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1. Das Verhältnis von Gerichtsprophetie und Fremdvölkerorakeln – forschungsgeschichtliche Aspekte

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die Fremdvölkerorakel der biblischen Prophetenbücher innerhalb der exegetischen Zunft nicht in besonders hohem Ansehen. Als zentrales Kriterium für die Qualität eines prophetischen Wortes galt seine »Echtheit« – und hier schienen, speziell mit Blick auf Jeremia, die Dinge ungünstig zu liegen. Bernhard Duhm etwa rechnete die Stücke aus Jer 46–51 pauschal »zu den jüngsten Erzeugnissen der Schriftgelehrsamkeit im Jeremiabuch«1 und datierte sie komplett in das zweite vorchristliche Jahrhundert. Ähnlich betrachtete er auch die entsprechende Sammlung in Jes 13–23, welcher freilich, und darauf wird noch zurückzukommen sein, gleichwohl ältere, ›originale‹ Sprüche als Grundlage gedient hätten.2 Duhm argumentierte dabei, sofern er dies überhaupt explizit unternahm, in erster Linie ästhetisch: In ihrer Stereotypie erschienen ihm die Texte als Produkte reiner epigonaler »Kunst und Gelehrsamkeit«3 – bloßes theologisches Handwerk also und nicht Ausfluss prophetisch-poetischen Genies. Darüber hinaus hatte Duhm aber auch theologische Bedenken: Im Jeremiabuch, so meinte er, bildeten die fraglichen Stücke in ihrer Gesamtheit ein »Komplement der positiven Hoffnung«4 zu den Kapiteln 30–33. Sie seien also durch die Ankündigung von Unheil über andere implizit heilvoll für Israel zu verstehen. Da Jeremia aber ausweislich der Worte des ersten Buchteils und der Erzählungen über ihn ein reiner Gerichtsprophet gewesen sei, könnten Worte, die in der Ankündigung eines üblen Geschicks anderer Nationen eine heilvolle Botschaft für Juda oder Israel transportierten, nicht auf den Propheten selbst zurückgeführt werden. Sigmund Mowinckel brachte diese Sichtweise in seiner Schrift »Zur Komposition des Buches Jeremia« von 1914 dann auf den Punkt: Jeremia war – anders eben als Hananja – »nicht Nabi aus Geschäft, sondern in Geist und Wahrheit«5. ›Geist und Wahrheit‹, die ›Echtheit‹ israelitischer Prophetie, ihr theologisches Proprium – die lagen eben in der Gerichtsprophetie.

Aus dieser Perspektive auf Prophetie und auf die Prophetenbücher des Alten Testaments folgen somit die Völkerorakel sowohl literarisch als auch entstehungsgeschichtlich als auch theologisch auf die und aus der Unheilsprophetie.

Diese Sicht der Dinge änderte sich allerdings unter formkritischen Gesichtspunkten und mit der sukzessiven Entdeckung und Publikation der Archive von Mari und Ninive. Mehr und mehr zeigte sich, dass im altorientalischen Gesamtkontext nicht die Unheilsprophetie, sondern die Heilsprophetie den Normalfall darstellte. Orakeln, die einem König den Untergang seiner Feinde voraussagten, konnte ein klassischer Sitz im Leben am Königshof bei Kriegsgefahr zugeordnet werden.6 So begann sich das Verhältnis nach und nach umzukehren: Mehr und mehr erschienen nicht die Völkerorakel als heilvolle Umkehrung der Gerichtsprophetie, sondern im Gegenteil die Letztere als ein israelitischer Spezialfall, der sich aus der Ersteren heraus entwickelt habe – sei es gattungsgeschichtlich,7 sei es biographisch,8 sei es redaktionsgeschichtlich.9

Mit Blick auf das Jeremiabuch konnte so Hans Bardtke bereits 1935 den Völkerorakeln eine ganz neue Deutung und Bedeutung zuweisen: Sie waren nicht länger Schrifterzeugnisse später Epigonen, sondernwurden nun zu Dokumenten der frühesten Schaffensphase des Propheten selbst. Ehe sich Jeremia zu einem gewissermaßen ›richtigen‹ Gerichtspropheten Jahwes entwickelt habe und in dieses Amt hineingereift sei, habe er die – noch ganz im herkömmlichen Rahmen sich bewegenden – Völkerorakel als seine »Jugendgedichte«10 verfasst. Dieser unter formkritischen Prämissen vollzogene grundlegende Wechsel der Perspektive und, damit verbunden, auch eine neue Einschätzung der relativen wie absoluten Datierung der Einzeltexte wurden bestimmend für die folgenden Jahrzehnte – und sind es bis heute.

Robert Carroll etwa betont in seinem großen Jeremiakommentar von 1986 die »conventional nature«11 von Fremdvölkersprüchen im altorientalischen Kontext und formuliert vor diesem Hintergrund die These, dass die Stücke über den Feind aus dem Norden in Jer 4–10 als die älteste vorfindliche Gerichtsprophetie im Buch aus eben den Völkerorakeln heraus entwickelt worden seien: Die Gattung sei dabei übernommen, die Richtung aber geändert worden. Der ›Feind‹, gegen den JHWH vorgeht, seien nun nicht mehr die anderen, sondern eben Juda selbst, das dadurch theologisch aus der Perspektive Gottes zu einem Fremdvolk herabgestuft werde.12 Dem entsprechend erwägt auch Konrad Schmid in seiner Monographie von 1995, »ob die Unheilsaussagen über die Fremdvölker allererst diejenigen über das eigene Volk angesichts der nahenden Katastrophe motiviert und ausgelöst haben«13.

Am Beispiel der Forschung zum Jeremiabuch zeigt sich also: Das Bild hat sich gedreht. Nicht länger erscheint die Gerichtsprophetie als Matrix für die Entwicklung von Fremdvölkersprüchen, sondern umgekehrt stellen diese die gedankliche und zum Teil wohl auch literarische Grundlage für die Entwicklung jener dar.14

Auf gewissermaßen metaexegetischer Ebene wird dabei deutlich: Die Beurteilung der Gerichtsprophetie beeinflusst nachhaltig die Interpretation der Fremdvölkerorakel – und beide Bereiche erscheinen ihrerseits in unterschiedlichem Licht, je nachdem, auf welche Weise man das altorientalische Vergleichsmaterial komparativ heranzieht.

Womöglich erfassen beide Möglichkeiten, Unheilsankündigungen über Israel und Juda mit Unheilsankündigungen über fremde Völker in Beziehung zu setzen, ein Wahrheitsmoment – je nachdem, welche Einzeltexte in welchen Prophetenbüchern man vor Augen hat. Diese These soll im Folgenden anhand des Beispiels der Worte über Damaskus in Jes 17, Jer 49 und Am 1 überprüft werden. Bevor aber die entsprechenden Abschnitte näher in den Fokus gerückt werden, soll eine weitere Frage aufgeworfen werden. Oben wurde festgestellt, dass in der neueren Prophetenforschung nicht selten die Gattung eines »Orakels gegen ein fremdes Volk« als der Normalfall altorientalischer divinatorischer Praxis angesehen wird. Doch wie »conventional«,15 um mit Robert Carroll zu sprechen, ist die Gattung des biblischen Fremdvölkerorakels im altorientalischen Vergleich wirklich?

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