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„IN DER STADT … GIBT ES ZU VIELE MENSCHEN AUF EINEM FLECK, UND DIE LEBEN ALLE AN EINEM VORBEI.“
ОглавлениеAaron (23) – Zimmermann Melanie (17) – Schülerin Paar, das sich im Musikverein kennengelernt hat
Hallo, Aaron und Melanie, ihr seid ein Paar?
Aaron: Ja, wir haben uns im Musikverein kennengelernt.
Und wie genau, wenn ich fragen darf?
Melanie: Also ich war im Musikverein, und dann ist er irgendwann dazugekommen. Da haben wir uns zum ersten Mal gesehen. Und … [lacht] ja, dann haben wir im Musikverein Ausflüge gemacht und so und haben uns dabei ein bisschen kennengelernt. Dann haben wir angefangen zu schreiben, dann haben wir uns getroffen. Und ja. [lacht]
Was glaubt ihr: Wärt ihr irgendwo in der Stadt auch im Verein zusammengekommen?
Aaron: Wenn, dann auch nur in so einem Musikverein. In der Stadt gibts auf jeden Fall auch Vereine, aber nicht so was Örtliches. Ich glaube, in der Stadt wäre ich auch in keinem einzigen Verein.
Immer nur Musikverein? Oder geht ihr auch schon mal zusammen feiern?
Aaron und Melanie: Ja, klar.
Aaron: Ja, nicht im Club, sondern eher bei Dorfpartys.
Melanie: Fastnacht halt.
Aaron: Aber diese Partys sind ja auch besser als im Club.
Wie kommt ihr denn auf die Partys?
Aaron: Da ist halt immer eine Gruppe, und einer muss fahren. Das gibts in der Stadt auch nicht, da fahren alle mit der U-Bahn und Straßenbahn und glühen dann auf dem Weg vor. Bei uns ist das halt anders. Da fahren alle zum Einen und glühen da vor, und dann fahren alle mit dem einen Fahrer. Und der sagt dann auch, wenn Schicht im Schacht ist.
Melanie: Oder man ruft dann halt die Eltern an, und die müssen dann nachts um halb drei aufstehen.
Machen das denn deine Eltern?
Melanie: Ja, meine Mama macht das schon: Also bevor ich irgendwo bei fremden Leuten mitfahre, steht sie auf jeden Fall auf.
Ihr habt ja vorhin erzählt, dass ihr euch im Musikverein kennengelernt habt. Welche Aufgaben übernehmt ihr denn im Verein, und was spielt ihr?
Melanie: Wir sind jetzt gar nicht mehr drin.
Aaron: Wir haben uns gefunden, und dann sind wir raus.
Der Verein als Dating-App?
Melanie: [lacht] Genau. Aber ansonsten waren wir bei Auftritten dabei. Wenn Jahreskonzert ist, da hilft man bei Auf- und Abbau. Wir machen auch bald wieder beim Maihock [geselliges Beisammensitzen] mit.
Aaron: Und beim Bezirksmusikfest. Maihock ist halt so ein Traditionstreff. Da sind Gastmusiker da. Und die Egginger Musiker bedienen beim Essen.
Habt ihr auch mit anderen Musikvereinen aus anderen Dörfern was zu tun gehabt?
Aaron: Ja, früher schon. Ich hatte ganz viele Klassenkollegen im Stühlinger Musikverein. Und dann haben wir noch Brasslufthammers – ein eigener kleiner Guggemusikverein [alemannische Musik bei Fastnachtsumzügen] und für Partymusik. Die sind hier auf allen Dorffesten.
Aber das sind nur die aus Stühlingen?
Aaron: Nee, Stühlinger, Eberfinger, Egginger.
Und weshalb seid ihr nicht dabei?
Aaron: Hatten keine Lust mehr. Zu viele Termine. Wenn du im Musikverein einen hast, für den der Musikverein Ein und Alles ist, dann wird er sauer auf einen, wenn man mal keine Zeit hat, weißt. Und dann regt er sich auf, und das muss ich mir nicht geben.
Melanie: Manche nehmen das halt schon extrem ernst.
Aaron, bei dir ist ja dein Opa auch schon immer im Musikverein gewesen. Wie war das, ist er einer der Gründe, weshalb du dem Verein beigetreten bist?
Aaron: Er ist heute nicht mehr dabei, er ist jetzt in so einem Alte-Leute-Verein. Ich war in der Grundschule, und da war der Marius, der auch im Verein war. Und ich wollte deshalb dann auch rein. Das hat mein Opa mitgekriegt und hat gesagt: „De Kerle kommt in de Verein!“ Dann bin ich in den Verein, weil Opa das auch gewollt hat. Ja, und dann war ich drin, bis ich 16 war. Weil ich dann meine Ausbildung in der Schweiz angefangen habe, hab ich im Musikverein aufgehört.
Wenn ihr später Kinder habt, wo würdet ihr …
Aaron: Auf dem Land. Auf jeden Fall zusammen Kinder. [lacht]
Melanie: Auf jeden Fall ziemlich hier in der Gegend, also in oder bei Eggingen.
Aaron: Weil man hier auf dem Land alles machen kann. Also zum einen ganz grundlegend wegen der Preise. In der Stadt kaufst du dir vielleicht eine kleine Wohnung. Aber hier bekommst du dafür schon ein Einfamilienhaus. Aber ich kann mir auch ein Haus selber bauen, und dann auch ein schönes, großes Haus, und hab dann noch mehr Geld für bisschen Land drum herum, wo man Zeug anbauen kann. Ja, das zum Ersten, und dann noch, dass man hier viel machen kann. Man hat einen Wald nebendran. Man muss nicht einmal im Sommer ins Sommerlager. In der Stadt kann man einfach nicht sooo viel anfangen. Da gibt es zu viele Menschen auf einem Fleck, und die leben alle an einem vorbei. Dann lebst du lieber im Dorf, wo du mal auch einen Alten siehst, der dich aber auch kennt. Und noch was anderes: Zum Beispiel als ich in Berlin war, wars so: Du hattest ein gutes Mountainbike, konntest damit aber niemals zum Schaffen fahren und es anketten. Das wird geklaut. Dagegen hier daheim: Wenn die Nachbarn sehen, da geht bei dir irgendjemand schmierig um die Garage rum, dann sagen sie was. In der Stadt dagegen können 100.000 vorbeilaufen, da sieht keiner was, und es interessiert auch niemanden.
Melanie: Gerade die Nachbarn und so, man kennt sie ja alle persönlich. Und wenn man da ’nen Gefallen haben will, dann bringt man am nächsten Tag einen Kuchen vorbei, und dann ist es gut. In der Stadt geht das nicht so. Gehst halt zum Beispiel mal rüber und fragst, ob die eine Packung Milch haben, das haben wir auch schon gemacht.
Aaron: Ich wohne ja in einem Haus, in dem unten Mieter sind. Die kochen da immer viel, und da steht auch abends mal eine Schüssel Spaghetti vor unserer Tür.
Bei dir, Melanie, wohnen die Eltern und Großeltern auch schon immer hier in Eggingen, oder?
Melanie: Also meine Mam kommt aus Freiburg, aber die war am Wochenende oft hier in der Gegend. Und da hat sie eines Tages meinen Dad kennengelernt. Der kommt vom letzten Kaff. Beide fanden es hier viel schöner als in der Stadt. Sie hat immer erzählt, dass sie zu Hause immer nur eine kleine Wohnung hatten und nur ’nen kleinen Balkon. Deshalb mussten sie immer 20 Minuten in den Park laufen, bis sie mal Sonne tanken konnten. Das fand sie immer richtig schrecklich, deswegen hat sie auch sofort gesagt, dass sie lieber hierherzieht.
Habt ihr schon mal Kommentare zu eurem Dialekt gehört, gerad du Aaron, in Berlin?
Aaron: Also ich hatte eigentlich nie einen richtigen Dialekt. Ich bin dann aber in die Schweiz umgezogen, und da hän sie immer denkt, ich wär Baseler oder ein Badener oder Züricher. Dann hat ich aweng Berner Dialekt angenommen. Irgendwann haben sie es akzeptiert, dass du Schwyzer bist, wussten aber auch, du kommst nicht aus dene ihrem Kanton. Die hän gar nicht mehr gedenkt, dass ich dütsch bi. Und dann bin ich zurückgekommen ins Dütsche und hab de Schwyzer Akzent nimma wegkriegt, und denn hän alle immer gdacht, ich wär ä Schwyzer. Immer wenn ich einkaufen war, hän sie gfragt, ob ich ä Ausfuhrschein brauch. [lacht] Als ich dann auf Berlin gegangen bin, wars extrem kompliziert, da musste ich mir langsam Dialekt abgewöhnen. Danach sind auf einmal so Schwyzer Schüler gekommen und dann hab ich wieder geswitcht in de Schwyzer Dialekt. Ich hab gleichzeitig versucht, hochdeutsch zu schwätzen, aber es war ein Kuddelmuddel.
Hast du nicht berlinerisch geredet?
Aaron: Nee. Icke nisch. [lacht]
Melanie: Also bei mir ist es in der Schule ganz schlimm. Denn da gibts welche, die schwätzen noch mehr wie ich Dialekt. Und die werden von den Lehrern dauernd verbessert. Gerad in Deutsch ist es richtig schlimm. Keine Ahnung, man versteht es dann auch nicht so, das Hochdeutsche. Das sind so viele Fremdwörter für uns.
Was denkt ihr allgemein, was die Menschen vom Leben auf dem Land denken?
Aaron: … dass bei uns tote Hose ist und dass man ewig lange Strecken zurücklegen muss, um zum Kollegen zu kommen oder um ins Kino zu kommen.
Melanie: Ist halt teilweise schon so …
Aaron: … ist halt gar nicht so. In Berlin habe ich außerhalb gelebt, und wenn ich ins Kino gegangen bin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, dann hab ich mit der U-Bahn 35 Minuten gebraucht. Hier brauche ich 40 Minuten mit dem Auto. Da bin ich gleich schnell und habe noch vier Kollegen mitgenommen. Aber was schade ist, dass es nicht so viele Bars gibt. Wogegen es in Berlin fast an jeder Ecke was gibt, auch wenn’s nur eine Studentenbar ist, wo es zwei, drei gute Cocktails gibt und wo du dann immer ein paar junge Leute siehst. Da gibts bei uns nur das eine, wie heißt es?
Melanie: Live. Ja, dann musste halt nach Wutöchingen fahren.
Gibts hier nicht auch einen Jugendtreff?
Melanie: Ja schon, da war ich aber nicht. Jugendtreff, das ist halt in Lauchringen und da kenne ich jetzt niemanden wie hier in der Umgebung. Und, keine Ahnung, da waren eher so ausländische Leute, die immer unter sich waren. Mein Bruder war da mal und er hat gesagt, er geht da nie wieder hin.
Aaron: Hier gabs früher so einen Bauwagen, den die Älteren ihren jüngeren Geschwistern sozusagen übergeben haben. Der heißt B(l)auwagen. Das haben immer die zwei älteren Klassenstufen geführt, und da hatten Jüngere gar nichts zu suchen. Aber sobald da einer von ihnen rausgegangen ist und einer hatte ein jüngeres Geschwister, dann haben die Jüngeren den Blauwagen übernommen.
Wie sieht es mit der Beziehungsakzeptanz auf dem Dorf aus?
Aaron: Im Gegensatz zu einer Stadt ist es so, wenn man auf dem Dorf eine Beziehung hat und es noch niemandem erzählt hat, dann weiß es das ganze Dorf trotzdem. In der Stadt passiert so was nicht, weil da kennt man nur ein paar Leute, und die anderen interessiert es nicht. Aber auf dem Dorf ist manchen Menschen langweilig, und dann sind sie froh, wenn sie mal was Neues zum Erzählen haben. Aber das ist nicht unbedingt etwas Negatives.
Melanie: Es macht voll schnell die Runde! Es kriegt gleich jeder mit, weil jeder jeden kennt.
Aaron: Im Musikverein zum Beispiel ist es auf jeden Fall so, wenn zwei Musiker was miteinender haben, dann wird direkt wegen Hochzeit gefragt. Aber an sich gibt es im Dorf keine Heiratserwartungen. Melanies Eltern und meine Eltern, die sind keine Altbackenen und sagen nicht: „Ihr müsst jetzt heiraten und schnell Kinder bekommen!“ Man spürt da keinen Druck, außer ich mach ihn mir selber.