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Lena Richter

Queer denken.

Erzählstrukturen und Weltenbau aus queerfeministischer Perspektive

Inhaltliche Hinweise: Dieser Artikel behandelt und thematisiert systemische Ungleichbehandlung, Leiden queerer Menschen, Cis-Sexismus, Misogynie, Ableismus (bezogen auf Neurodiversität) und beschreibt Body-Horror-Aspekte eines Computerspiels.

In der Diskussion um queere Geschichten geht es oft um Repräsentation und Diversität der Figuren. Doch Repräsentation ist nur ein Aspekt des Strebens nach queeren Erzählungen; der Wunsch nach diversen Figuren ist wichtig, bewegt sich aber nur an der Oberfläche. Auf der Suche nach queerfeministischen Perspektiven müssen wir tiefer blicken.

Zuerst möchte ich kurz die in diesem Beitrag verwendeten Begriffe erläutern. Ich wähle hier queer als Oberbegriff statt LGBTQ oder ähnliche Abkürzungen, weil die konkrete Benennung von queeren Identitäten durch die Buchstabenfolge nicht alle Personengruppen umfasst und dadurch ausschließend wirken kann. Queer meint hier alle Menschen, die bezüglich Geschlechterrollen, sexueller Orientierung oder ähnlichem auf irgendeine Weise von der deklarierten Norm unserer Gesellschaft abweichen. Die Betrachtungen in diesem Essay sind außerdem queerfeministisch. Damit ist gemeint, dass es einerseits darum geht, heteronormative Sichtweisen und die binären Kategorien von männlich und weiblich aufzubrechen, aber eben auch darum, die Ungleichbehandlung von weiblich gelesenen Personen zu kritisieren. Auf den Begriff der Heteronormativität gehe ich später noch ausführlich ein.

Queere Repräsentation, das sei noch einmal bekräftigt, ist ein wichtiger Aspekt, denn noch immer ist es in der Phantastik nicht selbstverständlich, dass z. B. homo-, bi- und pansexuelle Figuren, trans und nicht-binäre Figuren, asexuelle und aromantische Figuren als Protagonist*innen, Antagonist*innen oder zumindest Nebenfiguren vorkommen und hierbei angemessen repräsentiert statt auf ihre Sexualität oder Genderrolle reduziert werden. Auch werden Bücher, Filme oder Serien mit queeren Inhalten oft noch in eine Nische geschoben, und es wird angenommen, dass nur queere Menschen ein Interesse an ihnen haben, während Geschichten, in denen nur cis-heterosexuelle Beziehungen vorkommen, als normal und für alle gemacht gelten. Dennoch geht die Diskussion bei Weitem nicht tief genug, wenn wir nur über die Figuren einer Erzählung sprechen. Um wahrhaft Geschichten zu erzählen, die geeignet sind, die Strukturen der Gesellschaft aufzubrechen, müssen wir umgekehrt erst einmal verstehen, wie diese Strukturen unsere Erzählungen seit Jahrhunderten beeinflussen. Dieser Einfluss erstreckt sich bis in die Grundlagen unserer Erzähltraditionen und der fiktiven Welten, die wir erschaffen.

Was uns die Heldenreise lehrt

Deutlich wird dies beispielsweise bei der Heldenreise nach Campbell. Diese diente zahllosen Büchern, Filmen und Serien als Schablone und ist immer noch als Erfolgsrezept bekannt, nach dem Geschichten funktionieren. Aber auch darüber hinaus wird sie in Selbsthilfebüchern und Coachings verwendet. Der Protagonist der Heldenreise hört den Ruf des Abenteuers, folgt ihm nach erster Verweigerung, besteht Gefahren und Prüfungen und stellt sich schließlich dem Endgegner, der größten Gefahr, ehe er transformiert und mit Schätzen oder Belohnungen versehen, den Weg zurück in sein altes Leben antritt, wo Anerkennung und oft auch Liebe auf ihn warten. Dieser Monomythos ist Grundlage unendlich vieler Geschichten. Damit trifft er gleichzeitig eine Aussage darüber, was von der Mehrheitsgesellschaft als Grundlage von Geschichten angesehen wird und was nicht. Immer wieder wird argumentiert, jede Geschichte ließe sich auf wenige kurze Grundformeln herunterbrechen und eigentlich sei alles schon einmal erzählt worden. Doch dies sagt lediglich aus, dass jene bestimmten Grundformeln gesellschaftlich etabliert sind und als die Norm angesehen werden. Wie jede andere Norm ist auch diese geprägt von den Grundpfeilern unserer Gesellschaft, zu denen Patriarchat und Heteronormativität ebenso gehören wie kapitalistisches und oft auch noch kolonialistisches Denken. Welche Werke Einzug in den Literaturkanon und die immer neu aufgelegte Reihe der Klassiker gefunden haben, hing schon immer davon ab, welche Personen die Macht hatten, darüber zu entscheiden, und es gab seit der Erfindung der Druckerpresse niemals eine Zeit, in der das nicht beinahe ausschließlich weiße, wohlhabende, heterosexuelle cis-Männer waren. Wenn wir also von der Heldenreise als Monomythos sprechen, müssen wir zumindest in Betracht ziehen, das andere Erzählstrukturen auch in der Vergangenheit existiert haben und lediglich nicht ausreichend verbreitet und archiviert wurden, um sie heute noch zu kennen.

Doch zurück zur Heldenreise. Dieser soll zuallererst nicht ihre Funktion und Wirkungsweise abgesprochen werden, die selbstverständlich als Grundlage einer spannenden Erzählung ihren Wert hat und nicht umsonst bis heute immer wieder reproduziert wird. Dennoch kommen wir an einer kritischen Betrachtung des Monomythos nicht vorbei, wenn es darum geht, aufzuzeigen, wie Heteronormativität Grundlage unserer Geschichten ist. In ihrem Artikel I Don’t Want to Be the Strong Female Lead in der NEW YORK TIMES machte die Filmemacherin Brit Marling eine bemerkenswerte Aussage über die Heldenreise. »Manchmal habe ich das Gefühl, sie greifen zu können. Eine wahrhaft freie Frau. Aber wenn ich versuche, sie in die Heldenreise zu pressen, dann weicht sie aus dem Bild wie eine Fata Morgana. Sie sagt mir: ›Brit, die Heldenreise besteht aus jahrhundertelang erzählten Präzedenzfällen, geschrieben von Männern, die andere Männer mythologisieren. Ihr Muster ist ein aufstachelndes Ereignis, gefolgt von steigender Spannung, einem explosiven Höhepunkt und Auflösung. Woran erinnert dich das?‹ Und ich sage, an einen männlichen Orgasmus.« Marling kommt in dem Artikel zu dem Schluss, dass neue Geschichten nicht erzählt werden können, wenn man lediglich den Helden in der Heldenreise durch eine Heldin austauscht, durch die oft angepriesene starke Frau, die sich genauso verhält wie ihr männliches Gegenstück. Solange die Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in ihrem binären Geschlechterdenken als weiblich ansieht (siehe hierzu auch den Artikel von Judith Vogt in diesem Buch), nicht als solche angesehen werden, die zur Lösung von Problemen beitragen können, ist es unerheblich, welche Art von Figur die Heldenreise durchläuft. Diese ist schon in sich die geschichtengewordene Zementierung von patriarchalen, kapitalistischen und heteronormativen Strukturen.

Obwohl der Schwerpunkt dieses Artikels auf der Heteronormativität liegt, soll kurz auch auf die anderen Bereiche eingegangen werden. Beispielsweise fungiert in vielen Geschichten, die der Heldenreise folgen, die sexuell-romantische Beziehung zu einer Frau als Belohnung und Anreiz für den männlichen Protagonisten. Oft muss der Protagonist sich erst beweisen, seinen Wert zeigen, Ruhm oder Schätze erlangen oder sich in bewaffneten Auseinandersetzungen als der Stärkere erweisen, ehe sein Interesse von der Frau erwidert wird. Damit fördert die Heldenreise das patriarchalische Anspruchsdenken, das Recht des Helden auf die ihn liebende Frau. Kapitalistisch geprägt ist hingegen die Vorstellung, dass kein klassischer Held von seiner Heldenreise ärmer zurückkehrt als er aufgebrochen ist. Sei es Gold, das magische Schwert, das eigene Raumschiff oder gleich der Anspruch auf den Thron – die Reise muss sich am Ende gelohnt haben. Selbst wenn der Held gutherzig ist und anderen ohne das Versprechen einer Gegenleistung hilft, so erhält er diese am Ende doch. Nicht von ungefähr wird die Heldenreise auch in jenen Geschichten verankert, die in der Realität spielen – der American Dream, der verspricht, dass es jeder vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann, ist nichts anderes als das. Dadurch wird der einzelnen Person das Heldentum und die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal aufgebürdet und jegliche strukturelle Benachteiligung ausgeblendet.

Wie sich Heteronormativität in Erzählungen zeigt

Heteronormativität ist ein Begriff aus der Queer Theory, der bezeichnet, dass Heterosexualität und binäre Geschlechtszuordnung als soziale Norm angenommen wird. Daraus folgt, dass heterosexuelle Personen die privilegierte Stellung genießen, dass die Gesellschaft mit ihren Gesetzen, Gepflogenheiten und eben auch ihren Geschichten auf sie zugeschnitten ist. Ein Beispiel hierfür ist die immer noch präsente Benachteiligung und Diskriminierung von queeren Familienmodellen, in denen beispielsweise ein Elternteil nicht automatisch rechtliche Mutter oder Vater des innerhalb einer Ehe geborenen Kindes ist. Andere sind Gendermarketing, also das Anpreisen von Produkten mit dem Zusatz »für Männer« oder »für Frauen«, welches schon bei Spielzeugen, Kleidungsstücken etc. für Säuglinge und Kleinkinder beginnt. In erzählten Geschichten liegt die Heteronormativität, wie oben erwähnt, scheinbar auf der Hand: Heterosexuelle Figuren sind die Norm, queere Figuren und Liebesgeschichten werden oft behandelt, als seien sie nur für ein bestimmtes Zielpublikum gedacht.

Doch die Heteronormativität von Erzählungen zeigt sich noch in vielen anderen Punkten. Ein Beispiel hierfür ist die Idee von Protagonist*innen, die sich stets verbessern und, wenn auch mit Rückschlägen, dem eigenen Erfolg entgegenstreben. Ein stetiges Vorankommen, ein stetiger Gewinn an Fähigkeiten, Wissen und Reichtum, gespeist aus dem eigenen Willen und den eigenen Talenten, ist schon in sich eine heteronormative Idee. Die allermeisten queeren Personen – und das gilt auch für alle anderen marginalisierten Gruppen – erfahren ihr ganzes Leben lang Diskriminierung und müssen sich mit sehr viel mehr Hindernissen herumschlagen, um voranzukommen, während gleichzeitig das von der Mehrheitsgesellschaft propagierte Bild von Erfolg (gutes Einkommen, Eigentum, Heirat, eigene Kinder) etwas ist, was sie nicht oder nur schwer erreichen können und vielleicht auch gar nicht wollen. Hinzu kommt, das queere Communities sich oft gegenseitig stark unterstützen und erlangter Reichtum und geknüpfte Beziehungen aneinander weitergegeben werden, sodass auch deswegen die einzelne Person weniger für sich behält.

Auch die eigene Agenda, die Protagonist*innen antreibt, das Streben nach bestimmten Zielen oder größerer Macht, ist etwas, was sich mit marginalisierten Identitäten schwer vereinbaren lässt. Die Vorstellung, etwas verändern zu können, ist nicht nur ganz praktisch abhängig von Geld, Zeit und Energie, die queere Personen oft schon im Alltag nicht haben, sondern auch von dem Selbstbewusstsein, das eigene Schicksal in die Hand nehmen zu können. Hinzu kommt, dass auch die Idee, die Macht würde schon denjenigen zufallen, die sie auch verdient haben, von derselben heteronormativen Zuversicht geprägt ist. Wenn am Anfang der Geschichte böse Tyrann*innen herrschen, dann wird alles besser werden, wenn die Held*innen sie erst einmal gestürzt haben. Im Gegensatz hierzu steht die Lebensrealität von queeren Menschen, die oft ungeachtet politischer Machtwechsel denselben diskriminierenden Strukturen ausgeliefert bleiben.

Schlussendlich ist auch die Gewissheit der eigenen Identität eine heteronormative Sichtweise. Zwar sind auch Enthüllungen über die wahre Herkunft von Protagonist*innen oder deren Rolle als Auserwählte ein gern verwendetes Element von Geschichten, doch dabei wird selten die grundlegende Identität einer Figur infrage gestellt. Im Gegensatz dazu ist das Finden, Verfestigen und Verteidigen der eigenen Identität für queere Personen oft allgegenwärtig. Das Hinterfragen des eigenen Selbstbilds, das ständige Aushandeln der eigenen Wahrnehmung und das stetige Verhandeln darüber, dass diese Wahrnehmung valide und korrekt ist, begleiten queere Menschen oft ihr Leben lang. Der oder die Auserwählte einer phantastischen Geschichte wird oft nach kurzer Zeit als solche*r akzeptiert – auch dies wieder eine heteronormative Erfahrung, die von beispielsweise trans Personen, die jahrelang mit Gutachten, Gerichtsverfahren und komplizierten Behördengängen kämpfen müssen, leider nicht geteilt werden kann.

Heteronormatives Denken prägt also nicht nur die Auswahl der Protagonist*innen einer Geschichte, sondern die Geschichte selbst. Deshalb kann die Repräsentation nur der erste Schritt auf einem Weg zu queeren und queerfeministischen Geschichten und Welten sein. Queere Science Fiction zu schreiben bedeutet nicht, die immer gleichen Geschichten zu erzählen, und nur, wie es die kanadische Spieldesignerin Avery Alder nennt, »’nen Schwulen draufzupappen«. Alder hat in einem Talk über queeres Spieldesign aufgezeigt, wie sehr Heteronormativität auch Grundlage von Spielmechaniken ist und wie man diese aufbrechen kann. Viele der von ihr genannten Aspekte lassen sich ebenso auf Erzählstrukturen und Weltenbau in der Literatur anwenden.

Die Rolle der Gemeinschaft

Ein erstes Beispiel ist die Berücksichtigung der großen Rolle, die die Gemeinschaft spielt, und das Teilen der eigenen Ressourcen mit dieser. Eine solche Erzählung findet sich beispielsweise in dem Cyberpunk-Roman The Tiger Flu von Larissa Lai. Dieser entwirft eine Gemeinschaft geklonter Frauen, unter denen die sogenannten Starfish eine besondere Rolle spielen: Sie können Organe und Gliedmaßen nachwachsen lassen und geben diese an andere Mitglieder der Community weiter. In einem Interview zum Buch gibt Lai an, dass eine der Inspirationen für den Roman die Idee war, dass Menschen in einer Gemeinschaft biologisch voneinander abhängig sind. Das Weitergeben der Organe nimmt außerdem Bezug auf die Geschichte Those Who Walk Away from Omelas von Ursula Le Guin. Während dort ein Kind, das unter der Stadt gegen seinen Willen gehalten wird, leidet und alles Negative für die Gesellschaft aufzusaugen scheint, befindet sich die Starfish in The Tiger Flu in einer Liebesbeziehung mit einer anderen Frau der Gemeinschaft und sieht das Versorgen der anderen Frauen mit Teilen ihres Körpers als ihre Pflicht an.

Gemeinschaft und schwierige, komplizierte Beziehungsgeflechte sind ein weiteres Merkmal von queerem Weltenbau. Eine der am häufigsten vorkommenden unrealistischen Darstellungen von queeren Figuren ist diejenige, die sie allein auftreten lässt. Eine einzige queere Person in einem ansonsten heteronormativen Personenkreis mag sich als Konzept interessant anhören, ist aber völlig lebensfern gedacht. Queere Menschen suchen und finden einander, und oft ergeben sich dabei Gemeinschaften, die davon geprägt sind, aufeinander angewiesen zu sein und deshalb auch trotz größerer Differenzen zusammenzuhalten. Die bekanntesten Formate über queeres Leben, beispielsweise Serien wie Queer as Folk, The L Word oder Pose, beinhalten stets auch diese Gruppendynamik. Im Gegensatz dazu beginnen viele klassische Heldengeschichten damit, dass eine Gemeinschaft zurückgelassen wird oder verloren geht, wenn das Abenteuer ruft. Gerade beim freiwilligen Aufbruch der Held*innenfigur geht damit auch die Annahme einher, dass sich eine neue Gemeinschaft schon finden wird oder in die alte zurückgekehrt werden kann. Dies ist eine Annahme, die queere Menschen in der Realität nicht ohne Weiteres treffen können. Das Festhalten an einer Gemeinschaft trotz Differenzen zwischen ihren Mitgliedern, die Abhängigkeit voneinander und das stetige Aushandeln der Bedingungen des Zusammenlebens sind also weitere Elemente, die Erzählungen und fiktive Welten weniger heteronormativ machen. Solche Gemeinschaften finden sich beispielsweise in der Roman-Dilogie Semiosis und Interference von Sue Burke, in der von der Erde stammende Menschen einen neuen Planeten besiedeln und sich hierbei mit intelligenten Pflanzen arrangieren und mit diesen kommunizieren müssen. Auch in der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers geht es immer wieder um das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Spezies. Die MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood entwirft sowohl die Gardeners als Gemeinschaft, die nur gemeinsam gegen die Umweltkatastrophen anarbeiten kann, als auch die Idee von mehreren Spezies, die sich nach dem Untergang der Zivilisation miteinander arrangieren müssen.

Einen weiteren Aspekt von queeren Erzählstrukturen bezieht The Stars Change von Mary Anne Mohanraj mit ein. In dieser Sammlung von Kurzgeschichten, die zusammen eine übergreifende Romanhandlung ergeben, werden aus unterschiedlichsten Perspektiven die Ereignisse eines Bombenangriffs auf eine Stadt auf einem fremden Planeten erzählt, die von menschlichen Siedelnden und verschiedenen Aliens bewohnt wird. Das Besondere hierbei ist, dass all die unterschiedlichen Protagonist*innen der einzelnen Erzählungen durch verschiedenste Formen sexueller oder romantischer Beziehungen verbunden sind. Auch dies ist ein Merkmal queerer Gemeinschaften, die sich dadurch auszeichnen, dass auch Ex-Geliebte, ehemalige Affären oder Ehepartner*innen immer noch Teil derselben Gemeinschaft bleiben. The Stars Change thematisiert zudem auch das Konfliktfeld zwischen Herkunftsfamilie und Gemeinschaft – mal auf ganz deutliche Weise, indem eine der Protagonist*innen die Beziehung zu ihrer Freundin aus Angst vor der Reaktion ihrer Familie beendet, mal eher verklausuliert, indem ein Angehöriger einer Alienspezies lieber den Freitod wählt als sich, wie es seine Aufgabe wäre, seiner Familie als Nahrung zur Verfügung zu stellen.

Vom Suchen nach Identität

Die Suche nach der eigenen Identität, die tiefer geht als die Frage nach Herkunft oder Rolle in einer Gruppierung, ist eine weitere Möglichkeit, queere Geschichten zu erzählen. Die wenigstens cis-heterosexuellen Menschen denken darüber nach, ob sie auch wirklich heterosexuell sind, ob sie sich wirklich als cis bezeichnen dürfen, ob sie wirklich Teil der queeren Community sind. Für jene Personen, die von der heteronormativen Norm abweichen, bedeutet dies oft ein lebenslanges und immer wieder neu geführtes Nachdenken über und Definieren der eigenen Sexualität, Genderidentität und auch Körperlichkeit. Körperliche oder soziale Dysphorie, also das Gefühl von Unwohlsein mit dem eigenen Körper oder der von anderen auferlegten Geschlechterrolle, ist etwas, was vor allem trans und nicht binäre Personen (aber auch andere queere Menschen) kennen. Auf drastische Weise wird dies z. B. im Horror-Computerspiel The Missing thematisiert. Die Protagonistin J. J. kommt dem Ziel, ihre Freundin zu retten, nur näher, indem sie ihren eigenen Körper auf verschiedenste Weise verstümmelt, auseinanderreißt und als Werkzeug einsetzt, was sich im Verlauf des Spiels als Metapher für ihre (nicht geoutete) trans Identität herausstellt. Auch wenn Geschichten über queeren Schmerz immer vorsichtig betrachtet werden sollten, da zu oft queere Personen nur über ihre Identität und das Leiden darunter dargestellt werden, kann eine solche Umsetzung Aussagen über den Kampf treffen, den queere Menschen ausfechten müssen. Ein Review zum Spiel von Julie Muncy fasst es so zusammen: »Es geht um das dauerhafte Spielen einer Rolle, die nicht deine ist. Um den Schrecken, von deinem Umfeld nicht als ›männlich genug‹ angesehen zu werden. Um den stummen Schmerz, wenn deine Eltern und Freund*innen unsensible oder noch schlimmere Kommentare über die Art von Person machen, die du im Geheimen bist. Es ist der Schmerz von Geheimnissen, von systematischer Unterdrückung, von einer Gesellschaft, die etwas dagegen hat, dass du die Wahrheit über dich herausfindest.«

Ebenso wichtig wie Geschichten über den schmerzlichen Kampf mit der eigenen Identität sind solche, in denen die Suche nach ihr erfolgreich ist und in der die Grenzen der Erwartungen der Gesellschaft gesprengt werden können. Auch wenn es nicht direkt um queere Figuren geht, darf hier wohl die Serie Westworld genannt werden, in der es immer wieder darum geht, wie vor allem weibliche Figuren gegen die ihnen zugedachten Rollen rebellieren. Ein weiteres Beispiel ist der zweite Teil der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers, A Closed and Common Orbit (dt. Zwischen zwei Sternen), in dem eine KI und ein geklontes Mädchen versuchen herauszufinden, wer sie sind und wer sie sein wollen.

Die Akzeptanz des Andersseins

Im Weltenbau aus queerfeministischer Perspektive liegt eine große Chance darin, Gesellschaft anders zu denken, das Anderssein zu akzeptieren und anzunehmen und Eigenschaften positiv herauszustellen, die in unserer patriarchal-heteronormativen Gesellschaft abgewertet werden. Oft geht es in fiktiven Science-Fiction-Welten nur darum, wie sich diese technisch, biologisch oder physikalisch von unserer unterscheiden, während das Neu-Denken von Zusammenleben, Geschlechterrollen, Sexualität und Gesellschaftsstrukturen eine sekundäre Rolle spielt und reale Gegebenheiten nicht hinterfragt und übernommen werden. Eine wichtige Rolle beim Entwerfen einer im Grundsatz queeren Gesellschaft spielt der Gedanke, dass alle Personen mit ihren Eigenheiten, besonderen Stärken und Schwächen, ihrem Anderssein und ihren Absurditäten willkommen und wichtig sind. Dies gilt nicht nur für Queerness, sondern auch für körperliche und neurologisch-psychische Abweichungen von der Norm. So entwerfen beispielsweise Judith und Christian Vogt in ihrem Roman Wasteland eine Gemeinschaft, in der neurodiverse Personen (wie beispielsweise der bipolare Protagonist) ihren Platz finden und akzeptiert werden, ohne dafür ihr Anderssein durch Medikamente der Mehrheit anpassen zu müssen. Auch die Vorstellung der Kleinfamilie wird in diesem Roman aufgebrochen (beispielsweise durch drei in einer polyamoren Beziehung lebende Frauen, die gemeinsam eine große Gruppe von Enkeln erziehen), ebenso wie im dritten Band der WAYFARER-Reihe Unter uns die Nacht von Chambers, in der menschliche Siedelnde auf einem anderen Planeten in Kleinsteinheiten leben, die anarchistisch anmuten und gemeinsam über ihre Belange entscheiden. Auch Sexarbeit wird in diesem Buch positiv und ohne Stigma dargestellt.

Einen anderen wichtigen Aspekt greift Octavia Butler in Die Parabel vom Sämann auf, in der die Besonderheit der Protagonistin Lauren in ihrer Hyperempathie liegt. Erst durch ihre, in unserer Gesellschaft als zutiefst feminin angesehene Fähigkeit, das Leid anderer Menschen mitzufühlen und als das eigene zu empfinden, wird Lauren dazu angetrieben, eine eigene Gemeinschaft zu gründen und den Weg zu einem neuen und besseren Leben zu suchen. Auch die schon erwähnte MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood stellt die Gardeners, die mit Recycling, Pflanzenzucht und Imkerei ihre Lebensgrundlage in einer postapokalyptischen Welt schaffen, als eine Community dar, deren Stärke und Überleben von weiblich konnotierten Tätigkeiten abhängt. Auch in der aktuellen Situation der Corvid19-Pandemie zeigt sich, dass große und weltumstürzende Krisen nicht immer von einer einzelnen Held*innenfigur gelöst werden können, wie Laurie Penny in ihrem Artikel This is not the Apocalypse you were looking for feststellt. »Die Leute in der ersten Reihe sind keine Kämpfer*innen. Sie heilen und pflegen. Genau die Leute, deren Arbeit kaum einmal angemessen bezahlt wird, sind diejenigen, die wir wirklich brauchen, wenn es richtig schlimm aussieht. Pflegekräfte, Ärzt*innen, Reinigungskräfte, Fahrer*innen. Emotionale und häusliche Arbeit waren nie Teil der großartigen Geschichte, die Männer sich gegenseitig über das Schicksal der Menschheit erzählt haben – nicht einmal, wenn sie sich deren Untergang ausmalten.«

Als letzten Aspekt queerer Erzählungen möchte ich noch kurz auf die verwendete Sprache selbst eingehen. Das erste Neopronomen, das ich jemals las, stand nicht in einem Sachtext zum Thema Grammatik oder Nicht-Binärität, sondern in einem Roman, in dem eine nicht-binäre Figur vorkam. Science-Fiction-Geschichten können auch durch die sprachliche Komponente queere Inhalte transportieren. Wenn es geschlechtsneutrale Begriffe und Neopronomen gibt, sich Figuren einander mit ihren Pronomen vorstellen und auf abwertende Sprache gegenüber queeren Personen und anderen Marginalisierten verzichtet wird, wirkt sich dies nicht nur auf die Erzählung, sondern auch auf die Lesenden aus. Je mehr Perspektiven und Identitäten mitgedacht und berücksichtigt werden, desto mehr kann eine fiktive Geschichte auch in der Realität für mehr Akzeptanz und Rücksicht sorgen.

Jenseits der Fiktion

Zum Abschluss des Artikels möchte ich noch einmal auf die Heldenreise eingehen und behaupten, dass diese sich nicht nur in Geschichten, sondern auch in unserem Umgang damit fest verankert hat. Ein Buch verkauft sich besser, wenn ein Aufkleber verkündet, wie viele Wochen es schon auf der Bestsellerliste ist. Wenn wir auf Netflix eine Serie starten, sehen wir automatisch, welchen Platz sie im bundesweiten Ranking gerade hat. Filme werden noch einmal neu ins Kino gebracht, wenn damit der Rekord der meistverkauften Kinotickets gebrochen werden kann. Literaturpreise und Film-Awards sind bestimmt vom Gedanken an ein Siegertreppchen, einen Rekord, einen neuen Helden oder wenigstens eine neue Heldin. Gleichzeitig werden Inhalte, die umsonst verfügbar sind und die Mitglieder einer Community füreinander erschaffen und miteinander teilen – wie Fanfiction in unterschiedlichsten Formen, kostenlose Geschichten, Comics oder ganz andere Erzählformate – noch immer als minderwertig oder schräg angesehen. Dabei finden sich gerade dort oft Inhalte, die neue Wege gehen und die Stimmen marginalisierter Personen hörbar werden lassen.

Wo sind die Preisverleihungen für die Verlagsleiter*innen, die sich um ein diverses Programm bemühen? Für die Showrunner*innen, die darauf achten, dass im Writers Room und im Regiestuhl nicht nur weiße cis Hetero-Männer Platz nehmen? Für die Community-Organisator*innen, die darauf achten, dass sich alle wohl und sicher fühlen? Noch immer ist eine diverse und einander unterstützende Gemeinschaft weniger wert als die einzelne herausragende Person, und das ist deshalb eine zutiefst heteronormative Sichtweise, weil nicht-queere Personen eine Gemeinschaft, in der man sich wohlfühlt und akzeptiert wird, als selbstverständlich wahrnehmen.

Wenn wir also wollen, dass unsere Erzählungen diverser, queerer und inklusiver werden, müssen wir nicht die Fiktion selbst queer denken, sondern auch alle äußeren Umstände, die mit ihr einhergehen.

Das Science Fiction Jahr 2020

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