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6. Protestantismus und Antisemitismus
ОглавлениеFür die deutschen Juden in der Weimarer Republik hatten sich bereits in der Kaiserzeit wegweisende, dabei ambivalente Entwicklungen ergeben. Einerseits galten sie seit 1871 nach der Reichsverfassung als gleichberechtigte Bürger, die jüdischen Gemeinden blühten auf und zahlreiche Synagogen wurden neu gebaut. Andererseits nahm der gesellschaftlich verbreitete Antisemitismus zu. Der Historiker Heinrich von Treitschke (Antisemitismusstreit) und der Berliner Hof- und Domprediger mit politischen Ambitionen Adolf Stoecker standen exemplarisch für einen Antisemitismus, der sich gesellschaftlich bis weit in akademische und kirchliche Kreise ausbreitete.
Der seit der Jahrhundertmitte zunehmende deutsche Nationalismus und die auf blühenden Naturwissenschaften stellten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Nährboden für einen rassischen Antisemitismus bereit. Unter dem Einfluss des französischen Schriftstellers Arthur de Gobineaus und anderen Rassetheoretikern etablierte sich die Vorstellung von den Zeitläufen als Kampf der Rassen; früh stand in diesen Kreisen fest, dass der ›weißen Rasse‹ die Führungsrolle zufiel. Die Geschichte von Völkern und Nationen wurden reduktionistisch auf den Kampf zwischen Rassen zurückgeführt. Die sprachliche Zuspitzung im deutschen Reich war bezeichnend: Das Judentum war nicht länger eine minderwertige Rasse unter anderen, sondern es wurde zur Gegenrasse, zu einem fundamentalen Gegenprinzip des Eigenen stilisiert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich in deutschen Rassediskursen die vorherrschende Vorstellung vom unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der »arischen« und der »jüdischen Rasse«, der in der antisemitischen Vorstellungswelt zwangsläufig auf einen Überlebenskampf zwischen diesen beiden Rassen hinauslief.
In der Weimarer Gesellschaft war demnach von Beginn an nicht nur ein starker traditioneller Antisemitismus mit jahrhundertealten Stereotypen und antijudaistischen Vorurteilen gegen über Juden präsent, sondern daneben hatte sich nunmehr ein rassisch fundierter Antisemitismus in verschiedensten Spielarten entwickelt und breitete sich weiter aus. Das starke Kriegsengagement deutscher Juden und die 12.000 Kriegstoten unter ihnen konnten nicht verhindern, dass sie mit antisemitischen Vorurteilen öffentlich lautstark diffamiert wurden. Dabei hatte die WRV allen Bürgerinnen und Bürgern einen egalitären Rechtsstatus eingeräumt. Die Lebensqualität der Juden hatte sich dadurch scheinbar nicht signifikant verbessert, denn der Anteil der Juden an der deutschen Bevölkerung sank seit 1910 kontinuierlich.
Besonders zugespitzt formierte sich die Feindschaft gegenüber den deutschen Juden in antisemitischen Organisationen wie dem Deutschen Schutz- und Trutzbund. In Fortsetzung der antisemitischen Agitation Adolf Stoeckers in Berlin setzten in der Weimarer Republik Scharen von kirchlichen Gruppen und individuellen Vertretern, darunter viele Pastoren und Pfarrer, den dezidiert antijudaistischen Kampf gegen die Juden fort.
Auch in der kirchlichen Presse sowie in der Publizistik waren antisemitische Vorurteile gegenwärtig. Auf diese Weise breiteten sich antisemitische Klischees bis an die Kaffeetafeln in bürgerlich-evangelischen Wohnzimmern aus. Organisationen gegen den Antisemitismus und Antijudaismus waren in der Minderheit, aber sie existierten, wie etwa der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Diese Entwicklung der Weimarer Jahre steht zwar weit hinter dem zurück, was an Diffamierungen und Entrechtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nach 1933 losgetreten wurde. Allerdings wäre deren zugespitzte Drangsalierung und sich anschließende Verfolgung und Vernichtung in Europa durch die Nationalsozialisten nicht vorstellbar, ohne die sich verdichtende antijüdische Stimmung in der Weimarer Republik.
Die Weimarer Jahre erweisen sich für den Protestantismus als eine Zeit der bewussten und unbewussten Auseinandersetzung mit dem Schock, den der politische Umbruch seit 1918 ausgelöst hatte. Die vor allem mit der liberalen Theologie verbundenen demokratieaffinen Kräfte waren zahlenmäßig vergleichsweise gering und nahmen auch altersbedingt ab. Viele protestantische Kräfte pflegten unter dem Eindruck, bisweilen sogar gefangen von den tendenziell staatssakralisierenden Traditionen des Protestantismus eine kräftige Krisenmentalität. Eine Stütze der Demokratie konnte das nicht sein.
Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008.
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Harry Oelke