicht nur die „geographische Kraft“ der Menschheit (vgl. ArchaeoGlobe Project 2019) – die Ausweitung der Industrialisierung legte auch die Grundlagen dafür, dass der Mensch zunehmend zur erdsystemaren Kraft wurde. Es dauerte aber noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, bis sich – insbesondere auch durch die Nutzung von Erdöl und Erdgas – diese Prozesse so beschleunigten, dass in allen Erdsystemsphären, darunter auch der Lithosphäre, neue Geosignale dauerhaft überliefert wurden. Die „Große Beschleunigung“ machte die Menschheit damit nicht nur zum „erdsystemaren Faktor“, sondern eben auch zum „geologischen Faktor“.
Abbildung 4: Geographische Einordnung der wichtigsten Kippelemente im Erdsystem. Die Kippelemente lassen sich in drei Klassen einteilen: Eiskörper, sich verändernde Strömungs- bzw. Zirkulationssysteme der Ozeane und der Atmosphäre und bedrohte Ökosysteme von überregionaler Bedeutung. Fragezeichen kennzeichnen Systeme, deren Status als Kippelement wissenschaftlich noch nicht gesichert ist. Quelle: PIK https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente, Creative Commons BY-ND 3.0 DE Lizenz
Tatsächlich werden alle geschilderten Bespiele von unterschiedlichen Wissenschaftsgruppen als jeweils möglicher Beginn des Anthropozäns diskutiert. Die formal zur Untersuchung beauftragte und sehr interdisziplinär zusammengesetzte Anthropocene Working Group (AWG) der International Stratigraphic Commission9 empfiehlt allerdings mit weit überwiegender Mehrheit, die Untergrenze in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu legen. Dafür spricht insbesondere Folgendes:
• In den Sedimenten aller Ablagerungsbereiche (darunter Tiefsee, Flachmeere, Korallenriffe, Küsten, Flussmündungen, Seen, Böden), aber z.T. auch in Tropfsteinen und Baumringen finden sich ab dieser Zeit eindeutige, weitverbreitete und meist dauerhaft überlieferbare „Technofossilien“ bzw. weitere Geosignale. Dazu gehören Fragmente von Beton, elementarem Aluminium, Plastik, Flugasche aus industriellen Hochtemperaturprozessen, radioaktive Niederschläge aus Atombombenversuchen, Schwermetalle wie Blei, aber auch Pestizide und andere chemische Substanzen sowie Isotopensignal-basierte und direkte Messung atmosphärischer Gehalte an Kohlendioxid, Methan und Stickoxiden im Eis bzw. Gasblasen von Eiskernen (Waters et al. 2016, 2018, Zalasiewicz et al. 2016, 2017a, 2019a).
• Diese Signale ermöglichen eine sehr exakte globale synchrone Grenzziehung, so dass die Prämissen der Stratigraphischen Kommission zur Einrichtung erdgeschichtlicher Einheiten, die dann im Sinne eines Best-Practice-Verfahrens von der geowissenschaftlichen Community weltweit gleich verwendet werden, gegeben sind10.
• Durch eine derartige isochrone Definition des Anthropozäns ist dessen Anbindung an historische und archäologische Archive möglich, so dass etwa Historiker/innen zusätzliche, nicht durch Menschen eingerichtete Sedimentarchive mit ihren eigenen perfekt verbinden können (vgl. Leinfelder 2017a, 2019b, Zalasiewicz et al. 2017b).
• All die anderen Vorstufen sind natürlich für das Prozessverständnis – und damit ggf. auch für Unterrichtszwecke – sehr wesentlich, erlauben sie doch die Verknüpfung anthropologischer, umwelthistorischer und gesellschaftlicher Entwicklungen mit der erdgeschichtlichen Entwicklung (z.B. Zalasiewicz et al. 2017b, weitere Beiträge in Clark & Yussof 2017, siehe auch Hamann et al. 2014). Diese diachrone Vorstufe der sedimentären Entwicklung hin zum Anthropozän kann – im archäologischen Sinne – auch als Archäosphäre bezeichnet werden (Edgeworth 2013, Zalasiewicz et al. 2019b). Eine weitere Möglichkeit wäre, von einer präanthropozänen Übergangseinheit („pre-anthropocene transitional unit“) zu sprechen (z.B. Leinfelder 2019a).
Die beiden erdsystemaren analytischen Ebenen des Anthropozäns lassen sich thematisch auch aufgrund ihres interdisziplinären und prozessbasierten Charakters gut in den Schulunterricht integrieren. Auch der Einbau in den fachspezifischen Unterricht ist hier gut möglich (Klimawandel, Landnutzung, Süßwasser, Ozeane, Stoffkreisläufe, Geschichte etc.; siehe Abschnitt 3.).
2.2 Die konsequentiale Metaebene – Komplexitäten begreifen, Verantwortung übernehmen, Lösungsansätze mitentwerfen, Future Literacy fördern
Das oben skizzierte Ausmaß der anthropogenen Umweltveränderungen, deren Wechselwirkungen und die daraus resultierenden erdsystemaren Auswirkungen, aber auch der historische und dynamische Aspekt der Entwicklung hin zum Anthropozän erscheinen als geeignete Ausgangsbasis, um mögliche Lösungsansätze, aber auch Herausforderungen und Hindernisse auch im Schulunterricht zu thematisieren. Insbesondere eignet sich die Vernetztheit der anthropozänen Abläufe gut dazu, von einfachen „Richtig-Falsch“-Lösungen wegzukommen, gesellschaftliche und mediale „Filterblasen“ zu hinterfragen, partizipatives, kreatives und systemisches Denken und Handeln einzuüben und „Future Literacy“ zu erwerben. Dies steht in Übereinstimmung mit der sich aus den analytischen Konzeptebenen ableitenden und derzeit ebenfalls stark beforschten konsequentialen Metaebene des Anthropozän-Konzepts (sensu Leinfelder 2017a).
Diese konsequentiale Metaebene des Anthropozäns kann an einer Hypothese festgemacht werden: Die zur erdsystemaren und geologischen Kraft gewordene Menschheit, welche – jeweils in sehr unterschiedlichem Ausmaß und Verantwortung (siehe Allen et al. 2018) – das Erdsystem an den Rand eines möglichen Kippens gebracht hat, sollte umgekehrt auch in der Lage sein, nun wissensbasiert und das Vorsorgeprinzip beachtend ihr Handeln so zu gestalten, dass die Menschheit zu einem integrativen Teil eines funktionsfähigen anthropozänen Erdsystems wird. Dies wäre als Grundlage gerechter Entwicklungschancen für gegenwärtige und künftige Generationen zwingend notwendig. Diese Hypothese basiert darauf, dass sich die Menschheit als integrativen Teil des Erdsystems begreift, um besser zu verstehen, dass wir nicht vom Erdsystem, sondern nur mit dem Erdsystem leben können. Um dies bildlich auszudrücken: Erträge einer gut geführten Stiftung können dauerhaft genutzt werden. Sobald man allerdings kräftig in das eingelegte Stiftungskapital greift, wird die Stiftung rasch finanziell kollabieren. Auch das Erdsystem wirft genügend verwendbare Ressourcen ab, um damit grundsätzlich ein gutes Leben für die ganze Menschheit zu ermöglichen, allerdings nur, wenn die „Stiftung Erde“ gut geführt und nicht übernutzt wird. Aus diesem Verständnis heraus resultiert förmlich eine Aufforderung zu anthropozänem (Um-)Denken und Handeln in sehr weiten Bereichen: Politik oder Wirtschaft alleine können eine erdsystemische Integration der Menschheit nicht gewährleisten, da gerade auch individuelles und regionales Handeln in der Summe globale Auswirkungen hat. Daher sind alle zu einer verträglichen, nachhaltigen Nutzung der Erde verpflichtet. Der derzeitige „Parasitismus“ des Menschen an der Natur müsste sich wandeln zu einer echten Symbiose von Mensch und Natur, im Sinne eines gegenseitigen Nutzens (Leinfelder 2016a, 2017b, 2018, auch für Textauszüge).
3. Neue Weltsicht Anthropozän – mögliche Anwendungen für den Unterricht – einige Anregungen
Nicht nur die analytischen Ebenen, sondern insbesondere auch die konsequentiale Metaebene des Anthropozäns eignen sich hervorragend, um im fachspezifischen, fächerübergreifenden und projektbasierten Unterricht fachliche Bildung mit gesellschaftlichen Fragen zu verbinden. Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, ethische, kommunikative, partizipative und lösungsorientierte Aspekte in unterschiedlichen Kontexten und Formaten zu erarbeiten, Lehren und Lernen wechselseitig zu verknüpfen, und insgesamt eine verbesserte „Future Literacy“ („Zukunftskompetenz“) einzuüben. Im Nachfolgenden sollen einige Möglichkeiten dazu in allgemeiner, teilweise auch konkreter Weise angeregt werden.
3.1 Ethische Aspekte im Anthropozän
Ethik in der Umweltbildung betrifft ein weites Feld. Ethische Fragestellungen ergeben sich thematisch zu Verantwortlichkeiten, Verantwortungszuständigkeiten, bis hin zu Gerechtigkeitsfragen sowie aus allgemeinen philosophisch-ethischen zukunftsorientierten Reflexionen nahezu aller Lebensbereiche. Manche sehen hier Konkurrenz mit anderen Fächern, etwa der Humangeographie, der Humanethik oder auch der Geoethik, wieder andere lehnen das Anthropozän-Konzept gänzlich ab, da es ihnen als ideologische Weltanschauung oder gar Selbstermächtigungsauftrag gegen die Natur erscheint, was in Teilen durchaus zu diskutieren ist, in anderen Teilen allerdings als Strohpuppenargumentation entlarvt werden kann. Der Autor sieht, genauso wie die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler/innen, das Anthropozän nicht als Konkurrenz, sondern als verbindende, integrative Ergänzung zu existierenden Fächern, betont die Faktenbasiertheit der analytischen Befunde und fasst auch die konsequentiale Metaebene des Anthropozäns nicht als neue Weltanschauung, sondern als neuen, integrativen Blick auf diese Welt auf. Vogt (2012) ist allerdings recht zu geben, wenn er betont, dass eine „Bildungsethik“ zur Nachhaltigkeit nicht zu einer politisch-ökologischen Funktionalisierung missbraucht werden darf. An diesem Anspruch müsse sich eine entsprechende Bildungsethik messen lassen. Vogt geht es vor allem darum, wie das Konzept der Nachhaltigkeit zu methodischen und inhaltlichen Innovationen von Bildung beitragen kann. Eine derartige Bildung ist demnach „nicht Mittel zur Umsetzung vorgegebener Ziele, sondern Medium der Auseinandersetzung mit ihnen“ (op.cit.). Eine Beziehung von Bildung und Ethik könne auch direkt aus dem Konzept der Nachhaltigkeit abgeleitet werden, denn dieses Konzept „hat nicht den Charakter eines definitiv vorgegebenen Zieles, sondern den eines offenen pluralen Suchprozesses“ (op.cit.).
Siehe hierzu sowie zu weiteren umweltethischen Aspekten auch Schwägerl (2012), Leinfelder (2013a), Vogt et al. (2013), Schwägerl & Leinfelder (2014), Möllers et al. (2014), Renn & Scherer (2015), Haber et al. (2016), Lesch & Kamphausen (2016), Kress & Stine (2017), Zalasiewicz et al. (2017) (sowie weitere Artikel in Clark & Yussof 2017), Bertelmann & Heidel (2018), Schwinger (2019), Heichele (2020) uvm.11
3.1.1 Analyse und Diskussion von Ausredemechanismen für Nichtstun
Das Thema anthropogene Umweltveränderungen gehört einerseits zu den besonders schwer behandelbaren Bildungsthemen. Zum Ersten sind die Zusammenhänge komplex, zum Zweiten ist vieles davon nicht direkt sichtbar, da nicht nur Treibhausgase, sondern auch Biodiversitätsbeeinträchtigungen, Überdüngung, Pestizidgebrauch oder Effekte von Gewässerregulierungen nicht sofort erkenntlich sind. Zum Dritten scheinen für Ursachen und Lösungen oftmals andere zuständig zu sein. Obwohl Klima-, Biodiversitäts- und Landnutzungskrise also hinreichend bekannt sind und auch eine große Toolbox technologischer, sozialer und wirtschaftlicher Lösungsmöglichkeiten verfügbar ist (z.B. WBGU 2011), stehen nach wie vor insbesondere die Diskussion der „richtigen“ Lösung sowie – damit verbunden – gegenseitige Schuldzuweisungen im Vordergrund. Populistische Strömungen, verstärkt durch die Echokammern der sozialen Medien, nutzen derartige Mechanismen und erreichen dadurch zunehmende Spaltungen in der Gesellschaft. Die bewussten und unbewussten Benutzer der vielfältigen Ausredemechanismen können heuristisch in Relativierer, Fatalisten und Zyniker, Verantwortungsexternalisierer sowie „Ja, aber …“-Argumentierer eingeteilt werden (Abb. 5; siehe auch Leinfelder 2013b, 2015, 2018).
Abbildung 5: Häufige Ausredemechanismen bei Umwelt- und Anthropozän-Themen (nach Leinfelder 2013, 2018)
Ein beliebtes Beispiel aus Deutschland sei näher ausgeführt. Die durchaus korrekte Aussage „Deutschland ist nur für 2 % des globalen anthropogenen CO2-Ausstoßes verantwortlich“ nutzen viele für ein bequemes Zurücklehnen oder auch ganz bewusst, um Dekarbonisierungsbemühungen zu verlangsamen, erst einmal abzuwarten oder gar ganz auszubremsen. Diese Strategie wird in der Psychologie als Bystander-Effekt (Latané & Darley 1970) bezeichnet. Sie erzeugt pluralistische Ignoranz und daraus resultierend Verantwortungsdiffusion (sensu Katz & Floyd 1931).
Argumente gegen diese „nur 2 %“-Ausrede gibt es viele12, darunter:
• Deutschland hat nur 1,1 % der Weltbevölkerung, aber 2,23 % des anthropozänen CO2-Ausstoßes, also mehr als das Doppelte. (Entsprechend hat Österreich nur 0,1 % der Weltbevölkerung, aber 0,24 % des globalen Ausstoßes, ebenfalls mehr als das Doppelte.)
• Der jährliche CO2-eq-Fußabdruck in Deutschland beträgt 9,15t/Kopf, in Österreich 8,16t/Kopf, in Indien 1,94t/Kopf, im Kongo 0,3t/Kopf.
• Deutschland steht auf Platz 6 der Länder mit dem höchsten aktuellen CO2-Ausstoß. Unter Berücksichtigung der historischen Verantwortung seit 1750 steht Deutschland sogar auf Platz 4 aller Länder bei CO2-Ausstoß.
• Alle Länder, die gleich viel oder weniger als Deutschland ausstoßen – also auch Österreich –, verursachen zusammen 36 % aller Treibhausgase.
• Im Schnitt stößt jedes der etwa 200 UN-Länder 0,5 % aller Treibhausgase aus, damit läge Deutschland schon ein Vierfaches über diesem Durchschnitt.
Nach diesem Muster kann so ziemlich alles „zerteilt“ werden, etwa der Treibhausgasausstoß im Flugverkehr, beim Autoverkehr, für die Internetnutzung und alle weiteren THG-relevanten Sektoren. Heruntergebrochen werden kann noch viel tiefer, etwa auf Bundesland, einen Landkreis, eine einzelne Stadt, bis hinunter zum einzelnen, so dass nach dieser Taktik letztendlich niemand verantwortlich ist.
Noch einfacher ist es natürlich, die Wissenschaften insgesamt zu diskreditieren und ihnen unlautere Absichten zu unterstellen. In einer weit verbreiteten Variante ist dies die Strohpuppenargumentation, also das Aufstellen von Behauptungen, die zwar für viele plausibel klingen mögen, aber keiner Überprüfung standhalten. Publikumswirksam lässt sich aber dann entlang dieser „Strohpuppe“ argumentieren. In einer Linie dazu, allerdings in einer extremeren Spielart, stehen die Verschwörungstheorien, bei denen ein ganzes Netz von in den Raum gestellten Behauptungen flankiert wird durch eine übergeordnete falsche Erzählung, dass das Establishment, bestimmte Wirtschaftszweige, die Medien, der ganze Staat oder gar alle Geheimdienste und Regierungen dieser Welt sich dazu verabredet hätten, dies alles geheim zu halten.
Im vorliegenden Beitrag kann nicht in der notwendigen Tiefe auf die Thematik eingegangen werden; es sei aber darauf verwiesen, dass gerade für das Thema des anthropogenen Klimawandels hervorragende Anleitungen zur Verfügung stehen, um Falschbehauptungen zu erkennen. Exemplarisch genannt seien etwa die „Klimalounge“ des Klimawissenschaftlers Stefan Rahmstorf, das Klimafakten-Portal, das SkepticalScience-Portal (auch mit vielen ins Deutsche übersetzten Artikeln), das Debunking Handbook und der Wissenschaftliche Leitfaden zur Klimaskepsis13. Obwohl speziell ans Klimathema angepasst, lassen sich die dort aufgezeigten Täuschungsmuster auch auf viele andere Bereiche der Wissenschaftsfeindlichkeit übertragen. Dies gilt insbesondere auch für das neue Poster „PLURV – Grundkurs Desinformation“ (wobei PLURV steht für: Pseudoexperten, Logik-Fehler, Unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen)14.
Möglichkeiten für den Einbau dieses insbesondere auch Medienkompetenz fördernden Themas in den Unterricht gibt es viele:
• Vorstellbar wären etwa ein spielerisches „Sich selbst den Spiegel-Vorhalten“ (vgl. Abb. 5), etwa mit folgenden Fragen: Welche Ausreden lasse ich mir immer so einfallen? Welche glaube ich auch selbst, warum eigentlich? Warum gefällt mir dies oder jenes, habe ich das selbst entschieden? Habe ich für dies alles eigene Beispiele auch aus dem Umweltbereich?
• Auch können „Richtig-Falsch“-Lösungen kritisch hinterfragt werden, denn häufig dienen sie der populistischen Zuspitzung und lassen andere Lösungsmöglichkeiten oder Lösungsportfolios im Sinne von Mischungen nicht zu.
• Besonders gut können obige Aspekte auch in visuelles Arbeiten (z.B. via Cartoons und Comics, s.u.), künstlerisches Arbeiten (etwa Theaterspiel) und insbesondere Design-Thinking-basierte Projekte eingebracht werden (siehe Abschnitte 3.2 und 3.3).
3.1.2 Analyse und Diskussion des Präventions- bzw. Zukunftskrisen-Paradox
Wie schon im Einleitungskapitel angeführt, wird das Präventionsparadox15 in der SARSCoV-2-Krise wieder besonders virulent und zeigt auf, dass es auch in umgekehrter Weise, also als „Unsichtbare-Krisen-Paradox“ bzw. „Zukunftskrisen-Paradox“ gerade für Umweltkrisen eine spezielle Form von kognitiver Dissonanz darstellt. Vergleichbar zwischen beiden Spielarten, also Vorsorge- und Zukunftskrisen-Paradox, ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit abwendet, je länger die vorhergesagte Krise nicht kommt bzw. nicht sichtbar oder anderweitig bemerkbar ist (siehe hierzu Hamann et al. 202016).
Mögliche Schulaktivitäten zum Zukunftskrisen-Paradox könnten umfassen:
• Erarbeitung einfacher augenfälliger Vergleiche zur Erklärung des Paradox (vgl. dazu Abschnitt 3.2.1). Als Anregung zwei Beispiele im Kontext der Corona-Krise: Bernhard Ulrich, Journalist bei DIE ZEIT; auf Twitter vom 7.5.2020: „Also jetzt mal ohne jede Polemik: wenn eine Therapie zum Erfolg geführt hat, zu behaupten, der Erfolg beweise, dass die Therapie überflüssig war, ist doch ein bisschen grenzdebil, oder?“
Werner Bartens, Gesundheitsjournalist, bei der TalkShow „Maischberger“ vom 20.5.2020 (leicht verkürzt von R. Leinfelder für Twitter, 21.5.2020):
„Es regnet stark – ich muss trotzdem raus. Ich nehme den Schirm mit. Komme völlig trocken an. Hey, bin nicht nass. Es hat gar nicht geregnet. Schirm war völlig überflüssig!“
• Im schulischen Kontext können weitere Metaphern und Geschichten zum Vorsorge- und Zukunftskrisen-Paradox für diverse Anthropozänthemen kreativ erarbeitet werden, dazu sollten auch die Fakten zur dargestellten Situation recherchiert werden: Eine mögliche Vorlage auch mit Bezug zu Verschwörungsaspekten (3.1.1) könnte beispielsweise folgende Meldung sein:
Aus handelsblatt.com vom 17.3.2015: „Es sei ‚ungewöhnlich kalt da draußen‘, erklärte der Senator [Jim Inhofe]) Anfang März triumphierend während einer Senatssitzung in Washington, den vermeintlichen, eisigen Beweis [mitgebrachten Schneeball] in die Höhe haltend. Und wer mehr wissen will, der kann in seinem Buch nachlesen. Es heißt: Der größte Betrug: Wie die Global-Warming-Verschwörung deine Zukunft gefährdet“17.
• Nach einem erarbeiteten Verständnis zum Zukunftskrisen-Paradox könnten Konzepte erstellt werden, wie weitgehend unsichtbare Zukunftskrisen, wie etwa die Klimakrise, auch über andere sichtbare Umweltaspekte beleuchtet werden kann, etwa durch das Thema Plastik und Müll in der Umwelt oder auch durch Landwirtschaft, Verschwinden der Korallenriffe und vieles mehr.
3.1.3 Analyse und Diskussion von Gerechtigkeitsfragen
Die Möglichkeiten der unterrichtsmäßigen Bearbeitung des Themenkreises Gerechtigkeit im Anthropozän sind extrem vielfältig, so dass nachfolgend nur wenige Themenbeispiele sowie deren mögliche methodische Umsetzung aus dem eigenen Umfeld des Autors angeführt werden.
• Beispiel: Die Ozeane als Quelle, Senke und Patient: Regelung der Nutzung von Gemeingütern (Commons) als „Menschheitserbe“ am Beispiel des Seerechts (Quellen hierzu WBGU 2013, Vidas et al. 2015), siehe Abb. 6. Diskutiert werden kann auch, inwieweit es Möglichkeiten der Ausweitung der Commons-Areale auch aufs Land geben könne (Leinfelder 2017a). Weitere Beispiele könnten die aktuelle Situation für Trinkwasser (Abb. 7), Atmosphäre, Ernährungssituation (siehe auch Abschnitte 3.2.2, 3.3.3) u.v.m. umfassen.
Abbildung 6: Die Vision des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zur nachhaltigen Nutzung der Ozeane (aus WBGU 2013, verändert).
Oben: Heutiger Zustand des UN-Seerechtsübereinkommen – Überwiegend küstenstaatliche souveräne Rechte und Hoheitsbefugnisse als 12 und 200 Meilen-Zone (ggf. erweitert) (Ausschließliche Wirtschaftszone, AWZ). Das „Gebiet“, also der Tiefseeboden, stellt ein „gemeinsames Erbe der Menschheit“ (Common Heritage of Mankind) dar und darf, etwa für Gewinnung von Bodenschätzen, nur unter hohen Auflagen und Zustimmung der Internationalen Meeresbodenbehörde genutzt werden. Die Hohe See steht hingegen allen Staaten (auch Binnenstaaten) überwiegend in der Regel ohne weitere Genehmigungsverfahren auch zur Nutzung zur Verfügung (areas beyond national jurisdiction) und wird daher, ähnlich wie die unter küstenstaatlicher Hoheit stehenden Zonen, besonders übernutzt.
Unten: Die WBGU-Vision beruht auf dem Commons-Gedanken für alle Ozeanareale. Dazu wird die Common Heritage-Regelung auf die Hohe See ausgeweitet. Die AWZ wird ebenfalls unter Commons-Regelung gestellt, bleibt aber unter der Zuständigkeit der Küstenanrainer, welche in Sachwalterfunktion die Nutzung regeln und kontrollieren. Keine Nutzung darf dem globalen Commons-Gedanken entgegenlaufen. Eine nationale Nutzung darf keine Nachteile für andere Staaten mit sich bringen (WBGU 2013). Nach Leinfelder (2017a) ließe sich der Sachwaltergedanke auch auf die Festländer übertragen: Kein Land darf seine Ressourcen so nutzen, dass daraus ein Schaden für die Bürger anderer Länder entsteht.
Abbildung 7: Darstellung des Gerechtigkeitsaspekts für sauberes Wasser durch zwei Comic-Panele. Aus Hamann et al. (2013, S. 32 unten).
• Beispiel: Globale Nord-Süd-Beziehungen, hierzu gehören insbesondere auch die historische Verantwortung für Kohlenstoffemissionen (z.B. WBGU 2009, 2011), der atlantische Dreieckshandel18 seit Kolumbus (etwa Recherchen, ggf. eigene graphische Darstellung; als Anregung hierzu siehe Dreieckshandel-Comicstrip19 aus Hamann et al. 2014).
• Beispiel: Innovationen haben ihre Zeit. Besonders spannend ist die Behandlung der kaskadenartigen Innovationen, die durch die Optimierung der Dampfmaschine durch James Watt 1769 erfolgte (WBGU 2011, S: 352, comicstripartige Umsetzung20 in Hamann et al. 2014).
• Beispiel: Tagebuch zur Selbstbeobachtung. Weitere Gerechtigkeitsfragen im Kontext des Anthropozäns, etwa Massentierhaltung, Saisonarbeit, Preisgestaltung u.v.m. bieten sich an und können ebenfalls in unterschiedlichsten Formaten, zum Beispiel als Protokoll oder Tagebuch zur Selbstbeobachtung gestaltet werden. Drei Anregungen dazu:
• Persönliches Shopping-Protokoll etwa zur Analyse des eigenen Einkaufverhaltens und der zugrunde liegenden Kaufmotive.
• Verwendung publizierter Tagebücher anderer Personen für den Unterricht, exemplarisch sei das aktuelle, comicartig gestaltete persönliche Saisonarbeiter-Tagebuch „Hopfen anbinden“ genannt, welches – rein deskriptiv und sehr zurückgenommen – Aspekte zur Wanderarbeit, internationaler Kooperation, Stadt-Land-Beziehungen, Corona-Krise, Insektensterben, industrialisierte Landwirtschaft, Globalisierung usw. mit beinhaltet (Hamann & Kluge 202021). Diese könnten als Grundlage für entsprechende Vertiefungen im Unterricht genutzt werden.
• Die Erstellung eigener Beobachtungstagebücher durch Schüler/innen und die daraus ableitbaren Vertiefungen, Schlussfolgerungen oder Bewertungen könnten als Thema ggf. ebenfalls gut für den Online-Unterricht genutzt werden.
3.2 Kommunikationswege im Anthropozän
Aufgrund der komplexen, fächerübergreifenden Thematik und des systemischen Ansatzes des Anthropozän-Konzepts ist das Auffinden geeigneter Kommunikationswege eine notwendige Voraussetzung zur Analyse, Darstellung und Problemlösung ökologischer, gesellschaftlicher und kultureller Interaktion im Anthropozän. Einige der Herausforderungen und Chancen zur Kommunikation über/für das Anthropozän seien im Nachfolgenden kurz aufgelistet. So geht es unter anderem darum,
• Komplexitäten verständlich zu machen, ohne zu simplifizieren; dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch für Metaphern und Narrative zum Anthropozän;
• unterschiedlichste Raum- und Zeitmaßstäbe zu verbinden, also die globalen Auswirkungen lokalen Handels zu kommunizieren, historische, heutige und zukünftige Abläufe zu verbinden, die Erdsystemskala mit kultureller, gesellschaftlicher und individueller Skala zu verknüpfen (und umgekehrt);
• Kommunikation nicht (allein) als Wissenstransfer zu sehen, sondern vor allem als echten wechselseitigen Austausch zu begreifen. Dazu sind offene, reale, virtuelle und gedankliche Räume notwendig („Third Places“ sensu Oldenburg 1999);
• emotionale Zugänge herzustellen, um der Komplexität der heutigen Wissensgesellschaft mit ihrer Mischung aus wissenschaftlichem Wissen, Erfahrungswissen und geglaubten Überzeugungen („beliefs“) gerecht zu werden. So erscheint es sinnvoll, von lebensweltlichen Themen auszugehen und diese weiter aufzufächern sowie mit geeigneten Visualisierungen zu arbeiten (siehe Abb. 8);
• Rückwirkung auf das eigene Verständnis durch multimodale Kommunikation zu erreichen: Lernen durch Lehren.
Vertiefungen und weiterführende Literatur zu den oben aufgeführten Punkten finden sich u.a. bei Leinfelder (2011ff, 2013a, 2016b, 2018, 2020a). Im Nachfolgenden wird daher nur kursorisch auf einige Beispiele eingegangen und werden weitere Vertiefungsquellen genannt.
Abbildung 8: Wissensgesellschaft und adäquate kommunikative Möglichkeiten durch multimodale Kommunikationsformen, mit Beispielen (aus Leinfelder 2018)
3.2.1 Metaphern, Narrative
Metaphern und Narrative haben ein großes Potenzial, über unerwartete Wege plötzliche Einblicke in bzw. Erkenntnisse zu komplexen Zusammenhängen zu erreichen und sich dieser Zusammenhänge bei Bedarf auch wieder erinnern zu können. Falsch angewandt haben aber Metaphern und Narrative auch das Potenzial zu großer Simplifizierung, wenn nicht gar zu populistischer Argumentation. So kommt es auch immer auf den geeigneten Kontext an. Der Verfasser dieses Artikels arbeitet in öffentlichen Vorträgen, Zeitungsartikeln, schulischen Kooperationen, aber auch in der universitären Lehre insbesondere zur interdisziplinären wissenschaftlichen Verständlichmachung gerne mit Metaphern und speziellen Narrativen. Hier erwähnt wurden bereits Metaphern wie „Von der Umwelt zur Unswelt“ (Leinfelder 2011, 2011ff, 2020a), oder „das Erdsystem als Stiftung betrachten“ (Leinfelder 2017b). Weitere vom Verfasser verwendete Metaphern und Narrative umfassen „Vom Parasitismus zur Symbiose“ (Leinfelder 2016a) oder „Die ‚Hall of Fame‘ der Organismen, welche die Erde ebenfalls bereits komplett verändert haben“ (Leinfelder 2018), siehe Abb. 9.
Die mögliche Fehldeutung solcher Metaphern muss allerdings berücksichtigt werden. So könnte ohne weitere Erläuterung der Begriff der „Unswelt“ fehlgedeutet werden als „die Erde gehört uns“; stattdessen soll mit der Wortneubildung die Verwischung der Unterschiede zwischen Natur und Kultur betont und so bewusst gemacht werden, dass wir mit dem Erdsystem in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen (siehe auch Leinfelder 2011). Die Metapher vom „Erdsystem als Stiftung“ könnte ohne weitere Erklärung die Notwendigkeit der Pflege und Stabilisierung dieser Stiftung außer Acht lassen und stattdessen auf größtmögliche Dividende fokussieren. Der Metapher „vom Parasitismus zur Symbiose“ könnte ohne korrekte Einbettung gleichmacherische Tendenz vorgeworfen werden, da die Eingriffe der Menschheit regional und gesellschaftsspezifisch sehr unterschiedlich sind.
Abbildung 9: Scribble-Narrative der „Hall of Fame“ von Organismen der Erdgeschichte, welche die Erde schon vor dem Menschen immer wieder umgestalteten, aber auch Ressourcen, von denen die Menschheit heute abhängig ist, generierten. Der Mensch verändert die Erde allerdings in bislang unbekannter Geschwindigkeit. Das Bild kann als Beispiel zur Entwicklung von Narrativen zur Einbindung des Menschen in die Erdgeschichte und in das Erdsystem dienen. Basierend auf verschiedenen Ressourcen, Näheres siehe Text (aus Leinfelder 2018).
Die „Hall of Fame“-Metapher könnte zur Beschwichtigung herhalten, dass ja schon andere vor uns (etwa Methanbakterien, Cyanobakterien, kalkausscheidende Meeresorganismen, Plankton, Gräser etc.) die Erde ebenfalls sehr stark verändert haben, also unser heutiges diesbezügliches Tun doch eher in dieser Tradition steht. Diese möglichen latenten Brüche können aber ganz bewusst in konstruktiver Weise verwendet werden, indem eben auch diese Metaphern entsprechend diskutiert werden. Nicht die Metapher oder das Narrativ allein, sondern vor allem auch das Reflektieren darüber erscheint hilfreich.
Narrative zu Zeitläufen können hierbei besondere Augenöffner sein. Beim Beispiel der „Hall of Fame“ sollte betont werden, dass die Geschwindigkeit der ökologischen und sogar erdsystemaren Veränderungen in keiner Zeit der Erdgeschichte dermaßen hoch war wie heute und daher die natürlichen Puffer- und Anpassungsmechanismen der Erde heute nicht mehr nachkommen. Das Narrativ, dass Maschinen nicht von alleine etwas für uns tun, sondern von uns „gefüttert“ werden müssen – derzeit leider überwiegend noch mit fossilen Energien – ist ein möglicher Einstieg zur Behandlung der erdgeschichtlichen Entstehung unserer nichtnachwachsenden Ressourcen wie Erzen, seltenen Erden oder fossilen Energieträgern, aber auch von Kalk, Ton oder Sand, die inzwischen von uns zur unglaublichen Menge von 30 Billionen Tonnen Technosphäre umgebaut wurde (siehe Box 1). Besonders interessant erscheint auch das Narrativ der verlässlichen Stabilität des Erdsystems im Holozän als Grundlage für die Neolithische und Industrielle Revolution und damit als wesentliche Grundlage der Entwickung all unserer gesellschaftlichen, meist extrem differenzierten Systeme.
Narrative Verfahren, welche die persönliche Lebensgeschichte sinnhaft einbinden, sind nach Kaimer (2008) von besonderer Bedeutung. In diesem Sinne können auch lebensweltliche Zukunftspfade im Sinne von Szenarien erzählt und damit zugänglicher gemacht werden. So haben Studierende die Leinfelder’schen fünf Zukunftsszenarien für Urbanisierung (vgl. Leinfelder 2014, 2016b) textlich in einem Wettbewerb umgesetzt und damit einen ersten Preis gewonnen (Liebender et al. 2017)22. Näheres zu Zukunftspfaden und Zukunftsszenarien siehe Abschnitt 3.4.
Das gesamte Anthropozän-Konzept kann in diesem Sinne auch als sinnstiftendes Großnarrativ angesehen werden, sofern dessen analytischen Ebenen auch mit der konsequentialen Metaebene verknüpft und Lösungsoptionen in offener Weise mit erzählt werden (vgl. Leinfelder 2017c).
Insgesamt können oben aufgeführte Narrative zwar im Schulunterricht aufgegriffen werden; besonders spannend wäre aber vor allem, diese weiterzuführen oder auch gänzlich neue zu entwickeln. Neue Narrative können sich aber auch aus anderen, entsprechend designten Projekten zur Nachhaltigkeit ergeben, insbesondere wenn aus den Projekten neue Einsichten in komplexe Zusammenhänge erwachsen (Leinfelder 2018).
Sehr gewinnbringend können dann längere Narrationen (nicht unbedingt Narrative, jedoch auf Narrativität basierend) auch graphisch gestaltet werden (mehr dazu siehe nachfolgend).
3.2.2 Visualisierungen
Ausstellungen sind weithin beliebt und bekannt. Sie stellen begehbare, visuell gestaltete Räume dar, in denen sich Besucher/innen mit Objekten, Installationen und untereinander treffen – damit repräsentieren sie kommunikative „Third Places“ auch für komplexe Themen und stellen auch eine eigene Formatsparte innerhalb der Künste dar.
Comics werden von vielen ebenfalls zu den Künsten gezählt. Ähnlich wie es auch bei anderen Künsten, etwa Literatur, Film, Bühne, Bildhauerei, Malerei, Ausstellungen etc., ebenfalls annähernd beliebig viele unterschiedliche Themen und Inhalte gibt, gilt dies auch für Comics. In dieser Arbeit soll nur das Potenzial für Sachcomics zur Kommunikation und Reflexion komplexer Themen kurz hervorgehoben werden. Es führt in diesem Beitrag zu weit, das gesamte Potenzial von Comics für Lehren und Lernen darzustellen. Box 2 bietet dazu einen kleinen Überblick, auch im Hinblick auf Vergleichbarkeiten mit Ausstellungsgestaltung.
Box 2: Ausstellungen und Sachcomics – ein kleiner Vergleich23:
Comics gehören wie Ausstellungen zu den Slow Media (siehe David et al. 2010) und sind damit als im wesentlichen nichtlineare Kommunikationsformate zu verstehen, welche zu ihrer Wissenserschließung einer umfassenden persönlichen Beschäftigung der Leser/innen bzw. Besucher/innen bedürfen. Das Medium muss in Raum und Zeit verortet werden und gleichzeitig verschiedene Sinne direkt bzw. über synästhetische Ansätze ansprechen (McCloud 1993, 2014; Sousanis 2015). Insbesondere können Abbildungen und Sammlungsobjekte, aber auch komplette, möglichst nicht linear strukturierte Ausstellungen als Slow Media betrachtet werden (Robin et al. 2014; Leinfelder 2015). Im Sinne von Slow Media lassen sich auch Sachcomics zu komplexen Themen grundsätzlich mit wissenschaftsbasierten Ausstellungen vergleichen, da sie dominant visuell gestaltet sind, Informationen zu Mehrebenen-Narrativen verbinden, individuelle Geschwindigkeit beim Erfassen erlauben und damit gleichzeitig erhöhte „partizipative“ Aktivität beim Zusammensetzen der Informationen und Themen im Kopf erfordern (vgl. Jacobs 2007; Leinfelder 2015; Leinfelder & Hamann 2019, Groensteen 2014; Sousanis 2015). Comics sind hierbei insbesondere durch ihre Bildsprache motivierend, visualisierend, permanent, intermediär und populär (Versaci 2001; Morrison et al. 2002; Yang 2008). Die szenographische Gestaltung erlaubt die Kombination realitätsnaher (wahrnehmbarer), abstrahierter (zu erfassender) und symbolisierter (erlernter) Bilder in teils vielschichtig angelegten Panels, welche zeitlich, räumlich und perspektivisch insbesondere durch Weglassen (in den „Gutters“, also den Lücken zwischen den graphischen Panels) inszeniert werden können (McCloud 1993, 2014). Je nach Komplexität der Themen können sich Text und Bildsequenzen komplementär oder auch einander stützend verhalten (Jüngst 2010). Personalisierung, Darstellung wissenschaftlicher Arbeitsweisen, Visualisierung von Szenarien und andere Authentifizierungsmöglichkeiten wissenschaftlichen Vorgehens sind genauso wie mögliche gesellschaftliche Relevanzen und Handlungsoptionen teilweise augenzwinkernd gestaltbar, womit sich die zu vermittelnden Themen von ihrer gewissen „Schwere“ befreien lassen. Dies kann zum Beispiel durch Zuhilfenahme von „Sidekicks“ oder durchlaufenden Nebengeschichten erreicht werden. Insbesondere sind auch gesellschaftlich herausfordernde Themen bzw. Handlungsoptionen, welche bei der Verwendung anderer Medien sehr schnell zu reflexartiger Ablehnung führen, bei Comics durch die vielfältigen Möglichkeiten der humoristischen Einfärbung besser transportierbar (Brocka 1979; Hangartner et al. 2013; Leinfelder & Hamann 2019).
Nachfolgend seien exemplarisch einige Beispiele für Sachcomics kurz aufgeführt. Sie stammen bewusst aus Projekten bzw. dem kooperativen Umfeld des Verfassers und wurden speziell für schulischen Unterricht konzipiert bzw. können auch dort zum Einsatz kommen.
Beispiel 1: Der Comic Die Große Transformation. Klima – kriegen wir die Kurve? (Hamann et al. 2013) stellt gleichsam eine „Übersetzung“ eines wissenschaftlichen Gutachtens für die deutsche Bundesregierung dar (WBGU 2011). Die Beiräte des damaligen „Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung“ (WBGU) sind auch die Protagonisten im Comic. Ziel war insbesondere die möglichst weite Kenntlichmachung des Gutachtens zur Energiewende sowie die Vorstellung der Wissenschaftler/innen, welche derartige Gutachten verfassen, um damit Zugänge auch über Personalisierung zu generieren (Abb. 10). Dieser Transformations-Comic ist in mehreren Sprachen verfügbar. Die Erstellung des Comics war eingebettet in ein Forschungsprojekt, mit dem Ziel des Tests der kommunikativen und edukativen Möglichkeiten mit Sachcomics. Dazu wurden auch mehrere Schulprojekte durchgeführt. Zum Comic wurden Lehrerhandreichungen erstellt (Zea-Schmidt & Hamann 2013), sie erlauben Zuordnungen der behandelten Themen zum Fachunterricht sowie zu fächerübergreifendem Unterricht und Projektunterricht. Besondere Berücksichtigung fand hierbei auch die Design-Thinking-Projektmethode (siehe Abschnitt 3.3.3). Die Handreichungen sind frei online verfügbar, die englische Version des Transformations-Comics ebenfalls24.
Beispiel 2: Auf das Comic-Projekt Anthropozän. 30 Meilensteine auf dem Weg in ein neues Erdzeitalter. Eine Comic-Anthologie (Hamann et al. 2014) wurde in diesem Artikel bereits verwiesen (siehe Abschnitt 3.1.3). Die Comics entstanden als Semesterarbeit einer Illustratorenklasse an der Universität der Künste Berlin in enger Kooperation mit der Storyboard-Entwicklerin Alexandra Hamann und den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die großformatigen Comic-Strips bestehen aus jeweils acht Panels. Die Studierenden erarbeiteten – nach Input durch die Wissenschaftler/innen – die faktenbasierten Geschichten sehr selbstständig und mit großer künstlerischer Freiheit. Die Comics erzählen Geschichten rund um 30 Objekte und Installationen aus dem Deutschen Museum München und wurden während der Sonderausstellung „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“25 vor den jeweiligen Objekten der Dauerausstellung aufgestellt, um diesen Objekten auch einen Anthropozän-Kontext zuzuordnen. Die Comics erschienen auch als großformatiges Buch sowie in einer Online-Version26. Ähnliches, also Geschichten rund um anthropozäne Objekte beliebiger Art als gescribbelten Comic-Strip zu erarbeiten, ist auch für den schulischen Unterricht anwendbar.
Beispiel 3: Der Phosphor und die Anthropozän-Küche: Im Exzellenzclusterprojekt „Bild – Wissen –Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin wurde unter der Leitung des Verfassers das Clusterprojekt „Die Anthropozän-Küche“ durchgeführt. Ziel der Arbeiten war es, am Beispiel des Themas Ernährung individuelle Geschichten aus zehn verschiedenen Ländern – erarbeitet zusammen mit Protagonisten weltweit – so zu verknüpfen, dass möglichst viele Aspekte rund um das Thema Ernährung sowohl naturwissenschaftlicher, als auch technischer, gesellschaftlicher, kultureller und geschichtlicher Art dabei erarbeitet werden konnten. Die real existierenden Protagonistinnen und Protagonisten, die sich von Norwegen bis Brasilien, von Südafrika bis Japan aufreihten, erzählten als Ausgangspunkt jeweils, wo sie Lebensmittel einkaufen, woher ihres Wissens die jeweiligen Produkte stammen, wie das Essen in ihren Tagesablauf integriert ist und welches nachkochbare, einfache Lieblingsrezept sie anbieten könnten. Aus diesen Antworten ergab sich der wissenschaftliche Recherchebedarf. Danach wurden von der Storyboard-Entwicklerin in enger Kooperation mit den Protagonistinnen und Protagonisten, Illustratorinnen und Illustratoren – ebenfalls aus den jeweiligen Herkunftsregionen stammend – sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sachcomic-artige Bildgeschichten entwickelt. Die Illustratorinnen und Illustratoren hatten alle künstlerischen Freiheiten, sollten aber nach Möglichkeit ihren eigenen, meist regionaltypischen Comic-Stil verwenden, so dass das resultierende Buch optisch sehr vielfältig wurde. Als zusammenhängendes Narrativ tauchte jedoch in jedem Kapitel der Phosphor zusammen mit seinen Begleitern, vier Sauerstoffatomen auf, welche mit ihm zusammen Phosphat bilden. Das Rahmenthema Phosphor hält damit das Buch sowohl inhaltlich als auch erzählerisch zusammen. Buchtitel und Untertitel versuchen dies widerzuspiegeln: Die Anthropozän-Küche. Matooke, Bienenstich und eine Prise Phosphor – in zehn Speisen um die Welt (Leinfelder et al. 2016). Das Vorhaben einer offenen Narration in komplexer Ausführung, mit vielfältigen partizipativen Elementen sowie Raum- und Zeitsprünge ermöglichender graphischer Ausführung führte damit auch zu umfassenden wissenschaftlichen Recherchen. Auch wurde während des Projekts ein großes Symposium veranstaltet, bei denen Ernährungswissenschaftler/innen, Comic-Theoretiker/innen und -Praktiker/innen sowie das Projektteam und viele Projektillustratorinnen und -illustratoren teilnahmen. Die Ergebnisse wurden als Proceedings veröffentlicht (Leinfelder et al. 2017).
Abbildung 10: Ein Beispiel für die Möglichkeit von Verschränkungen in Comics: Personalisierung (damaliger WBGU-Präsident Prof. Schellnhuber, damaliger US-Präsident Obama), naturwissenschaftliche Information (Treibhauseffekt, wird an anderer Stelle im Comic aufgegriffen und vertieft), wissenschaftsbasierte politische Aussage (Telefonat), Raumskalenverschränkung (Erde: global, Schellnhuber: lokal, Obama: Washington) sowie emotionale Bildmetapher Fiebrige Erde (in gewisser Anlehnung an den „armen Poeten‘ von Carl Spitzweg). (Aus Hamann et al. 2013)
Box 3: Phosphate – Gewinnung – Verarbeitung – Nutzung – Verschmutzung27
In einer gewissen Geschwindigkeit in Form von Guano grundsätzlich „nachwachsendes“ Phosphat ist längst abgebaut. Ganze Inseln wurden dazu umgestaltet und teilweise entvölkert. (Zur tragischen Geschichte des Phosphatabbaus auf den Pazifikinseln Banaba und Nauru siehe z.B. Ellis 1936, Folliet 2011, Jaramillo 2016, Teaiwa 2015, 2017.) Insbesondere die Landwirtschaft benötigt heute enorme Mengen an Phosphaten, welche fast ausschließlich aus wenigen fossilen und endlichen Vorkommen der Kreide- und Alttertiärzeit abgebaut werden, mit einer gewaltigen, geopolitisch bedeutsamen Monopolstellung in der heute an Marokko angegliederten Westsahara (USGS 2016). Der Abbau dieser Vorkommen ist technisch aufwendig und wegen der vielen assoziierten Schwermetalle enorm umweltkritisch (e.g. BGR 2013, PotashCorp 2014, Benjelloun 2016). Obwohl also Phosphat eine sehr endliche geologische Ressource darstellt, bringt der Mensch zwischenzeitlich mehr in den Phosphatkreislauf ein, als die Natur an Phosphat aus Verwitterung und natürlichen Recyclingprozessen zur Verfügung stellt. Somit gelangt nun also mehr als das Doppelte des vorindustriellen Werts an reaktivem Phosphor in die Umwelt, womit die planetarische Grenze für den Phosphorkreislauf (sensu Rockström et al. 2009 und Steffen et al. 2015) bereits überschritten ist. In Deutschland gingen zwar die Phosphatkonzentrationen in Fließgewässern durch den Stopp der Verwendung von Phosphaten für im Privathaushalt verwendete Waschmittel sowie durch verbesserte Kläranlagen deutlich zurück, allerdings nahmen die Ausflüsse aus der Landwirtschaft weiter zu. Insgesamt haben landwirtschaftliche Prozesse den größten Anteil an den Phosphateinträgen in die Umwelt (Meier 2017).
Als Beispiel für weitere Rechercheergebnisse sei ein kurzer Text zum Thema Phosphate – Gewinnung – Verarbeitung – Nutzung – Verschmutzung eingefügt, um die Komplexität und Querverbindungen zu anderen Themen exemplarisch aufzuzeigen (Box 3).
Viele Beispiele aus dem Buch, auch zur Storyboard-Erstellung und zum Gesamtprojekt finden sich auf den Projektwebseiten28. Das Buch wird häufig im Unterricht zur Projektarbeit verwendet, bevorzugt für Jahrgangsstufe 9 und 10 bzw. Sekundarstufe II, aber teilweise sogar für den Grundschulunterricht. Auch hierzu wurden wieder Lehrerhandreichungen erstellt (Hamann et al. 2017), die kostenlos verfügbar sind29. Neben vielen weiteren Einsatzmöglichkeiten wurden in den Handreichungen insbesondere die schulische Anwendung im Projektunterrichtformat „Zukunftswerkstatt“ angeregt und ausführliche Erläuterungen dazu gegeben. Die Evangelische Schule Berlin Zentrum war auf dem Kirchentag 2017 in Berlin sogar mit einem Kochstand zur Anthropozän-Küche vertreten, kochte vor Ort zwei Rezepte aus dem Buch nach (Rezepte aus Uganda und Indien) und bot zudem noch Insekten als Zukunftsfood zur Verkostung an. Den Interessierten wurden dazu viele, zuvor anhand des Buchs im Unterricht erarbeitete Anthropozän-Themen erläutert30.
Beispiel 4: Stoffgeschichten als Comic. Kurz erwähnt sei das bemerkenswerte Comic-Projekt der Universität Augsburg Stoffgeschichten – Flatscreen & Co. mit dem innovativen Webcomic High Five (Anderle et al. 2019)31. Der von Martyna Zalalyte illustrierte Comic erzählt die Geschichte der 13-jährigen Toni, deren Smartphone auf den Boden fällt und zerbricht. Beim Versuch es aufzuheben, schrumpft sie plötzlich und wird ins Innere des Smartphones gesogen. Auf ihrer Suche nach einem Ausgang trifft sie auf fünf chemische Elemente: Gold, Palladium, Indium, Europium und Neodym. Sie geben Toni einen spannenden Einblick in ihre eigene Geschichte. Gleichzeitig erhält sie umfangreiche Einblicke in die Stoffkreisläufe der Elemente, ein wesentliches Thema im Anthropozän (op cit.). Dieser Sachcomic, der stark auf fiktive Elemente setzt, verwendet ein neues Format, das des Webcomics, der kontinuierlich scrollbar ist, dabei teils linear, teils vertikal, so dass nun Erzählstränge betont sind und Spannung gut aufgebaut werden kann. Der lange Erzählstrang ist aber auch in Einzelcomics zerlegbar, die dann als pdf verfügbar sind. Der Webcomic erlaubt damit sowohl einen guten Einstieg in weiteren Unterricht rund um das Thema nicht nachwachsende Ressourcen, kann aber auch direkt zentral im Unterricht, etwa als Recherchegrundlage, verwendet werden. Alternativ könnten ähnliche Projekte auch selbst analog generiert werden, etwa auf langen Papierrollen, welche horizontal und/oder an einer Wand befestigt werden.
Beispiel 5: Scribble-Comics als Imaginationsauslöser: Ein häufiger Einwand gegen Verwendung graphischer Formate, gar Cartoons oder Comics lautet „Ich kann nicht so gut zeichnen“. Die eigene Erfahrung mit Seminaren in der Hochschullehre und in Schulprojekten ist, dass viel zeichnerisches Potenzial vorhanden ist. Aber auch mit einfachsten Strichfiguren und Scribbles ist sehr vieles machbar. Eine Websuchabfrage nach „Strichmännchen“, „Strichmännchen-Comics“, „Sketchnotes“ oder „Comics zeichnen“ ergibt eine Fülle von Beispielen und jede Menge Anleitungen. Der Verfasser dieses Artikels erstellte gemeinsam mit einer Graphic-Recorderin und graphischen Moderationsspezialistin die Visualisierung eines Konzeptes für das Futurium (vormals Haus der Zukunft) in Berlin für die Öffentlichkeit (Leinfelder & Föhr 2015). Einige Beispiele sind auch in den vorliegenden Beitrag eingestreut (siehe Abb. 13, 14). Auch der Verfasser selbst scribbelt Abbildungen für Vorträge oder Vorlesungen und zwischenzeitlich sogar für Publikationen (etwa Abb. 2, 8, 9 in diesem Beitrag). Zuerst aus Zeitnot geboren, wurde durch Publikumsreaktionen schnell klar, dass diese Form der Darstellung Vorteile gerade auch bei Zukunftsfragen hat. Die Visualisierung möglicher „Zukünfte“ in Form einfacher Strich- oder Aquarellgraphiken erscheint nicht mehr so autoritativ abgeschlossen, sondern viel offener und dadurch auch weniger fremd. Solch einfache Graphiken visualisieren weniger, sondern dienen eher als Anregung für eigene, aktive und kreative Imagination.
Abbildung 11: Comic-Darstellung von Phosphatabbau und Transport zur Küste in Marokko, Westsahara. (Grafik Zineb Benjelloun, Aus Die Anthropozän-Küche [Marokko-Kapitel], Leinfelder et al. 2016, S. 48)
Als Anregung für den möglichen Einsatz von Comics für Anthropozän-relevante Themen im Schulunterricht böten sich damit etwa folgende Formate an:
• Komplexe Anthropozän-Themen anhand vorhandener Sachcomics erarbeiten (siehe dazu auch Abschnitt 3.3);
• Sachcomics zum Anthropozän analysieren, Faktencheck durchführen, Evaluation, evtl. in Form von Umfragen zur Verständlichkeit, zum Erhalt der Komplexität, zur Motivation des Arbeitens damit erstellen;
• aus erlerntem oder selbst recherchiertem Stoff oder auch aus eigenen Beobachtungen zu Anthropozän-Themen selbst Comics erstellen, ggf. auch in Kooperation verschiedener Fächer mit dem Kunstunterricht;
• Graphic Recordings zu einzelnen Schulstunden erstellen (alternativer „Mitschrieb“).32
Eigene Ausstellungen zum Anthropozän lassen sich im Unterricht konzipieren und ggf. dort oder auch andernorts umsetzen. Die Themen sollten zuvor im Unterricht behandelt worden sein. Mögliche Formate und Themen könnten Folgendes beinhalten:
• Kunstprojekte: Ausstellungen aus selbstgesammeltem Plastikmüll33, aus selbsterstellten Upcycling-Produkten34, zu Slow Fashion35, aus selbstgehäkelten36 oder selbstgebastelten Objekten, aus selbst erstellten Sachcomics u.v.m.
• Fotoausstellungen zum Anthropozän mit selbst erstellten Fotos37;
• komplette Erstellung eigener wissenschaftlicher Ausstellungen (am besten in Kooperation mit den Wissenschaften)38.
Selbstverständlich sind auch weitere Formate geeignet, um Anthropozän-Themen adäquat zu viualisieren, dies könnte das Planen, ggf. auch Anlegen von Wanderwegen mit Anthropozän-Objekten und graphischen Tafeln umfassen, aber auch Videoprojekte39 oder Video-podcasts40.
3.3 Partizipation und Design Thinking im Anthropozän
Partizipationsprojekte, insbesondere in der Form von Citizen Science, sind heute gut etabliert und umfassen eine enorme Bandbreite von Inhalten und Formaten (Finke 2014). Ursprünglich als Unterstützung von Wissenschaften in der Datengewinnung gedacht, finden sich partizipative Tätigkeiten überwiegend, aber nicht ausschließlich in naturwissenschaftlich-technischen Bereichen (ehrenamtliches Museumspersonal, Vogel- und Schmetterlingsmonitoring durch Privatpersonen und vieles mehr). Moderne Citizen Science-Projekte haben teilweise erheblichen Umfang und technische Unterstützung durch Smartphone-Apps. Ohne ehrenamtliche Unterstützung wären viele wissenschaftliche Projekte gar nicht leistbar, exemplarisch genannte seien das Mückenatlas-Projekt41 oder das seit 1996 laufende weltweite Reefcheck-Projekt42, ohne welches die Riffwissenschaften nicht über die starke globale Gefährdung der Korallenriffe erfahren hätten und bis heute nicht alleine das notwendige Monitoring betreiben könnten. Citizen Science-Projekte unterstützen aber nicht nur die Wissenschaften in wesentlicher Weise bei ihren Aufgaben, sondern sind auch sehr geeignet, um Vertrauen in die Wissenschaften auszubauen und diese zu „legitimieren“. Die Teilnehmenden tragen zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bei, dies motiviert und unterstützt das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeitserfahrung – „ich kann etwas Sinnvolles tun und bin Teil des Teams“ (siehe dazu auch Leinfelder 2013a). Neben Monitoring- und Kartierungsprojekten gibt es viele andere partizipative Formate mit jeweils stark unterschiedlicher Expertenbeteiligung – das Format ist also anpassbar. Im schulischen Bereich sind auch Schülerlabore weit verbreitet, die häufig von Hochschulen zur Verfügung gestellt und betreut werden und zu Unterrichtszwecken vielfältig nutzbar sind. Beim Bundesverband der Schülerlabore LernortLabor43 findet sich eine aktuelle Zusammenstellung der Möglichkeiten für die MINT-Nachhaltigkeitsbildung (LeLa 2018). Auch der Design-Thinking-Ansatz enthält viele partizipative Elemente.
Insgesamt erscheinen gut designte partizipative sowie Design-Thinking-basierte Projekte hervorragend geeignet, um
• Motivation auch zur Beschäftigung mit komplexen Themen zu erzeugen;
• sich mit der „Gesamtheit“ einer Situation zu befassen, also vernetztes, systemisches Denken und Handeln einzuüben;
• aus vernetztem Denken Problemlösungsschritte zu generieren (vgl. Gomez & Probst 2001):
• Zusammenhänge und Spannungsfelder der Problemsituation verstehen;
• Zusammenhänge und Spannungsfelder der Problemsituation herstellen;
• Gestaltungs- und Lenkungsmöglichkeiten erarbeiten;
• mögliche Problemlösungen beurteilen;
• Problemlösungen umsetzen und verankern.
Derartige Bildungsansätze erscheinen wesentlich, um nicht nur Komplexität des vernetzten Systems von Ökosphären mit der Anthroposphäre, sondern auch mögliche integrative Handlungsoptionen und deren Umsetzungen zu vermitteln bzw. anzuregen. Dies steht im Einklang mit der vom WBGU vorgeschlagenen Transformationsbildung, welche ebenfalls dazu befähigen soll, globales Verantwortungsbewusstsein zu reflektieren, systemisches Denken zu fördern und daraus ein systemisches Verständnis der Handlungsoptionen zu generieren (WBGU 2011). Dadurch wird der Gesellschaft Wissen über Umweltprobleme zur Verfügung gestellt und diese zu gesellschaftlicher Teilhabe sowie zu politischem Handeln angeregt. Der WBGU schlägt dazu vor, im Unterricht einen Bezug zu Schlüsselfaktoren der Transformation herzustellen, indem transformationsrelevante Themen fächerübergreifend bzw. fächerverbindend behandelt werden, so dass systemisches Denken alltagsnah erfahrbar und Wirkzusammenhänge nachvollziehbar gemacht werden (siehe z.B. Pelletier et al. 1998; Pintrich 2003; Gormley 2011, WBGU 2011).44
Jeweils ein Beispiel aus dem eigenen Umfeld des Verfassers sei nachfolgend kurz vorgestellt.
3.3.1 Schulisches Anthropozän-Umweltmonitoring – ein Fallbeispiel für die Förderung vernetzten Denkens
Ausgangspunkt für eine in der Arbeitsgruppe des Verfassers durchgeführte Dissertation war die Beobachtung, dass auch an Schulen komplexe Themen oftmals nicht in der notwendigen systemischen Vernetzung behandelt werden, sondern abgesehen von einigen Querschnittsthemen (wie dem leider oft nur als „add-on“ in Projektunterricht behandelten Thema Nachhaltigkeit) für linearen Fachunterricht vielfach zu kleinteilig heruntergebrochen werden. Daher wurde in einem interdisziplinären partizipativen Projekt zum Biodiversitätsmonitoring untersucht, ob dies systemisches Denken positiv beeinflussen kann.
Im Rahmen dieser Dissertation (Rost 2014) wurde mit Berliner Schulen ein fächerübergreifendes Umweltmonitoring erarbeitet und ausgewertet. Dazu wurden vier fächerübergreifende „Forscherhefte“ (Tiere, Pflanzen, Meteorologie, Boden) als Benutzeranleitung erstellt und in Kooperation mit dem Museum für Naturkunde Berlin eine unterstützende datenbankbasierte App angepasst. Die Forscherhefte beinhalten Aufgaben, die wie Arbeitsblätter gestaltet und austauschbar sind. Zum Konzept gehört auch, dass die Schüler/innen ihre Forschergruppe frei wählen durften, jedoch die Lehrkräfte hier ggf. moderierend eingreifen, um auf vergleichbare, miteinander im Austausch stehende Gruppengrößen zu kommen. Jede/r in der Gruppe bekommt ein eigenes Forscherheft, es gibt aber auch ein Gruppenforscherheft, in welches die Lösungen erst nach Einigung in der Gruppe kommen. Auch die Schwierigkeitsstufen der Aufgaben sind erkennbar, es gibt Pflicht- oder Wahlaufgaben, manche Aufgaben können auch als Hausaufgabe gelöst werden, andere nur durch Feldversuche. Insgesamt sollen die einzelnen Gruppen ihre Arbeiten möglichst selbstständig planen und durchführen können, Lehrkräfte werden nur für eventuelle Moderations- und ggf. Aufsichtsaufgaben benötigt. Der jeweils letzte Arbeitsauftrag besteht darin, eine Vernetzung zwischen den Themen der Gruppe aus Sicht der eigenen Forschergruppe herzustellen.
Die Auswertung erfolgte mit Hilfe von Concept Maps mit Pre- und Posttest. Der Pretest unterstrich, dass die Probandengruppe und die Kontrollgruppe genügend homogen waren. Der Posttest ergab, dass die Probandengruppe deutlich höhere positive Wissenszuwächse erfahren hat als die Kontrollgruppe. Qualitativer und quantitativer Fachwissenszuwachs und Entwicklung des systemischen Denkens konnte mit den Concept-Map-Methoden eindeutig und statistisch signifikant erkannt werden. Die zusätzliche Projektevaluierung durch die beteiligten Schüler/innen sowie durch die Lehrkräfte anhand klassischer Fragebögen (mit Likert-Kategorien) ergab, dass das Projekt in all seinen Facetten gut bis sehr gut angekommen ist.
Das Projekt wurde so designt, dass es selbstständig nicht nur auf Schulgärten, sondern auch in öffentlichen Parks oder auch im ländlichen Bereich gut durchführbar ist und auch nicht nur als einmalige Aktion, sondern über mehrere Schuljahre hinweg mit unterschiedlichen Gruppen fortführbar ist. Die Dissertation von Anneli Rost ist frei online verfügbar45.
3.3.2 Design Thinking
Design Thinking ist eine systematische Herangehensweise an komplexe Problemstellungen aus allen Lebensbereichen. Im Gegensatz zu vielen Herangehensweisen in Wissenschaft und Praxis, die Aufgaben von der technischen Lösbarkeit her angehen, steht hier der Mensch im Fokus.
Design Thinking ermöglicht es, traditionelle und veraltete Denk-, Lern- und Arbeitsmodelle zu überwinden und komplexe Probleme kreativ zu lösen. Es schafft in Organisationen die Kultur, die benötigt wird, um die digitale Transformation zu meistern.
So lautet die kurze Einführung in diese Methode auf den Seiten der School of Design Thinking des nach dem Entwickler der Methode benannten Hasso-Plattner-Instituts.46
Die Methode basiert (1) auf kleinen multidisziplinären Teams, damit möglichst viele verschiedene Ideen generiert werden können; (2) auf einer flexiblen Arbeitsumgebung, zur Erleichterung kreativen und kommunikativen Arbeitens und (3) auf einem speziellen „Innovationsprozess“, der auf sechs verschiedenen Phasen basiert und oftmals iterativ abläuft. Nach Dorst (2006) wird dadurch insgesamt analytisches Denken mit kreativen Umsetzungen – „Design“ – verbunden. Die Methode eignet sich insbesondere für komplexe Problemlagen, indem sie vielfältige Lösungsideen generiert, diese jeweils analysiert, evaluiert und darauf basierend immer weiter optimiert werden können.
Dieses methodische Vorgehen eignet sich hervorragend auch zur kreativen Behandlung komplexer Anthropozän-Themen in schulischen Projekten. Für den in Abschnitt 3.2.2 bereits vorgestellten, auf dem WBGU-Transformationsgutachten (WBGU 2011) basierenden Sachcomic zur Großen Transformation (Hamann et al. 2013) wurden Lehrerhandreichungen erstellt, die neben Anregungen und Vorschlägen zur Behandlung der dort vorgestellten Themen im fachspezifischen, fächerübergreifenden und projektbasierten Unterricht für letzteren auch die Design-Thinking-Methode aufgreifen (Zea-Schmidt & Hamann (2013). Zur Anpassung an den schulischen Unterricht wurde der sechsphasige Innovationsprozess der Methode um zwei weitere Phasen ergänzt, um möglichst abgeschlossene Projekte zu ermöglichen (Abb. 12).
Abbildung 12: Das Design-Thinking-Konzept eignet sich auch für schulischen Projektunterricht. (Aus den Lehrerhandreichungen zum Transformationscomic, Zea-Schmidt & Hamann, 2013). Näheres siehe Text.
Mit dieser Methode können einzelne Buchkapitel, einzelne im Buch angesprochene Aspekte oder auch das gesamte Buch bearbeitet werden. Die jeweiligen Buchkapitel behandeln (1) Warum wir uns transformieren müssen, (2) Die Erde in der Menschenzeit, (3) Heiße Sache: Klimawandel, (4) So blöd sind wir gar nicht. Blick auf die Vergangenheit, (5) Technisch geht alles, (6) Eine Aufgabe für die ganze Welt, (7) Wer soll das bezahlen? (8) Auch der Staat ist gefordert, (9) Die Politik schafft das nicht allein. Damit werden im Buch sowohl der gesamte Problemaufriss (1, 2) – unter Vertiefung des Klimathemas (3) –, aber auch Mutmacher (4) sowie technische, politische und zivilgesellschaftliche Lösungsvorschläge (5–9) behandelt, was in einem Design-Thinking-Projekt gut weiter aufgearbeitet werden kann. Sehr viele Vorschläge zum Vorgehen für die einzelnen Phasen in schulischen Projekten finden sich in Zea-Schmidt & Hamann (2013). Lesen, diskutieren, Feldforschung durchführen, Rollenspiele, um verschiedene Sichtweisen zu finden, kreatives Brainstorming für Lösungsideen, Basteln und Designen von Prototypen, Einbeziehung anderer für den Test und auch noch eine Umsetzungsphase mit danach anschließendem oder auch später erfolgendem Evaluieren und Reflektieren, was noch besser gemacht werden könnte (Abb. 12).
Auch können sich aus den Buchthemen ergebende weitere relevante Themen behandelt werden, etwa um ein Ernährungs- und Recycling-Konzept für die Schule oder einen Vorschlag zur besseren Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens in allen Schulbereichen zu erarbeiten.
3.3.3 Weitere Formate
Viele weitere Formate im partizipativen und problemlösungsorientierten Kontext sind möglich, sie reichen von Theatervorführungen über Beteiligung an öffentlichkeitswirksamen Schulprojekten bis hin zur Entwicklung von Lernspielen, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann.
3.4 Wünschbare Zukünfte für das Anthropozän erarbeiten
Bei den vorhergehenden Anregungen für schulische Projekte eignet sich der anthropozäne Bezug insbesondere für Zustandsbeschreibungen und Analysen von Problemlagen im Anthropozän (z.B. Monitoring-Projekte, Reflexionsprojekte, Prozessverständnis-Projekte etc.). Zwar können auch Lösungen reflektiert und konzipiert werden (ggf. auch in künstlerischen Projekten), insbesondere wenn neue Einsichten erreicht sind. Dennoch erschöpft sich dies doch in der Regel in appellativen Aufforderungen (etwa bei der Verwendung von Metaphern und Narrativen) oder Detaillösungen, die für den Moment und den Fokus sinnvoll erscheinen. Gerade die konsequentiale Metaebene des Anthropozäns erfordert jedoch auch ein Vordenken a) im Sinne der Erstellung von Szenarien auch für entferntere Zeiträume, b) wie Pfade dorthin aussehen könnten, c) welche Schritte dafür jetzt gegangen werden müssen und d), wie bzw. ob dies alles auch ein gutes Leben für alle mit sich brächte. Dass Derartiges schwierig anzugehen ist, wird gerade auch durch die Klimakrise besonders ersichtlich. Ursachen für Verschiebungs- und Vermeidungsstrategien gibt es viele – etliche davon wurden hier bereits erwähnt (vgl. Abb. 5). Herausgegriffen sei nochmals die in unserer westlichen Kultur des „richtig oder falsch“, „gut oder böse“, „Natur oder Kultur“ erlernte duale Denkweise. Selbst wenn verschiedenste Lösungsansätze für ein Problem vorhanden sind und möglicherweise Kombinationen davon durchaus denkbar wären, geht unser Diskursansatz doch meist in die Richtung, die eine angeblich richtige Lösung aus diesem Angebot zu finden, mit dem Effekt, dass es häufig überhaupt keine Entscheidung gibt. Auch sind unsere Zukunftsvorstellungen stark von Science Fiction geprägt, bei der es in der Regel dann eben einem Helden gelingt, ungeahnte Probleme doch noch „aus der Welt“ zu schaffen. Weder gibt es derartige Helden oder „Silver Bullets“ – dazu sind die anthropozänen Problemlagen viel zu komplex –, noch können wir Probleme in der Regel wirklich „aus der Welt“ schaffen, sie bleiben meist sehr lange eine zu überwachende Herausforderung (etwa Klimakrise, Biodiversitätskrise oder auch die SARS-CoV-2-Krise). Viele Lösungen waren zu ihrer Zeit überaus hilfreich, kreierten im Laufe der Zeit jedoch neue Probleme (etwa Dampfmaschine, Verbrennungsmotor).
Die klassische Zukunftsforschung beschränkt sich häufig auf Trendforschung, also dem Fortschreiben schon bekannter, existierender Entwicklungen. Häufig werden mit der sogenannten Delphi-Methode Expertinnen und Experten aus Technik, Politik und Sozialwissenschaften befragt, wie sie die Trendausweitung sehen. Meist wird hier allerdings sehr sektoral vorgegangen. Technologischen Trendvorhersagen mangelt es oft an der notwendigen Kombination mit soziologischen Vorhersagen, denn nur weil etwas machbar ist, wird es nicht automatisch umgesetzt. Kein Wunder, dass viele Trendvorhersagen zwar nicht grundsätzlich falsch liegen, aber eben doch gerade die Zeitabläufe der Innovationsschritte oft sehr falsch eingeschätzt werden. Und da sich viele andere, die gesellschaftliche Beachtung finden, gerne auch aus einem Bauchgefühl heraus zur Zukunft äußern, stimmen natürlich gerade solche unwissenschaftlichen, emotionalen „Glaskugelvorhersagen“ in aller Regel überhaupt nicht – gerne werden solche Beispiele auch zitiert, um Zukunftswissenschaften in Misskredit zu bringen, es gibt sogar Sammlungen solcher, auch historischer Zitate (z.B. „Zitate ganz berühmter Irrtümer“ in Hehmerin 2016). Für weitergehende Ausführungen für diese oftmals mangelhafte Zukunftskompetenz siehe ggf. auch Leinfelder 2013a, 2015, 2019, 2020b).
Es ist damit nicht sehr verwunderlich, dass sich bei all den tatsächlichen oder auch nur gefühlten Problemlagen des persönlichen Bereichs viele nicht mit der Zukunft in einem breiteren und tieferen Aspekt beschäftigen möchten, sich mit vielfältigen Ausreden (siehe Abb. 5) aus der Verantwortung auch für die Zukunft nehmen wollen oder gar die Vergangenheit verklären und möglicherweise für die Parolen rückwärtsgewandter Gruppen oder auch verschwörungstheoretischer Propaganda aufgeschlossen sind.
Gerade die Anthropozän-Thematik erfordert aber wegen ihrer „Alles-hängt-mit-allemzusammen“-Komplexität eine Blickwinkel-Öffnung und Offenheit für ggf. auch unerwartete Zukunftsoptionen. Zukunftskompetenz sollte sehr früh, also auf alle Fälle im schulischen Unterricht angelegt werden. Schulische Bildung kann mit dem Thema Lösungen für die Zukunft im Anthropozän eine Stärkung der fundierenden psychischen Ressourcen Selbstwirksamkeit, Genussfähigkeit und Selbstakzeptanz, bei gleichzeitiger Entwicklung der zielbildenden physischen Ressourcen Achtsamkeit und Genussfähigkeit bewirken. Dies fördert nach Hunecke (2013) durchaus auch eine Sinnkonstruktion für ein persönliches Leben (vgl. auch Leinfelder 2018 für weitere Ausführungen).
Die Blickwinkel-Öffnung für die Zukunft muss allerdings eingeübt werden. Hierzu ist es sinnvoll, nicht nur über wahrscheinliche, also trendbasierte, prognostische Zukunftswege zu reflektieren, welche in der Regel nur einen „Business as usual“-Weg modulieren. Zusätzlich sollten mögliche Zukünfte47 konzipiert werden, um daraus wünschbare Zukünfte abzuleiten. Letztere können auch durchaus sehr imaginative und visionäre Szenarien sein, um dann zu überlegen, ob es Pfade dorthin geben könnte.
Allerdings ergeben sich bei den wünschbaren Zukünften zwei Problemlagen:
a) Unter Solidaritäts-, Gerechtigkeits- und ökologischen Aspekten ist nicht alles Wünschbare sinnvoll, also erdsystemverträglich, solidarisch und gerecht. Das Möglichkeitsfenster sollte insbesondere durch die Planetarischen Grenzen und die vereinbarten Nachhaltigkeitsziele der UN, bei denen alle drei Aspekte verknüpft sind (UNSDGs 2015) aufgespannt werden. Es bleibt aber immer noch sehr viel Raum für verschiedenste Pfadmöglichkeiten.
b) Die Wunschforschung zeigt auf, dass Unbekanntes schwer wünschbar ist (siehe Helbig 2013, Fischer 2016). Um sich etwas wünschen zu können, muss dies vorstellbar sein. Dazu sollten Teilbereiche wünschbarer Szenarien einerseits ausprobiert werden, andererseits auch in ein großes Gesamtbild einfügbar sein. Dazu muss dieses narrativ erzählt oder noch besser zumindest in einer die Vorstellung anregenden Weise visualisiert werden, wozu etwa einfache Strichzeichungen oder Modelle genügen können (siehe Abschnitt 3.2.2).
Box 4: Zukunftspfade – ein Selbstgespräch im Anthropozän48
Wie könnte ein Weg in die Zukunft nur aussehen?
Fast alle sind sich ja einig, dass der Pfad eines weiter wie bisher nicht funktioniert, Umweltkrise, soziale Ungerechtigkeiten, Ressourcenausbeutung, das geht nicht mehr lange gut. Also ja, das müssen wir ändern, bloß wie? Vielleicht sollten wir einfach dort reagieren, wo die Probleme schon ziemlich weh tun? Etwa indem wir Küstendämme höher bauen, ganze Gebiete aufgeben, bevor das Meer immer wieder über uns kommt? Oder Müll, CO2 und sonstige Verschmutzungen versteuern, weniger Essen wegwerfen, neue, an den Klimawandel angepasste Züchtungen kreieren? Dies wären einige Beispiele eines reaktiven Pfads in die Zukunft.
Wir könnten aber auch gleich ein Leben des „weniger ist mehr“ pflegen. Nur lokale und saisonale Lebensmittel verwenden? Viel weniger Fleisch verzehren oder gleich vegan werden? Fahrrad oder öffentliche Verkehrsmittel, die wir dann auch ausbauen müssten, statt Auto? Überhaupt viel weniger produzieren und transportieren? Diesen suffizienten Pfad finden viele gut, für andere ist er aber nur schwer vorstellbar.
Oder können wir nicht einfach von der Natur lernen? Uns „bioadaptieren“, alles wiederverwenden, Kreislaufwirtschaft betreiben? Manche sehen hier bereits eine neue, wachstumsstarke Überflussgesellschaft kommen. Alle Ressourcen werden dann aber immer wieder verwendet, die Energie, um sie immer wieder zu zerlegen und neu zusammenzubauen, stammt dann natürlich nicht aus fossilen Quellen, Verpackungen sind kompostierbar oder gar essbar. Apropos Essen, wie wäre es für Nicht-Vegetarier mit Insekten als Nahrung? Gesund, schmackhaft, leicht züchtbar, sehr kleiner ökologischer Fußabdruck, und zwei Milliarden Menschen essen sie. Ja, unsere kulturelle westliche Prägung macht dies für viele schwer vorstellbar. Aber insgesamt hat dieser bioadaptive Pfad – wenn wir nicht gleich alle Insekten essen müssten, sondern diese vielleicht eher in der Fischzucht verwenden – viele Befürworter. Auch die Verkehrswende gehört dazu. Elektromobilität in Verbindung mit CarSharing, und natürlich insbesondere auch Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel.
Und noch einen Pfad kann ich mir vorstellen, den Hightech-Pfad. Die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen wird in Zukunft in Städten leben. Warum lassen wir dann nicht die Natur viel stärker in Ruhe und produzieren alles, was wir brauchen, in den Städten, auch die Nahrung, etwa in Farmhochhäusern, den „Farmscrapers“. Also Urban High Tech. Das Fleisch stammt aus dem Labor, kein Tier muss dann dafür sterben. Die erneuerbare Energie wird durch Fensterscheiben generiert. Die Verkehrsmittel laufen autonom. Drohnen und die wenigen Flugzeuge fliegen mit Solarstrom, größere mit Algensprit. Übers Land und durch die Ozeane fahren in Vakuumröhren autonome Magnetbahnen, die kaum Energie brauchen und diese beim Abbremsen zu einem Gutteil wieder rückgewinnen. Brave new world! Ach du liebe Zeit! So manches hier kann ich mir gut vorstellen, und zwar aus den verschiedensten Zukunftspfaden. Anderes aber eher gar nicht. Ich bin mir sicher, anderen geht es ähnlich, aber vermutlich wollen auch etliche das, was ich mir nicht vorstellen kann, zumindest jetzt noch nicht. Aber andererseits, tut gut, mal so radikal über diese verschiedenen Pfade nachzudenken. Okay, ich muss mich ja nicht für einen Pfad entscheiden, da schließt sich doch nicht alles gegenseitig aus. Wir könnten ja einfach mal verschiedene „Zukünfte“ mit kleinen Versuchen und Prototypen ausprobieren. Wenn dies viele machen, könnten wir doch geeignete, gemischte Lösungen zusammenstellen – gemeinsam, uns gegenseitig achtend, ohne Rechthaberei und „geht gar nicht“-Argumentation. Einfach mal loslegen, falls notwendig passen wir halt immer wieder an, aber loslegen müssen wir jetzt. Wir können nicht noch Jahrzehnte nach dem einzig richtigen Weg suchen, den gibt es nämlich sowieso nicht. Ich sehe schon, das Anthropozän fordert uns alle heraus – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, zivilgesellschaftliche Gruppen und jeden einzelnen – Verantwortung zu übernehmen. Aber nicht nur das, wir beteiligen uns einfach wissensbasiert, gleichsam gärtnerisch an der Zukunftsgestaltung! Das wird klasse. Und ich bin mir sicher, dass wir damit uns und allen, die nach uns kommen, ein freies, selbst gestaltbares, zukunftsfähiges und vor allem lebenswertes und kreatives Zeitalter ermöglichen. Willkommen im Anthropozän – jetzt geht’s los!
Zur Erarbeitung wünschbarer Zukünfte ist die Anwendung der Design-Thinking-Methode in modifizierter Weise ebenfalls sinnvoll. So sollten mehrere auch optional wünschbare Zukunftswege erarbeitet werden, um diese auf ökologische, soziale und ethische Kompatibilität zu testen. Wünschbare Zukünfte sind am besten veranschaulichbar, wenn sie in Form idealtypischer Zukünfte „durchdekliniert“ werden, was im Design-Thinking-Ansatz dem Definieren verschiedener Sichtweisen, dazugehöriger Ideen und der Aufstellung verschiedener Prototypen entspricht. Diese sind dann zu testen, was exemplarisch mit Einzelbeispielen aus verschiedenen Lebensweltzukünften geschehen kann. In mehreren iterativen Schleifen können dann innerhalb der verschiedenen Zukunftsszenarien auch Mischungen als Handlungs-Portfolios zusammengestellt werden und durch „backcasting“ einzelne Schritte zum Erreichen eines gesellschaftlich vereinbarten Wunschszenarios geplant werden (Robinson 1988, 2003; Dreborg 1996). In diesem Sinne erstellte der Verfasser vier idealtypische, potenziell wünschbare Zukünfte, denen er ein fünftes, unerwünschtes als Business-as-usual-Szenario gegenüberstellte. Der Ansatz ist, aus folgendem Dilemma herauszufinden: Zwar sind sich die meisten gesellschaftlichen Gruppen grundsätzlich einig, dass ein „weiter-wie-bisher“ nicht möglich erscheint, allerdings spaltet die Frage nach dem richtigen Zukunftsweg nicht nur die Gesellschaft, sondern in Teilen auch die Wissenschaften. Die fünf idealtypischen Zukunftsszenarien sollen also gleichermaßen Diskurs über verschiedene Lösungswege ermöglichen, aber auch einen kooperativen Konsensusprozess sowie daran anschließend eine gemeinsam getragene Erstellung gemischter, bei Bedarf immer wieder modifizierbarer („liquider“) Lösungs-Portfolios aus den verschiedenen Szenarien bzw. den Pfaden dorthin zu ermöglichen. Dazu ist es sinnvoll, die einzelnen Lebensweltbereiche, darunter Energie, Wohnen, Arbeiten, Wirtschaften, Ernährung, Gesundheit, Mobilität in diesem Sinne entlang solcher Szenarien in die Zukunft zu denken. Box 4 sowie Abb. 13, 14 skizzieren derartige mögliche idealtypischen Zukünfte für einige dieser Bereiche. (Näheres zum Konzept, den Beispielen sowie zu weiteren Literaturangaben siehe Leinfelder 2014a, 2016b, 2018, 2020b.) Nachfolgend einige Ideen, wie Lebenswelt-Zukünfte im Unterricht erarbeitet werden können:
Abbildung 13: Die Leinfelder’schen fünf anthropozänen Zukunftspfade, illustriert von Tanja Föhr (aus Leinfelder & Föhr 2015). Näheres siehe Text, Box 4 und Abb. 14.
Abbildung 14: Anthropozäne Zukünfte: Endpunkte der idealtypischen Zukunftspfade als Szenarien für verschiedene Lebenswelt-Themen (Ernährung, Medizin, Energie, Wohnen, basierend auf Leinfelder (2014). Grafik Tanja Föhr (aus Leinfelder & Föhr 2015). Näheres siehe Text und Box 4.
• Abb. 14 zeigt mehrere Lebensweltzukünfte in gescribbelter Fünfeckdarstellung, mit skizzierten Objekten zur besseren Vorstellbarkeit (aus Leinfelder & Föhr 2015); weitere Abbildungen dazu finden sich in Leinfelder (2014a, 2016b). Nach Diskussion des Zukunftsthemas sowie der generellen Einführung in die fünf idealtypischen Zukunftsszenarien (ggf. unter der Verwendung des Texts in Box 4) könnten ähnliche Szenarien für andere Lebensweltbereiche (z.B. Zukünfte der Schule?) in Kleingruppen erstellt und in Form von Texten, selbst gezeichneten Grafiken oder Comics oder kleinen Vorträgen präsentiert werden.
• Fünf Personen (oder fünf Kleingruppen) spielen Sachwalter für je ein Lebensweltszenario (BAU, reaktiv, suffizient, bioadaptiv, high-tech) in einem schauspielähnlichen fiktiven Diskurs oder als interaktiver Alle-gegen-alle-Science Slam.
• Im Kunstunterricht werden 3D-Modelle aus Karton, Ton, Draht usw. erstellt, mit denen man Szenarien besser vorstellbar machen kann.
• Verschiedene idealtypische Lebensweltzukünfte können umfassend zum Thema Ernährung behandelt werden. Dazu eignen sich insbesondere die Lehrerhandreichungen zum bereits weiter oben (Abschnitt 3.2.2) vorgestellten Sachcomic Die Anthropozän-Küche. Dort werden das Konzept der Zukunftswerkstatt ausführlich vorgestellt sowie Perspektivenszenarien behandelt und für den Unterricht aufbereitet. Für das Thema idealtypische Zukunftsszenarien im Anthropozän eignen sich auch cartoonartige Visionskarten, mit denen Visualisierungen möglich sind (für ein Beispiel siehe Hamann et al. 2017)49.
• Auf Doppelseite 203/204 im Sachcomic Die Anthropozän-Küche (Hamann et al. 2016) finden sich die vier idealtypischen Zukunftspfade zur Ernährung in ihrer kompletten Vernetztheit als Abbildung dargestellt, ausgehend von der mittig angeordneten Problemlage (aktuelle Situation bzw. Business as usual). Diese könnte zu umfangreichen Recherchen auch für den Schulunterricht sowie für weitere Formate hilfreich sein.50
• Als Gruppenarbeit könnten auch zukunftspfadtypische Rezepte zusammengestellt, gekocht, verkostet, ressourcenbasierte Fußabdrücke berechnet und bewertet werden. Beispiele könnten sein: lokale, saisonale Kost (Suffizienzpfad), Insektenrezepte51 (bioadaptiver Pfad), vegane fleischimitierende Burger (High-Tech-Pfad) etc. Dies könnte auch in der Schulkantine angeboten werden.
• Postkarten aus der Zukunft schreiben (basierend auf den idealtypischen Zukünften). Beispiele dafür finden sich in Hamann et al. (2016, 206–215).
• Zukunftswünschebefragung im öffentlichen Raum, Auswertung (Wie viele haben sich Dinge gewünscht, die es noch nicht gibt? Wie viele nur Altbekanntes, wie viele Konkretes, wie viele Allgemeinplätze?).
• Und vieles mehr, insbesondere auch zum Thema Zukünfte vorstellbar machen durch Ausprobieren und ggf. Protokollführung.