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Judith C. Vogt

Die drei Geschlechter: Männer, Frauen und Aliens

Nichtbinäre Geschlechter in der Science Fiction

Ihr kennt es vielleicht auch: Das witzige Toilettentürschild mit dem Strichmännchen in Hose, dem Strichmännchen im Kleid und dem Alien. Vielleicht noch versehen mit einem: »Egal, Hauptsache, du wäschst dir die Hände«. Auf den ersten Blick gibt es natürlich nichts daran auszusetzen, die Aussage ist sonnenklar. Und dennoch steht dieses Kloschild sinnbildlich für eine Weltordnung, in der Menschen in genau zwei Geschlechterschubladen gesteckt werden und alle Abweichung als fremd oder gar unnatürlich markiert wird. Diese Weltordnung zeigt sich, wie alle Elemente unserer Gegenwart, auch in der Science Fiction. Doch so, wie Geschlechterrollen und -identitäten diskutiert, in neue Worte gefasst und aus anderen Blickwinkeln betrachtet werden, ist »Gender« auch in der Science Fiction im Wandel und auf dem Weg zu einer neuen, menschlicheren Repräsentation einer auch in dieser Hinsicht vielfältigen Gesellschaft. Damit hat Science Fiction, wenn sie es richtig macht, vielleicht literarisch eine ungeahnte Bandbreite an Möglichkeiten, die nur darauf wartet, genutzt zu werden.

Schubladen fürs Denken

Die obersten Kategorien für Menschen sind »männlich« und »weiblich«. Das ist als vermeintlich neutraler Fakt in unseren Köpfen verankert, und beim Entwerfen einer Romanfigur stellt sich Schreibenden zuallererst die Frage: Ist meine Figur weiblich oder männlich? Unsere Gesellschaft sagt uns seit Tausenden von Jahren, dass das die beiden möglichen Kategorien sind. Alles darüber hinaus, selbst wenn es soziologisch, biologisch und psychologisch unterfüttert wird, macht vielen von uns schlichtweg in seiner Komplexität Angst. Und nicht nur das: Das Konstrukt von einem fundamentalen und augenscheinlichen Unterschied zwischen den beiden als einzig »gültig« angesehenen Geschlechtern ist ein Narrativ, das dazu dient, eine der einfachsten Hierarchien in unserer Gesellschaft und unserer Geschichte zu zementieren. Wenn es zwei Geschlechter gibt und diese fundamental und angeboren verschieden sind, müssen sich auch ihre Aufgaben in der Gesellschaft klar unterscheiden. Die einen bekommen die Kinder, die anderen bekämpfen den Säbelzahntiger, so lautet die Geschichte, die wir uns erzählen. Bestrebungen, etwas anderes als das sichtbar zu machen, bedrohen diese Erzählung. Sie erschweren es, eine Machtposition aufrechtzuerhalten und auszuüben.

Diese Geschichte versucht in all ihren Aspekten, sich auf vermeintliche Natürlichkeit zu stützen. Wer hat welche Chromosomen? Wer hat welche Reproduktionsorgane? Eine Einteilung in männlich und weiblich – so wird uns gesagt – ist der natürliche Urzustand. Auf dieser Basis ziehen wir gefährliche Schlüsse: Diesen Status quo infrage zu stellen, ist ein Aufbegehren gegen die menschliche Natur. Es ist künstlich, unnatürlich, vielleicht sogar ein »Hype«. Aber was, wenn dieser Status quo gar nicht der natürliche Urzustand ist, sondern einfach nur eine besonders erfolgreiche Erzählung?

Es ist uns als Mitteleuropäer*innen mit unserem Weltbild, unserer Geschichte, unserer Kultur und Gesellschaft fremd, sprachlich wie gesellschaftlich, uns gedanklich von den beiden Oberkategorien zu entfernen, neue Schubladen dazuzuschrauben oder die Schubladen zu durchlässigen und ineinander übergehenden Körben zu verflechten. Es ist eine kreative Leistung, nach all diesen Jahren, Jahrhunderten, Jahrtausenden, in denen Geschlecht binär gedacht wurde, diese Gedanken zu erweitern. Es ist beinahe schon Science Fiction.

Und genau diese Science Fiction gibt uns die Möglichkeit, uns über das Fiktive, das ganz Fremde – Aliens, KIs, Roboter – einer Vielfalt der Geschlechtsidentitäten anzunähern. Aber danach müssen wir einen weiteren Schritt unternehmen: Nichtbinäre Geschlechter, Genderfluidität, Ungeschlechtlichkeit, das große Spektrum jenseits und zwischen männlich und weiblich, muss von Aliens, KIs, Robotern wieder zu menschlichen Figuren finden. Zu Hauptfiguren am besten. Und von dort aus in unsere Sprache und unsere Realität. Denn dort gibt es uns längst.

Doing Gender

Geschlecht ist eine komplexe Sache, und im Rahmen dieses Essays kann ich nur einen kurzen Exkurs in die Thematik unternehmen. In unserem mitteleuropäischen Sozialgefüge hat sich seit Jahrtausenden die binäre Teilung in zwei Geschlechter etabliert. Die erste Aussage, die über uns getroffen wird, während wir noch um unseren ersten Atemzug ringen, ordnet uns nach sichtbaren Geschlechtsorganen in Mädchen und Jungs. Würde daraus keine weitere gesellschaftliche Zuordnung entstehen, wäre eine Aussage über die mutmaßliche zukünftige Variante der Reproduktionsfähigkeit vermutlich halbwegs unproblematisch. Aber die Hierarchie zwischen Mann und Frau ist nach wie vor im Gesellschaftlichen, Alltäglichen, Politischen, in der Kunst und allen anderen Bereichen wirkmächtig. Aus dieser ersten Aussage wird Aussage um Aussage geschlussfolgert – zu allen möglichen Formen von Befähigung und Beteiligung.

Es gibt und gab immer schon Länder, Kulturen, Regionen und Gesellschaften, die weitere Geschlechter und Geschlechtsidentitäten kennen, mehr Fluidität zulassen oder andere Positionen auf den Breitengraden zwischen den Polen »männlich« und »weiblich« benennen. Viele Kulturen weisen trans Frauen eine dritte Geschlechterkategorie zu (beispielsweise in Nepal, im Oman und auf den Philippinen). Manche Bezeichnungen beziehen sich auf angeborene Geschlechtsidentität, andere auf zugewiesene Geschlechterrollen, wenn beispielsweise eine Frau das verstorbene männliche Familienoberhaupt ersetzen soll oder als einziger »Sohn« großgezogen wird (z. B. in Afghanistan und Albanien).

Aber die mitteleuropäische Kultur, ihr binäres Weltbild und die damit verbundene Hierarchie sowie die als »natürlich« und angeboren angenommenen Unterschiede in der Wesensart sind dank Kulturimperialismus und Kolonialismus in die ganze Welt exportiert worden, und so sehen wir weltweit auch in der Fiktion vor allen Dingen Frauen und Männer als Hauptfiguren in Geschichten. Hinweise auf die Existenz von trans Menschen und genderqueeren Menschen, also Menschen, deren Geschlecht nicht mit dem übereinstimmt, was ihnen bei der Geburt anhand eines Blicks auf ihre Geschlechtsorgane zugewiesen wurde, gibt es natürlich durch die ganze aufgezeichnete Geschichte hindurch.

Die Wissenschaft fing im 19. Jahrhundert an, sich mit queerer Sexualität zu befassen, und stieß früh darauf, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität verschiedene Paar Schuhe sind, die eine ungeahnte Vielfalt an Kombinationen zulassen. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts hat Magnus Hirschfeld umfassend zu Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und von ihm so genannten »Geschlechtscharakteren« geforscht – Merkmalen, die queere oder hetero Sexualität, queeres oder cis-Gender ausmachen. Die Forschungen des jüdischen, homosexuellen Wissenschaftlers wurden zwei Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstört. Damit wurden Jahrzehnte der intensiven, internationalen Forschung an queerer Sexualität und Trans*geschlechtlichkeit wieder ausradiert. Jahrzehntelang ging es jetzt wieder darum zu beweisen, dass zur menschlichen Varianz und Vielfalt gehört, dass nicht alle Menschen mit dem Geschlecht, das ihnen zugeordnet wurde, korrekt beschrieben werden.

Immer noch obskur

Nach wie vor ist vielen Menschen die Vorstellung von Geschlecht und Identität außerhalb der »Gender-Binarys« nicht geheuer. Die Einführung eines diversen, auch »dritte Option« genannten Geschlechtseintrags wurde 2018 in Deutschland beschlossen. Leider bedeutet er bislang alles andere als eine rechtliche Gleichstellung oder gar die selbstbestimmte Definition des eigenen Geschlechts. Es gibt ihn vor allen Dingen, damit Eltern sich bei inter* Kindern nicht sofort nach der Geburt für ein binäres Geschlecht entscheiden müssen, wie es vor der Gesetzesänderung der Fall war. Es geht also explizit nicht darum, Menschen mehr Vielfalt zuzugestehen, als an ihren Geschlechtsorganen zu erkennen ist. Und in den Köpfen angekommen ist das sogenannte »dritte Geschlecht« (das es ja zudem wegen der Vielfältigkeit und des Spektrums menschlicher Geschlechter gar nicht als abschließende Zahl geben kann) nicht. Wie auch? Das gesellschaftliche Narrativ hat unsere Sprache und unser Leben um Zweigeschlechtlichkeit herum organisiert: Öffentliche Toiletten, Kleidung, Spielzeug, Konsumartikel in allen Varianten – sogar die Farbe der Scheren, mit denen die Nabelschnur eines Säugling in manchen Geburtszimmern durchtrennt werden, sind binär aufgeteilt.

Darüber, was diese Einteilung mit uns macht, welche einem Geschlecht zugewiesenen Eigenschaften wir höher schätzen und wie wir Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichstellen können, wird an vielen Stellen geredet, innerhalb und außerhalb feministischer Kontexte. Doch diese Diskussionen können nur dann zu tatsächlicher Gerechtigkeit führen, wenn sie auch die bislang unsichtbaren, an den Rand gedrängten Geschlechter mitdenken, mitmeinen und mit aussprechen. Selbst Feminist*innen beäugen jedoch die, die bislang kaum irgendwo dazugehören, misstrauisch. Die SF-Rollenspielautorin Avery Alder nennt das Zugehörigkeitsgefühl, das sich aus einer solchen gesamtgesellschaftlichen Unsichtbarkeit entwickelt, »Belonging outside belonging« (»zu etwas gehören, was nirgendwohin gehört«).

Und wegen dieses An-den-Rand-Drängens von nichtbinären Menschen führt auch der Weg ihrer Repräsentation in der Science-Fiction-Literatur über das »Andere«, das »Outside Belonging«.

Das Nichtbinäre als das Fremde

Fantasy und Science Fiction können Wegbereiter für Realitäten sein, die von unserem Status quo abweichen, der die Existenz von nichtbinären Geschlechtern zumeist leugnet, wo immer es geht. In welchem anderen Genre ist es möglich, Geschlecht anders zu definieren und neue Varianten des Zusammenlebens zu finden, die nicht auf einer binären Einteilung in zwei Geschlechter beruhen, die zugleich zwei gesellschaftliche Klassen etabliert haben?

Doch der erste Schritt in Richtung einer Gesellschaft, die mehr als zwei Geschlechter kennt, scheint einen Schlenker über das Fremde und Nichtmenschliche zu erfordern. Nichtbinäre Figuren existieren – jedoch neben menschlichen Männern und Frauen; als KIs, Aliens und Roboter. Beispielsweise die genderfluiden Aandrisk in Becky Chambers’ WAYFARER-Saga durchlaufen, ähnlich wie die (generisch männlich beschriebenen) Gethenianer in Le Guins Die linke Hand der Dunkelheit, andere geschlechtliche Zyklen und bewegen sich auf einem Spektrum zwischen männlich und weiblich.

Die Pflanzenspezies der Floryll in Bernd Perplies’ Am Abgrund der Unendlichkeit sind zweigeschlechtlich, sodass Perplies ein Neopronomen aus den deutschen Pronomen zusammengesetzt hat.

Breq, die Perspektivfigur aus Ann Leckies Die Maschinen, erzählt im generischen Femininum. Breq selbst, eine Schwarm-KI, die durch unglückliche Umstände in einem einzigen Körper gelandet ist, ist jedoch nicht weiblich. Auch »Murderbot« aus Martha Wells Tagebuch eines Killerbots ist ungeschlechtlich und stellt generell menschliche Kategorien infrage. (Im Roman tauchen aber auch menschliche nichtbinäre Nebenfiguren auf!)

Octavia Butler hat in ihrer LILITH’S BROOD-Trilogie bereits in den 1980ern einen Wandel zu einer nichtbinären Erzählperspektive vorgenommen, wenn sie auch das Außerirdische als Katalysator dafür nutzt: Lilith, die Hauptperson des ersten Bands, lernt die drei Geschlechter der außerirdischen Oankali kennen, und ihr Sohn, der Protagonist des dritten Bandes Imago, transformiert dank außerirdischer Gene zum Ooloi genannten dritten Geschlecht und bietet somit eine menschliche Identifikationsfigur auf dem Weg zu einer neuen Identität.

Viele nichtbinäre Menschen kennen einen solchen Weg: Es fehlten lange das Vokabular und der gesellschaftliche Platz, um das gespürte Nichtdazugehören in Worte zu fassen und zu begreifen. Doch einen eigenen Platz zu behaupten ist oftmals lebenslange Arbeit, und dabei hilft es natürlich nur begrenzt, auf fiktive Aliens, Roboter und Menschen mit Aliengenen deuten zu können.

Nichtbinär als menschliche Identität

Ich kann nachvollziehen, dass etwas, das in unserer Gesellschaft sehr lange nicht akzeptiert und daher als nicht existent markiert wurde, den Umweg über das Erfundene, das Fremde gehen muss, bevor es vertrauter wird. Doch diese Übertragung von »Belonging outside belonging« auf Außerirdische und KIs ist nur als erster Schritt hilfreich. Während im Englischen sogar schon bei Shakespeare das Singular-»they« zur Beschreibung eines geschlechtlich nicht definierten Charakters genutzt wird, gibt es in der deutschen Sprache keine Pronomen für nichtbinäre Geschlechter – »es« empfinden die meisten Menschen durch die Versachlichung als abwertend. Viele nichtbinäre Menschen nutzen Neo-Pronomen, wie z. B. xier oder sier. Dass diese Neo-Pronomen akzeptiert und in der Alltagssprache verwendet werden, ist jedoch noch Science Fiction. An Neo-Pronomen entzünden sich immer wieder auch in der Verlagswelt Diskussionen, die letztlich genau auf die oben erwähnte Nicht-Akzeptanz und unterstellte Nicht-Existenz herauslaufen. Meine erste Begegnung mit Neo-Pronomen fand in der Science Fiction statt: Ein nur auf wenigen Seiten vorkommender Nebencharakter in Chuck Wendigs STAR WARS-Trilogie NACHSPIEL nutzt im englischen Original das Neo-Pronomen »zhe«. In der deutschen Übersetzung wird der Charakter – vermutlich der viel beschworenen »Lesbarkeit« geschuldet – weiblich gegendert, und das ist symptomatisch.

Die Ablehnung von Neo-Pronomen in der Prosa, in journalistischen Texten und generell im Schriftdeutsch hat noch eine weitere Kehrseite: Dadurch, dass wir sie nur sehr selten lesen, fühlen sie sich (noch) wie Fremdkörper in der Sprache an und markieren damit in fiktiven Texten Figuren als »anders«, als Abweichler*in, oft genug sogar als Nicht-Mensch. Sie sagen letztlich meist: »Sieh, wie fremd diese Kultur/Alien-Spezies ist, sie hat mehr als zwei Geschlechter!«

Aber nichtbinäre Menschen existieren, und wir möchten uns in der Fiktion, die wir lesen, auf positive, realistische, vielfältige und vor allen Dingen menschliche Weise repräsentiert sehen. Für viele von uns ist Fiktion und vor allen Dingen Science Fiction das einzige Fenster, das uns einen Einblick in uns selbst bietet. SF bietet das einzige Vokabular, um zu lernen, sich selbst zu beschreiben. Viele von uns nutzen nach wie vor binäre Pronomen, tragen geschlechtsspezifische Kleidung und Frisuren und sind nicht »out« – werden also gesellschaftlich auch nicht wahrgenommen, weil Geschlecht immer noch stark am Aussehen festgemacht ist. Anfeindungen sind die Konsequenz für alle, die »out« sind, nichtbinäre Pronomen nutzen oder gar Berücksichtigung in Formularen und Bürokratie wünschen.

Eine Gesellschaft, die Nichtbinärität nicht sehen will, für unnatürlich (wie Roboter) oder gar ausgedacht (wie Außerirdische) hält, ist einschüchternd und enthält Vokabular und Erkenntnisse vor. Die wenigsten von uns sind sich seit frühster Kindheit sicher, nichtbinär zu sein – wie auch? Wie kann man etwas sein, das es gar nicht gibt, das die Gesellschaft nicht als existent zurückspiegelt? Nichtbinärität ist ein langes, vielleicht lebenslanges Auseinandersetzen mit der eigenen Identität und dem Geschlechterkonstrukt unserer Gesellschaft, dem Nicht-aufgehoben-Fühlen in den beiden vorhandenen obersten Schubladen. Science Fiction kann Menschen Vokabular und Freiheit geben, ebenso wie eine Inklusion in Sprache und Schrift. Gendersternchen, Gendergap und der zum Beispiel in Lübeck amtliche Doppelpunkt lassen eine freie Stelle für Identitäten jenseits des Binarys, und mit dem sogenannten glottalen Verschlusslaut lassen sich Menschen, die inter*, nichtbinär, geschlechtslos oder auf andere Weise nicht von der männlichen und weiblichen Form »mitgemeint« sind, aussprechen. Dass diese Formen der Aussprache und des Ausschreibens das althergebrachte Machtgefüge stören, ist an den zahlreichen Formen des Widerstands gegen solche Bemühungen in deutscher Sprache und Schrift zu spüren.

Die Science Fiction der Sprache

Das Englische bietet mehr Möglichkeiten, geschlechtergerecht zu formulieren. Beispielsweise ist Kameron Hurleys The Light Brigade konsequent so formuliert, dass das Geschlecht der ich-erzählenden Hauptfigur Dietz nicht deutlich wird. (Ein Clou, der in einer deutschsprachigen Übersetzung spätestens bei Anreden wie »Soldier!« schwierig würde, ich wäre gespannt darauf, wie es umgesetzt wird.)

Aber nur, weil es schwerer ist, heißt das nicht, dass wir nicht im Deutschen umso phantasievoller sein können. Ja, bitte auch in der Literatur, der Prosa, auch in der Science Fiction. Kreative Sprache ist nicht lästig, sondern hat spekulatives Potenzial! Das generische Femininum in Ann Leckies Die Maschinen ist in der deutschen Übersetzung sehr viel prominenter als im Englischen und wirkt sich auch anders auf die Rezeption des Buchs aus. Selbst hintergründige geschlechtergerechte Sprache wie in meinem und Christian Vogts Wasteland ruft die Verteidiger*innen einer unveränderbaren deutschen Sprache auf den Plan. Geschlechtergerechtigkeit, die über das großzügige Mitnennen der weiblichen Form hinausgeht, rüttelt am Machtgefüge einer streng binär geteilten Welt. Und deshalb ist sie so wichtig.

Romane bilden mit ihrer beschreibenden Sprache einen wichtigen Startpunkt für menschliche nichtbinäre Repräsentation. Während in visuellen Medien wie Filmen und Serien das Vorhandensein und die Darstellung von nichtbinären Charakteren meist auf sichtbare »Androgynität« beschränkt sind, bieten Romantexte weit mehr Möglichkeiten, Figuren jenseits des binären Gefüges vielfältig darzustellen und sogar die Körperlichkeit als optische Kategorie zu umgehen.

Die Genderqueerness der Zukunft

Trotz alledem wird nach wie vor in den meisten Geschichten und, ja, auch den meisten Science-Fiction-Geschichten die Menschheit als aus Männern und Frauen bestehend beschrieben. Es gibt nur eine Handvoll SF, die gute nichtbinäre Repräsentation bietet, und das meiste davon ist nur auf Englisch erschienen. Erfreulich häufig tauchen sie in den letzten Jahren als Nebencharaktere auf, wie in Charlie Jane Anders’ Alle Vögel unter dem Himmel oder in Annette Juretzkis STERNENBRAND-Dilogie Blind und Blau. Ich habe ein paar Beispiele zu Science Fiction mit nichtbinären Hauptfiguren gesammelt, manche davon sind auch im Grenzbereich zwischen Fantasy und SF angesiedelt.

JY Yangs The Black Tides of Heaven schildert eine »Silkpunk«-Fantasywelt, in der sich Spiritualität und Technik ergänzen. Die Zwillinge Mokoya und Akeha müssen sich in den politischen Wirrungen ihrer Welt und besonders denen ihrer Mutter zurechtfinden. In dieser Welt wird bei der Geburt kein Geschlecht zugewiesen, sodass alle Kinder später selbst äußern können, wie sie sich identifizieren. Akeha fühlt sich lange wohl mit der nichtbinären Identität der Kindheit. Der Wermutstropfen: Kein Charakter behält das nichtbinäre Geschlecht das ganze Buch hindurch.

Ich vergleiche ungern Autor*innen mit bereits toten Autor*innen, aber ich halte es für gut möglich, dass Kameron Hurley das für unsere SF-Ära darstellt, was Joanna Russ für die 1970er bedeutete. Die Autorin, die auch in The Geek Feminist Revolution über Geschlechterrollen, Science Fiction und Gesellschaft und auch eigene Selbstzweifel und Selbstfindung in einer heteronormativen Welt spricht, stellt in ihren Romanen und Kurzgeschichten immer wieder Geschlecht und die Art und Weise, wie wir darüber sprechen und denken, infrage. In ihrem The Mirror Empire entwirft Kameron Hurley eine Fantasywelt, in die durch interdimensionale Storyelemente auch Science Fiction hineinspielt. In dieser Welt prallen die Definitionen von Ethnie und Geschlecht verschiedener Gesellschaftsformen aufeinander. Eine der Hauptfiguren, Taigan, ist genderfluid und benutzt insgesamt drei verschiedene Pronomen (she/her, he/his und ze/hir). Viele Kulturen in ihrem Roman kennen drei oder mehr Geschlechter und nutzen Neopronomen selbstverständlich und in einem sich natürlich anfühlenden Sprachfluss. Menschen einfach ein Geschlecht zuzuweisen und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu definieren, ist in den meisten dieser Gesellschaftsformen verachtenswert. Auch Nebenfiguren in The Mirror Empire sind nichtbinär, wodurch der Roman eine große Varianz von nichtbinärer Identität zeigt und nicht in die Falle der stereotypen Darstellung tappt.

James Alan Gardners All Those Explosions Are Someone Else’s Fault ist eine Superheld*innen-Story, bei der die ich-erzählende Hauptfigur weiblich gelesen aufwuchs und sich immer mehr mit einer nichtbinären Identität wohlzufühlen beginnt, bis ihre Superheld*innenpersona schlussendlich offen nichtbinär ist. Gardner schrieb außerdem Commitment Hour über eine kleine Gemeinschaft, in der Kinder zwischen männlich und weiblich wechseln, bis sie sich im Erwachsenenalter für einen »Pol« entscheiden. Es wird recht früh auch ein nichtbinärer Charakter eingeführt, und Nichtbinärität erweist sich als relevant für die Handlung.

Wie JY Yang ist auch Rivers Solomon nichtbinär. Solomons Roman An Unkindness of Ghosts zollt Octavia Butlers LILITH’S BROOD Tribut: 325 Jahre lang reist die H. S. S. Matilda durchs All. Die Arbeiter*innen an Bord (größtenteils People of Color) sind unzureichend gegen die kosmische Strahlung abgeschirmt, sodass sich ihr Erbgut verändert. Sie entwickeln dadurch eine größere Geschlechtervarianz, als die weiße Oberschicht an Bord überhaupt erfassen kann. Auch Hauptperson Aster ist nichtbinär und geht den Geheimnissen des Schiffs mit dem Tagebuch der Mutter auf den Grund.

Lizard Radio von Pat Schmatz schildert ein genderqueeres Teenagerleben in einer dystopischen Zukunft. Das Findelkind Kivali gerät in die Mühlen eines Indoktrinationscamps der Regierung. Im Roman geht es auch um den gesellschaftlichen Druck, sich durch Äußerlichkeiten an ein binäres Geschlecht anzupassen.

KJ Charles thematisiert Genderfluidität im Science-Fiction-Grenzfall der Steampunk-Romance (zum Beispiel in An Unsuitable Heir).

Und zuletzt sei hier noch Tilly Waldens sehr schöne SF-Graphic Novel On a Sunbeam genannt, in der eine queere Familie in einem Raumschiff unterwegs ist. Die Geschichte thematisiert Nichtbinärität als einen Aspekt von Queerness, dreht sich um Zeit, Liebe, sexuelle Orientierung und Familie ohne Blutsbande.

Nichtbinäre Science-Fiction-Autor*innen

Gute Repräsentation steht und fällt mit den Menschen, die sie schreiben. Das Schreiben ist an sich immer ein politischer Akt, denn Schreibende erschaffen fiktive Wirklichkeiten, die Aussagen über die Realität treffen. Daher ist kein Text je neutral und ohne »Agenda«.

Jeder Science-Fiction-Roman, der eine zukünftige Gesellschaft mit binären Geschlechterrollen schildert, zementiert die gerade existenten binären Geschlechterrollen. Oft reproduzieren wir den Status quo natürlich unbewusst – er hat ja uns alle unser ganzes bisheriges Leben hindurch begleitet und lag den meisten Geschichten inne, die wir erzählt bekommen haben. Umso wichtiger ist es, sich umsehen zu lernen. Was gibt es außerhalb des Bekannten? Was gehörte bisher »outside belonging«?

Geschlecht und Identität sind ein vielschichtiges und vielfältiges Thema. Es gibt nicht das »dritte« Geschlecht, und es gibt nicht die eine korrekte Beschreibung, die ich dann als Autor*in von der Checkliste streichen kann. Um darüber zu sprechen und zu schreiben, was Geschlechtervielfalt in der Science Fiction bedeutet, müssen wir das Wort auch den Autor*innen überlassen, die selbst nichtbinär sind. Das ist nicht immer ganz einfach. Wie weiter oben bereits erwähnt, ist das oft keine Identität, über die sich eine Person bereits ihr ganzes Leben im Klaren ist. Viele haben dieses Vokabular erst in den letzten Jahren, seit das Thema etwas populärer geworden ist, erhalten. Viele haben bereits unter einem Namen veröffentlicht, der allgemein einem Geschlecht zugeordnet wird, und behalten diesen Namen auch weiterhin – oder andersherum: wählen einen neutral klingenden Namen, um Diskriminierung zu vermeiden. Das heißt, dass es unmöglich ist, anhand des Namens aufs Geschlecht zu schließen. Um nichtbinäre Autor*innen zu lesen, gilt dasselbe wie bei allen anderen Marginalisierungsformen: Wir müssen uns mit den Personen beschäftigen, deren Bücher wir lesen. Eine Politisierung der Auswahl unserer Lektüre ist die einzige Möglichkeit, die sogenannten »own voices«, also Autor*innen, die aus eigener Perspektive über Marginalisierung berichten, beim Lesen zu berücksichtigen.

Für diese Auswahl brauchen wir auch korrekte Online-Einträge. Am zuverlässigsten ist natürlich, was Autor*innen beispielsweise in Twitter- und Instagram-Bios und auf Websites über sich selbst aussagen. Doch auch Online-Nachschlagewerke sind eine wichtige Quelle. Dazu muss jedoch der Wille der Verfassenden da sein, auch dort Sichtbarkeit zu schaffen. Annalee Newitz beispielsweise nutzt seit 2019 nichtbinäre Pronomen und wurde in der englischsprachigen Wikipedia bereits mit dem gewünschten Pronomen »they« bezeichnet. Die deutschsprachige Wikipedia bezog sich noch in der weiblichen Form auf Newitz und reagierte im April 2020 mit vehementem Protest gegen mehrere Versuche der Umformulierung (die mittlerweile allerdings, auch durch die Mithilfe von Newitz selbst, angenommen wurde).

Der Widerstand gegen die nichtbinäre Umformulierung des Eintrags zeigt, dass noch einiges getan werden muss. Als fiktive Aliens und Cyborgs lässt man sich Nichtbinärität vielleicht noch gefallen, aber noch lange nicht bei realen Menschen. Biologistische Einwände verkommen schnell zu transfeindlichen Argumenten – sobald Dritte beginnen, über Geschlechtsorgane einer realen Person zu spekulieren, sollte allen deutlich sein, dass Nichtbinärfeindlichkeit Hand in Hand geht mit Transfeindlichkeit. Denn Geschlecht ist nicht an Anatomie festzumachen. Wenn eine Diskussion ums korrekte Gendern eines realen Menschen in einem Online-Nachschlagewerk zu Mutmaßungen über Reproduktionsorgane verkommt, wird klar, worum es eigentlich geht: um die Deutungshoheit über Menschen, um Diskriminierung und Präskription von gesellschaftlichen Rollen.

Annalee Newitz ist nicht die einzige nichtbinäre Person, die Science Fiction schreibt. Weitere nichtbinäre Autor*innen sind beispielsweise Sarah Gailey, Rivers Solomon, JY Yang, Kacen Callender, Akwaeke Emezi, Jeannette Ng, Sarah Stoffers und im Comic-Bereich Blue Delliquanti und Ben Kahn – aber diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend. Je mehr Vokabular wir haben, desto mehr Menschen werden Worte für die eigene Identität finden. Die Aufgabe der Zukunft ist nicht, Geschlecht komplett abzuschaffen, wie manche scheinbar progressiv bei Diskussionen um Geschlechtergerechtigkeit fordern, sondern Vielfalt anzuerkennen und als gleichwertig anzusehen.

Schreibende haben die Gelegenheit, nein, sogar die Verantwortung, das Konstrukt von Geschichten mit Lebenswirklichkeiten verschmelzen zu lassen. Um dem gesellschaftlichen Schweigen zum Thema nichtbinäre Geschlechter entgegenzuwirken, ist es nötig, darüber zu sprechen und zu schreiben. Le Guin sagte noch 2014 in einer Rede: »Widerstand und Veränderung beginnen oft in der Kunst, und sehr oft in unserer Kunst – der Kunst der Wörter.« Wenn es um Veränderung der gesellschaftlichen Binärität und Hierarchie von Geschlecht geht, müssen wir auch die Erfahrungen nichtbinärer Schriftsteller*innen in den Mittelpunkt rücken.

Zu guter Letzt …

»Ich liebe nichtbinäre Monster. Ich liebe nichtbinäre Aliens und nichtbinäre Roboter. Ich liebe Space Operas und Paranormal Romance und alles ›Unmenschliche‹, das mir über den Weg läuft. Aber es gibt auch Tage, in denen mich – erschöpft vom Kursberechnen in einer Welt, die mir keinen Platz lässt, die mich nicht als das akzeptiert, was ich bin – meine Fiktion daran erinnern muss, dass ich menschlich bin«, schreibt Christine Prevas über nichtbinäre Repräsentation auf der Website Electric Literature. Und vielleicht eröffnen Fantasy und Science Fiction auch außerhalb des Genres Orte, an denen genderfluide und nichtbinäre Charaktere Raum haben, und sind Wegbereiter für Vielfalt und, ja, nennen wir es beim Namen: mehr gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeit.

Das Science Fiction Jahr 2020

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