Читать книгу Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch - Группа авторов - Страница 10
4. Reaktion und Reflexion in Theologie und Kultur
ОглавлениеFür den Protestantismus lassen sich die Vorbehalte gegenüber dem demokratisch verfassten Weimarer Staat besonders deutlich auf dem Feld der Theologie ablesen. Die militärisch-politischen Ereignisse und die allgemeine Krisenstimmung hatten auch die protestantische Theologie mit Wucht erfasst. Die jetzt entwickelte Dialektische Theologie war der Auf stand einer jungen an Kierkegaard geschulten Theologengenerationgegen ihre liberal-theo logischen Väter. Angesichts des eklatant erfahrenen Widerspruchs zwischen dem kulturprotestantischbürgerlichen Ethos des 19. Jahrhunderts einerseits und den morbiden Trümmerfeldern des Weltkriegs andererseits konnte Friedrich Gogarten den Vertretern der liberalen Theologie mit unversöhnlicher Schärfe zurufen: »Heute sehen wir eure Welt zugrunde gehen« [Gogarten, Zeiten, 96]. Der Aufstand der Jungen stürzte den theologischen Liberalismus vom Sockel. Das war eine theologische Revolution. Was daraus folgte, war mehr als eine Reaktion auf Krieg und Krise, es war so etwas wie eine »Generalrevision des Gottesverständnisses« [Nowak, Geschichte, 213], die Wiederentdeckung der Gottheit Gottes durch die Theologen der Krisis.
Dieses neue theologische Denken entfaltete sich im Einflussbereich der in allen Kulturwissenschaften Raum greifenden vehementen Absetzbewegung vom Historismus, der »antihistoristischen Revolution« [Graf, Revolution]. Liberales Denken verstanden als eine lineare Aufwärtsentwicklunghatte die optimistische Weltbejahung der Aufklärung ins 19. Jahrhundert hinübergetragen. Jetzt sah sich der Historismus dem vehementen Vorwurf eines ethischen Relativismus ausgesetzt, er unterbinde die Geltung absoluter Werte und in theologischer Hinsicht damit die Transzendenz.
Es waren insbesondere die Vertreter der Dialektischen Theologie, die in diesem Zusammenhang einen umfassenden Prozess der Enthistorisierung der Theologie einleiteten. Nicht mehr die Leitkategorie der Linearität und des langfristigen geschichtlichen Wandels war für die jungen Theologen bestimmend, sondern man dachte nunmehr in Kategorien einer Äonenwende. Hier kam ein neues Zeitverständnis zur Geltung [Doehring-Manteuffel, 187–190], nicht die kontinuierliche Entwicklung, sondern die Zeitenwende war bestimmend, in sie hinein ragte die Dimension der Ewigkeit. Verbanden sich das neue Ordnungsdenken und der Zeitfaktor »ewig« miteinander, dann erhielten Werte wie Volk, Rasse, Germanentum und mittelalterlichesHeldentum einen absoluten Wert und sogar Transzendenz (1000-jähriges Reich als ewiges Reich). Darin galt das selbstbestimmt handelnde, vernunft- und gemeinschaftsfähige Individuum als Irrtum der in der Aufklärungstradition stehenden liberalen Theologie und wurde liquidiert. Die Gotteslehre war der Schlüssel, sie fasste man neu. Schon in Rudolf Ottos Werk »Das Heilige« von 1917 war in Abkehr von der rationalisierenden und ethisierenden Religionsauffassung des Liberalismus ein neues Verständnis von Gott als dem »ganz anderen« erkennbar geworden. Nach dem Ende des Krieges war der Blick wieder frei geworden für den absoluten Gott. Der »unendlich qualitative Unterschied« (Kierkegaard) zwischen Mensch und Gott wurde mittels intellektueller Kreativität schließlich offenbarungstheologisch überbrückt. In dem die Dialektische Theologie kein Interesse für die Kategorie der Individualität aufbrachte, konnte sie auch zur demokratischen Staatsform und ihren neuzeitlichen Politikelementen, die auf ein politisch selbstbestimmtes Individuum setzten, keinen Zugang finden. Eine so konzipierte Theologie hatte es infolgedessen schwer, sich in die Moderne der Weimarer Gesellschaft ein zu fügen. Die Frage der Vermittlung zwischen beiden Bereichen jedenfalls blieb unzureichend reflektiert.
Das galt auch für die Ordnungstheologie. Dieses theologische Konzept fügte sich exakt in den gesellschaftlichen und politischen Kontext des Protestantismus der Weimarer Zeit. Diese seit Beginn der 1930er Jahre aufkommende theologische Konzeption speiste sich aus dem Bedürfnis der Stabilisierung der in der Weimarer Republik vermeintlich in der Auflösung begriffenen Welt. Paul Althaus bestimmte die politische Funktion seiner Ordnungstheologie folgendermaßen: »In einer Zeit, die alle Ordnungen in Frage stellte, verkannte, zersetzte, hat die Theologie einen entschlossenen Kampf geführt gegen den individualistischen und kollektivistischen Angriff« [Althaus, Theologie, 42]. Dieses mit dem ersten Glaubensartikel begründete kongruente Verständnis von göttlicher und weltlich-politischer Ordnung ermöglichte die Einbindung nationaler Werte und Ordnungen in das theologische Denken (neben Althaus vor allem Hirsch). Das führte im konservativen Luthertum zu einem überhöhten und moralisierenden Staatsideal, das gewissermaßen den legitimatorischen Übergang vom Abgesang der zerfallenden Weimarer Republik hin zur lautstarken Begrüßung des NS-Staats moderierte.
Die sich scheinbar unter den Zentrifugalkräften der Weimarer Republik auflösende Welt fand im Rekurs auf die verlässlichen Orientierungsmarken der christlichen Tradition einen neuen sinnstiftenden Zusammenhalt. Das galt auch für die sogenannte Lutherrenaissance, die Karl Holl schon seit 1917 mit einer nachdrücklichen Herausstellung der Rechtfertigungslehre Luthers als das systematische Zentrum seiner Theologie eingeleitet und geprägt hatte.
Trotz eines üppigen Reichtums an neuen theologischen Programmen gilt: Der Sinn für das, was die parlamentarisch-demokratische Verfassungsrealität erforderlich machte, war nur schwach ausgeprägt, eine »veritable Theologie der Demokratie sucht man in den zwanziger Jahren vergebens« [Nowak, Protestantismus, 229].
Der gesamte Sektor der Bildung stand nach dem politischen Umbruch von 1918 auf dem Prüfstand. Die strittige Frage nach der Bedeutung der Kirchen im Weimarer Staat betraf auch den konfessionell gebundenen Religionsunterricht (RU). Die christlichen Staatsschulen galten als abgeschafft (WRV §137,1), der nunmehr säkular gefassten staatlichen Schulhoheit waren fortan die ›religiösen Bezüge‹ des schulischen Unterrichts geschuldet. Der zwischen Zentrum und Sozialdemokratie mit Blick auf die WRV erzielte Schulkompromiss sah für alle Bekenntnisse eine gemeinsame Simultanschule vor, wobei die Eltern für ihr Kind zwischen einer konfessionellen oder bekenntnisfreien Schule wählen konnten. Diese Lösung verschaffte dem RU in der Weimarer Republik einen vergleichsweise sicheren Stand.
Das Feld der Religionspädagogik war positionell geteilt. Zunächst wirkten liberale Traditionen weiter und führten zu Konzeptionen, die sich gegenüber Psychologie und liberaler Theologie aufgeschlossen zeigten und das religiöse Subjekt ins Zentrum stellten. Ansätze mit ordnungstheologischen Inhalten rückten dagegen als Bezugspunkte die Kirche oder die Schöpfungsordnungen in den Mittelpunkt. Im Rahmen dieser reflexiven Bemühungen um den RU vollzog sich – noch mangels eines akademischen Raumes für entsprechende Theoriebildungen – ansatzweise die Zusammenführung unterrichtspraktischer Modelle zu einer konsistenten religionspädagogischen Theorie.
Der Bereich der Kultur unterlag nach dem Ende des Kaiserreichs in der protestantischen Theologie einem fundmentalen Bedeutungswandel. Die liberale Theologie hatte den Kulturbegriff ins Zentrum gerückt, was durch die Kriegsereignisse radikal in Frage gestellt wurde, sodass der Begriff nunmehr zum Ziel einer pointierten Kultur- und Religionskritik wurde. Die Dialektische Theologie erlebte den Krieg als Epochenbruch und deutete die Zeit nach 1918 als Krise aller Kultur. Selbst die theologischen Erwägungen Paul Tillichs, mit denen er 1919 eine bloße, reduktionistische Kirchentheologie konfrontierte, waren von einer krisentheoretischen Zeitdiagnose bestimmt.
Das Kulturleben der Weimarer Republik war bestimmt von der »Explosion der Moderne« [Nowak, Geschichte, 205] und zeigte sich – in der Wirkung häufig verstärkt durch die aufkommenden technischen Reproduktionsmedien Rundfunk und Kino – facettenreich und nicht selten innovativ. Die protestantische Wahrnehmung des Kulturangebots fiel auch auf diesem Feld disparat aus. Angetrieben von funktionalen Nützlichkeitserwägungen wurde August Hinderer nach 1918 zur treibenden Kraft einer Neuausrichtung des evangelischen Pressewesens. Konservative protestantische Stimmen waren immer vernehmbar und bedachten die aufkommende Film- und Kinoszenerie aus sittlichen Erwägungen mit harscher Kritik. Die aufblühende Literaturszene bildete bis hin zu ihren herausragenden Protagonisten wie Thomas Mann, Hermann Hesse oder Ricarda Huch den Protestantismus angemessen facettenreich ab. Kunst und Architektur im kirchlichen Bereich nahmen den Pluralismus der Stile und Formen der Weimarer Jahre nur bedingt auf. Otto Bartnings modernes Kirchenbauprogramm markierte eine herausragende Ausnahme. Ganz ähnlich gestaltete sich die Entwicklung der Kirchenmusik, die sich analog zur sonstigen Entwicklung in der evangelischen Kirche eher konventionell gestaltete.