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Kai U. Jürgens

»Ich könnte diese vage, verschwommene Stadt verlassen …«

Zum 40. Geburtstag der Übersetzung von Samuel R. Delanys Roman Dhalgren

Mein Leben hier ähnelt mehr und mehr einem Buch,

dessen Anfangskapitel, ja auch dessen Titel Rätsel

beinhalten, die erst am Ende enthüllt werden.

Dhalgren, S. 956[1]

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Jede Literatur hat ihre Großromane: Bücher, die bereits dem Umfang nach Herausforderungen darstellen und mit dem respektgebietenden Nimbus versehen sind, ihre Themen auf innovative, komplexe und bisweilen schwer verständliche Weise abzuhandeln. Mitunter geht von diesen erratisch wirkenden Ungetümen eine erstaunliche Aura aus, die sie nicht nur zu erfolgreichen »Longsellern«, sondern auch zu Kultbüchern macht. Ulysses (1922) von James Joyce wäre so ein Fall oder Zettel’s Traum (1970) von Arno Schmidt; ein Zehnkiloobjekt, das seinen Ruf als Überbuch in immer neuen Auflagen (und zwei Raubdrucken) verteidigt.

Im Bereich der Science Fiction kommt dieser Status Dhalgren von Samuel R. Delany zu, ein im Original »voluminös verstörender«[2] 800-Seiten-Roman, der 1975 erstveröffentlicht wurde und trotz ambivalenter Kritiken – sowohl Harlan Ellison als auch Philip K. Dick lehnten das Buch ab – zum erfolgreichsten Titel des Autors wurde; die Gesamtauflage soll eine Million Exemplare schon länger überschritten haben. Acht verschiedene Ausgaben sind über die Jahre erschienen; dazu kommen noch eine Version als E-Book und eine limitierte Auflage für Sammler. Und das, obwohl offenbar kein Verlag bislang die den Autorenintentionen entsprechende Fassung einzurichten vermochte, wie eine von Delany autorisierte und umfängliche Korrekturliste aus dem Jahr 2012 belegt.[3]

In Deutschland erschien Dhalgren im September 1980 als »SF-Special« bei Bastei Lübbe, wobei Michael Görden als Herausgeber fungierte und Michael Kubiak das Lektorat besorgte. Annette Charpentier[4] hat bei Dhalgren »wochen-, ja monatelang an der Übersetzung herumgetüftelt« und schreibt rückblickend: »Ich weiß noch, wie ich mich völlig in den Text versenkt habe, sozusagen von innen heraus übersetzt, und manche Szenen sind mir noch lebhaft im Gedächtnis.«[5] Die Leistung ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass kein Kontakt zum Autor bestand.[6] Dhalgren eröffnete eine Art Werkausgabe, in deren Verlauf der Verlag Bastei Lübbe bis 1988 die meisten Delany-Texte mit Genrebezug veröffentlichen konnte. Dieser weitreichende Schritt dürfte auf das gestiegene Publikumsinteresse in der Nachfolge des Welterfolgs Star Wars (George Lucas; USA 1977) zurückzuführen sein, der den etablierten Science-Fiction-Reihen und ihren Herausgebern neue Spielräume ermöglichte. Dass diese nicht von Dauer sein sollten, zeigt sich schon daran, dass Bastei Lübbe den NEVÈRYON-Zyklus unabgeschlossen ließ, da der vierte Band The Bridge of Lost Desire (1987) dort nicht erscheinen konnte. Dies mag auch damit zu tun gehabt haben, dass Delany in einem Verlag erschien, der vom Feuilleton nicht wahrgenommen wurde, sodass ein literarisch erfahreneres Publikum dort nicht einzuspringen vermochte, wo Genreenthusiasten zunehmend mit Ratlosigkeit und Desinteresse reagierten. Dhalgren konnte zwar im November 1981 noch eine zweite Auflage erreichen, doch die offensichtlichen Ambitionen wurden dem Roman selbst in Reclams Science Fiction Führer zum Vorwurf gemacht – er wäre keine SF, daher an Hochliteratur zu messen und im Hinblick auf Thomas Pynchons Meisterwerk Gravity’s Rainbow (1973; dt. Die Enden der Parabel) »arm an Aussagen und Originalität«.[7] Nachfolgend sollte es dann nur sehr vereinzelt zu einer weiteren Beschäftigung mit Delany im deutschsprachigen Raum kommen. Kein Wunder also, wenn Dhalgren unterdessen weitgehend vergessen ist; ein Schicksal, das das Buch mit seinem Autoren teilt: Die 2012 begonnene Neuedition von Delanys Werken durch den Golkonda Verlag ist trotz aller Sorgfalt bereits drei Jahre später ins Stocken geraten; eine Weiterführung erscheint fraglich. Annette Charpentier: »Für Dhalgren war auch eine überarbeitete Neuausgabe geplant, bei Golkonda, wiederum unter Michael Görden, aber das Projekt wurde nach den sehr mäßigen Verkaufszahlen der Neuauflage der Nimmèrÿa-Geschichten nicht realisiert.«[8]

Bedenkt man, welche Rolle Delany im literarischen Betrieb der USA spielt, dann trägt diese Entwicklung zumindest erstaunliche Züge. Der Autor ist dort nämlich längst keine Genrefigur mehr, sondern wird schon lange als »Schüsselautor der Postmoderne«[9] gewürdigt; er gilt als »writer and thinker whose work had an enormous influence across a startling range of literary and paraliterary genres, including science fiction, autobiography, pornography, historical fiction, comic books, literary criticism, queer theory, and more«.[10] Doch selbst wenn man sich auf seine Anfänge als reiner Science-Fiction-Autor beschränkt, liegt die Messlatte hoch: »Unbestritten war [Delany] zusammen mit Roger Zelazny das Ereignis in der amerikanischen Science Fiction der sechziger Jahre und hat, wie kaum ein zweiter, die Gestalt und die Ausdrucksfähigkeit der Gattung auf ein neues, in diesem Genre nicht zu vermutendes Niveau gehoben.«[11] Dass für Delany hierzulande weder in- noch außerhalb der SF Platz sein soll, bleibt eine irritierende Tatsache. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, welche Akzeptanz die Bücher von Philip K. Dick oder William Gibson unterdessen genießen.


Samuel R. Delany

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Welche Perspektiven ergeben sich nun auf Dhalgren, wenn man das Buch vierzig Jahre nach Erscheinen liest? Lässt man die Tatsache beiseite, dass die fünfeinhalb Zentimeter Buchrücken in der Tat schwer handhabbar sind, zeigt sich der Roman trotz seiner zeitgenössischen Bezüge – wie Raumfahrt, Vietnamkrieg und Jugendkultur – kaum gealtert, zumal überzeitliche Aspekte dominieren: Selbsterfahrung, kreative Entfaltung und das Ausleben der eigenen Sexualität sind ebenso zeitlos wie der nach wie vor schwelende Konflikt zwischen Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe. Auch wenn Dhalgren in vielen Dingen ein »typischer« Roman aus den USA der 1970er-Jahre ist, lässt er sich keineswegs auf die Dekade festlegen. Vor allem erzählerisch erscheint er weiterhin frisch: Die größte Herausforderung beim Lesen besteht darin, die bewusste Vagheit und Verschwommenheit zu akzeptieren, die das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile durchzieht – der Erklärungsmangel wird »zu einem wesentlichen Faktor«[12] in der literarischen Ausgestaltung. Dhalgren ist fragmentarisch, sprunghaft und gegen jede lineare Lektüre entworfen, was eine kausale Interpretation erschwert. Obwohl der Roman durchaus eine wiedergebbare Geschichte erzählt, bleiben viele Details – wie etwa die Zeitstruktur und die Beschaffenheit bestimmter Ereignisse – dauerhaft offen und müssen in dieser Offenheit auch akzeptiert werden. Dies ist speziell aus der auf Eindeutigkeit abzielenden Genreperspektive eine Herausforderung, und so schreibt William Gibson treffend: »Dhalgren is not there to be finally understood. I believe its ›riddle‹ was never meant to be ›solved‹.«[13]

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Zunächst kurz zum Autor und zur Handlung. Der 1942 geborene Samuel R. Delany hatte bereits mit zwanzig Jahren begonnen, SF zu veröffentlichen, wobei seine frühen Arbeiten literarisch weniger ergiebig sind. Ab 1966 jedoch publizierte er in rascher Folge ambitionierte und vielschichtige Bücher, die beinahe durchgehend preisgekrönt wurden: Babel-17 (1966; dt. Babel-17), The Einstein Intersection (1967; dt. Einstein, Orpheus und andere) sowie Nova (1968; dt. Nova) gehören mit den beiden Erzählungen »Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones« (1968; dt. »Zeit, angenommen als eine Helix aus Halbedelsteinen«) und »Aye, and Gomorrha« (1966; dt. »Jawohl, und Gomorrha«)[14] zu den wichtigsten modernen Science-Fiction-Arbeiten überhaupt und sind im US-amerikanischen Kontext dieser Zeit mit den besten Texten von Thomas M. Disch, Robert Silverberg und Roger Zelazny gleichzusetzen; ihre Zugehörigkeit zur »New Wave« dürfte unstrittig sein. Delanys Talent und seine breit gefächerten Interessen sollten ihn mit Dhalgren (1975) erstmals in einen Bereich bringen, der mit dem Etikett »Science Fiction« nur ungenügend erfasst wird; dies gilt auch für seine nachfolgenden Romane Triton (1977) und Stars in My Pocket Like Grains of Sand (1984; dt. In meinen Taschen die Sterne wie Staub), die aber formal konventioneller ausfallen. Seither hat Delany Science Fiction weit weniger beschäftigt als etwa die Fantasy (RETURN TO NEVÈRŸON-Serie, 1979–1987), auch wenn er vereinzelt Bücher mit entsprechenden Elementen publiziert.

Dhalgren lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein siebenundzwanzigjähriger »Indio-Amerikaner« (S. 95) macht sich, nachdem er in einer Höhle eine Kette aus Prismen gefunden hat, auf den Weg nach Bellona, einer verbotenen Stadt, die von einer unbestimmten und lokal begrenzten Katastrophe heimgesucht wurde. Beim Betreten erhält er, der seinen Namen nicht kennt, von zwei jungen Frauen eine als »Orchidee« bezeichnete Waffe und kurz darauf vom Ingenieur Tak Loufer einen Namen: Kid (auch »Kidd« oder »The Kid«). Er lernt Mitglieder einer Jugendgang kennen, die sich als »Skorpione« bezeichnen und auf der Straße hinter Hologrammen verstecken. Von der attraktiven Lanya, die kurz darauf seine Geliebte wird, bekommt er ein bereits benutztes Notizbuch, auf dessen leeren Seiten er Lyrik und spontane Beobachtungen festhält; dabei gibt es Hinweise darauf, dass die Aufzeichnungen zumindest Teile des Texts von Dhalgren enthalten. Kid bemerkt am Nachthimmel einen zweiten Mond und lernt nach und nach verschiedene Subkulturen von Bellona kennen, die sich auf ihre Weise mit der zerstörten Infrastruktur der Stadt arrangiert haben. Familie Richards beispielsweise simuliert eine »Heile Welt«, in welcher der Vater jeden Tag zur Arbeit geht, wohingegen ihre (weiße) Tochter unentwegt versucht, eine sexuelle Beziehung mit dem (schwarzen) George Harrison einzugehen, obwohl er sie einem – allerdings fragwürdigen – Zeitungsbericht nach vergewaltigt haben soll. Als ihr Bruder droht, ihre Neigung publik zu machen, stößt sie ihn in einen Fahrstuhlschacht. Kid hilft den Richards bei einem Umzug, wird aber um seinen Lohn geprellt. Seine Gedichte finden bei dem Dichter Ernest Newboy Anklang, und er erhält von dem Zeitungsverleger Roger Calkins das Angebot, sie in Buchform erscheinen zu lassen. Kid entscheidet sich für den Titel Messing Orchideen. Er nimmt am Überfall auf ein Kaufhaus teil und bemerkt, dass er fortgesetzte Schwierigkeiten mit der Zeitwahrnehmung hat. Sein Buch wird wunschgemäß anonym veröffentlicht; kurz darauf erscheint über Bellona eine riesenhaft aufgeblähte Sonne, die jedoch keine Hitze ausstrahlt. Kids Versuche scheitern, dieses Phänomen wie auch das Rätsel um den zweiten Mond mit dem Astronauten Captain Michael Kamp zu lösen, der ebenfalls keine Erklärung findet. Kid und Lanya gehen mit dem fünfzehnjährigen Denny eine dauerhafte Ménage à trois ein, die aber weitere sexuelle Eskapaden nicht ausschließt. Kid rutscht immer mehr in die Rolle eines Anführers der Skorpione hinein, was bisweilen zu ruppigem Verhalten bei Streitereien führt. Zufällig entdeckt er, dass die hochgeachteten Insignien der Skorpione – wie etwa seine Kette – Produkte industrieller Massenfabrikation sind. Das Erscheinen der Messing Orchideen wird bei Roger Calkins gefeiert, dabei muss sich Kid anhören, er habe die Gedichte gar nicht selber geschrieben, sondern in besagtem Notizbuch vorgefunden. Nach einer Phase vorübergehenden Selbstbewusstseins wachsen nun seine Selbstzweifel.

Während die ersten sechs Teile von Dhalgren größtenteils personal erzählt werden, dominiert im siebten und letzten Kapitel die Ich-Perspektive. Der Text zerfällt in zahlreiche, teilweise mehrspaltig montierte Fragmente, die bisweilen Streichungen aufweisen und von einer Herausgeberinstanz kommentiert sind. – Kid hat mit George Harrison Kinder gerettet und wundert sich, dass der Farbige in dem entsprechenden Zeitungsartikel nicht vorkommt. Kurz darauf wird Kid aufgrund seiner vergleichsweise hellen Hautfarbe verdächtigt, für ein rassistisches Attentat verantwortlich zu sein, was er abstreitet. Kid bringt die Arbeit am Notizbuch zu Ende und hört von einem zweiten Gedichtband, den er geschrieben haben soll, von dem er jedoch nichts weiß. Er begegnet endlich Roger Calkins, der sich in ein Kloster zurückgezogen hat und als Politiker versteht; an Kids Literatur hat er kein Interesse, wohl aber an dessen Rolle in Bellona. Schließlich schreibt Kid in der dritten Person über sich selbst und stellt fest, dass sein Leben mehr und mehr einem Buch ähnelt, bei dessen Lektüre sich der Eindruck einstellt, »der Autor habe den Faden verloren« (S. 956). Es kommt zu einer psychoanalytischen Sitzung bei Madame Brown, in deren Verlauf Kid äußert, dass er Bellona – die »vage, verschwommene Stadt« (S. 489) – verlassen will. Bei einem ausgelassenen Fest erinnert er sich an seine Vornamen »Michael Henry«; der Reporter Bill, mit dem er sich kurz darauf unterhält, ist offenbar jener »William Dhalgren«, dessen Name Kid auf einer Liste begegnet ist, die dem Notizbuch beilag. Kurz darauf findet eine unbestimmte Katastrophe statt, bei der es sich auch um jene handeln könnte, die Bellona vor Handlungsbeginn zerstört hat. Kid verlässt die Stadt und gibt seine Orchidee einer jungen Frau, die nach Bellona will; dabei kommt es zu zahlreichen spiegelbildhaften Entsprechungen der Szene zu Beginn des Romans. Der letzte Satz des Buchs geht (beinahe) nahtlos in den allerersten über: »Warte hier, weg von dem schrecklichen Waffenarsenal, heraus aus den Hallen aus Dunst und Licht, jenseits der Leinwand und in die Berge bin ich gekommen / um / die herbstliche Stadt zu verwunden.« (S. 1011 und S. 5) Der Roman erweist sich als Text ohne Anfang und Ende, der nach dem Prinzip einer Möbiusschleife funktioniert; er könnte daher auch an einem anderen Punkt beginnen oder abschließen.

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Dieses Prinzip ist eine Anlehnung an Finnegans Wake (1939) von James Joyce, da der letzte Satz in den ersten übergeht. Auch wenn man diesen Aspekt nicht überbetonen sollte – eine Schleifenstruktur besitzt auch das 1973 erschienene Album The Dark Side of the Moon von Pink Floyd –, führt das Stichwort Joyce zu Delanys Erzählung Time Considered as a Helix of Semi-Precious Stones: Alle falschen Identitäten des Erzählers beginnen mit den Initialen »H. C. E.« und sind damit eine Anspielung auf die Figur des Humphrey Chimpden Earwicker aus Finnegans Wake. Tatsächlich nimmt die preisgekrönte Arbeit über einen kriminellen Händler und eine Ermittlerin viele Motive aus Dhalgren vorweg; genannt seien das subkulturelle Milieu, das Thema der Namensfindung und die Existenz einer Stadt namens Bellona. Zudem werden nicht alle Fragen beantwortet – womit die Figur handelt, bleibt genauso unklar wie der Hintergrund jener Instanz, die die Namen von Halbedelsteinen als Losungsworte verbreitet. Auch Aye, and Gomorrha weist auf Dhalgren voraus: Die Kurzgeschichte um eine Kultur, in der asexuelle »Raumer« gegen Bezahlung fetischistische Beziehungen mit Menschen beiderlei Geschlechts (den »Frelks«) unterhalten, ist bereits von jener sexuellen Ambiguität, die den späteren Roman prägt; dazu passt, dass der Erzähler erneut ein Indio-Amerikaner (wenngleich mit betont dunkler Hautfarbe) ist, dessen Name ungenannt bleibt. Auch hier würde ein genauerer Vergleich weitere Parallelen zutage fördern.



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Dhalgren lässt sich in erster Linie als die Geschichte von Kid und damit als Entwicklungsroman beschreiben. Der junge Mann betritt Bellona als Namenloser, der sich selbst nicht kennt und nun neue Erfahrungen macht, die ihn an die Spitze der Skorpione, in eine Dreierbeziehung und schließlich zum Schreiben führen. Doch er lernt auch seine negativen Seiten kennen, zum Beispiel seinen Hang zur Gewalttätigkeit, der sich in einem sinnlosen Raub – Beute: »drei Dollarnoten« (S. 886) – entlädt. Und er zweifelt an seinen kreativen Fähigkeiten. Nach einer ersten Phase, die von Anmaßungen und Größenwahn (»Selbst-Pontifikation«, S. 537) bestimmt ist, wird er mit massiver Kritik und dem Vorwurf konfrontiert, fremde Texte als die eigenen ausgegeben zu haben. Er schreibt zwar weiter, steht seiner Lyrik aber zunehmend gleichgültig gegenüber; als neue Gedichte verbrennen, gibt er sich unbeeindruckt: »Ich konnte sie nicht leiden. Deshalb ist es gut … daß sie weg sind.« (S. 958). Ob ein zweiter Lyrikband erscheint, bleibt bezeichnenderweise offen, zumal sich Kid weigert, ihn von Roger Calkins verlegen zu lassen, dem gegenüber er abstreitet, noch länger ein Schriftsteller zu sein: »Ich glaube, ich bin kein Dichter … nicht mehr, Mr. Calkins. Ich bin auch nicht sicher, ob ich je einer war.« (S. 938). Was Kid in erster Linie bleibt, sind die Vornamen »Michael Henry«, an die er sich erinnert hat. Zwar fehlt ihm der mit »F« beginnende Nachname, womit der Prozess noch nicht abgeschlossen ist, aber um ein greifbares Ergebnis handelt es sich allemal.

Kids Biographie wird im Buch vergleichsweise ausführlich dargestellt, während die meisten anderen Figuren geschichtslos bleiben. Auffällig sind zwei Eigenschaften an ihm: Sein linker Fuß ist unbekleidet (am rechten trägt er zunächst eine Sandale, dann einen Stiefel), und er hat ein Sauberkeitsproblem. Kid erscheint schmutzig, bisweilen stinkend; seine Reinigungsprozesse – wie etwa das Bad bei den Richards[15] – werden ausführlich dargestellt, vermögen an seinem Zustand aber dauerhaft nichts zu ändern. Beide Elemente lassen sich auch in anderen Texten von Delany nachweisen und werden hier als private Obsessionen gewertet, die aus Dhalgren allein nicht abzuleiten sind.[16] Kid gibt gleich zu Beginn sein Alter mit »Siebenundzwanzig« (S. 9) an und behauptet, 1948 geboren zu sein, was die Handlung auf 1975 datieren würde, dem Erscheinungsjahr des Buchs. Da er den anderen Figuren jedoch mal älter, mal jünger erscheint und das Geburtsjahr mehrfach in Zweifel gezogen wird,[17] ist die Frage ebenso wenig zu klären wie die nach seinem Aussehen. Einerseits werden seine Hände als »abstoßend« (S. 6) beschrieben, andererseits gilt er durchaus als »schön« (S. 7). Die hier aufscheinende Zerrissenheit ist typisch für Kid, der durchaus eine Figur mit Defiziten ist: Geboren im Staat New York als Kind einer Cherokee-Indianerin und eines weißen Methodisten, hatte er »ganz gute Noten in der High-School, aber nicht überragend« (S. 51); seine Zeit an der Universität war von Alkoholmissbrauch und anderen Problemen überschattet: »Ein paarmal habe ich mich beinahe umgebracht. Ich meine nicht Selbstmord. Einfach so, durch Dummheit.« (S. 51) Das College hat er ohne Abschluss verlassen und eine Zeit lang in der Provinz gearbeitet; er war zudem in Japan, Australien und kommt nun aus Mexiko. Doch Kid befand sich wegen Depressionen zwischenzeitlich auch in einer Heilanstalt, wobei zu seinen Symptomen – »ich konnte mich an bestimmte Dinge nicht erinnern« (S. 50) – eine Gedächtnisstörung und Halluzinationen gehörten. Dieses Krankheitsbild wird später aufgegriffen, wenn Kid bemerkt, dass er Probleme mit der Zeitwahrnehmung hat; auch spielt es im Gespräch mit der Therapeutin eine große Rolle, der er eingesteht: »Ich glaube, ich werde verrückt« (S. 968) und erläutert: »Ich füge schnell Dinge in mein Realitätsmodell hinein. Vielleicht zu schnell. Vielleicht macht mich das verrückt.« (S. 966). Die Therapeutin kommentiert: »Sie sind sehr verstört. Sie sind ansehnlich, intelligent, kräftig, vital, begabt. Aber die Grundstruktur Ihrer Persönlichkeit ist ungefähr so stabil wie eine gesprungene Teetasse.« (S. 973) Dies alles macht Kid sowohl zu einer beschädigten Figur als auch zu einem hochgradig unzuverlässigen Erzähler, dessen kognitive Defizite Dhalgren zumindest teilweise prägen. Zudem wird angeboten, in dem Buch das Resultat einer Geisteserkrankung zu sehen, was letztlich jedoch genauso wenig Ertrag erwirtschaftet wie jede andere ausschließliche Lesart.

Auf den ersten Blick überraschend unkompliziert ist hingegen Kids bisexuelle Neigung, die im Roman kaum problematisiert wird, sondern als selbstverständlich erscheint: Er hat homo- wie heterosexuelle Präferenzen, die in der Dreierbeziehung mit Lanya und dem minderjährigen Denny zusammenfließen. Auf die Frage, ob es ihm etwas ausmachen würde, dass er mit Frauen wie Männern gleichermaßen Verkehr hat, antwortet er: »Als ich fünfzehn oder sechzehn war, war es die Hölle für mich. Ich habe mir, glaube ich, viel Sorgen darüber gemacht. Als ich zwanzig war, habe ich gemerkt, daß ich mich sorgen konnte wie ich wollte, es hatte kaum eine Wirkung darauf, mit wem ich ins Bett ging. Jetzt mache ich mir keine Gedanken mehr darüber. So macht es mehr Spaß.« (S. 391) Die libertäre Haltung, sich im Hinblick auf seine sexuelle Identität nicht festlegen zu müssen, entstammt zwar der Aufbruchsstimmung nach 1968, dürfte jedoch in ihrer demonstrativen Lässigkeit zumindest zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung nicht gänzlich unprovokativ gewesen sein.[18] Bezeichnenderweise gerät Kids Sicherheit gegen Ende des Buchs ins Wanken: »Wenn ich anfange, mir beim Bumsen mit Typen Mädchen vorzustellen, vielleicht bin ich gar nicht so bisexuell, wie ich mir immer erzähle? Ich weiß es: Ich bin insgeheim heterosexuell.« (S. 867) Es gibt noch weitere Risse in der erotischen Utopie, die Dhalgren entwirft; etwa wenn Kid feststellt, »wie einsam« (S. 952) jeder der Skorpione um ihn herum trotz aller sexuellen Freizügigkeiten letztlich wäre. Auch ist nicht jede Figur mit der allgemeinen Freiheit einverstanden: »Gottverdammt, manchmal denke ich, niemand außer mir in der Stadt ist nicht schwul«, bemerkt der farbige und betont viril gezeichnete George Harrison, woraufhin ihn Lanya ironisch fragt: »Ist das die männlich-heterosexuelle Standardphantasie? […] Ich meine, der einzige richtige Mann zu sein in einem Haufen Schwuler?« (S. 271)

Ein anderer Punkt ist Kids Hautfarbe. Auch er wird mit dem Rassismus, der Bellona trotz gegenteiliger Beteuerung der Protagonisten durchzieht, immer wieder konfrontiert.[19] So fragt ihn Joaquim, der die Zeitung verteilt: »[D]u bist nicht farbig, oder? Du bist nämlich ganz schön dunkel, irgendwie ausgeprägt« (S. 95); und die Predigerin Amy Taylor wundert sich: »Als ich Sie neulich sah, dachte ich, Sie wären schwarz. Ich glaube, weil Sie so dunkel sind.« (S. 244)[20] Kids Identität als Indio-Amerikaner bewirkt Irritationen und sorgt für Uneindeutigkeit; einerseits bestätigt sich damit sein Status als Grenzgänger, andererseits läuft er Gefahr, in die rassistisch motivierte Gewalt in Bellona hineingezogen zu werden. Das Attentat vom Dach der Second City Bank, das sowohl vom Zeitpunkt als auch von der Zahl der Opfer her variiert,[21] bei dem aber immer ein Weißer auf Schwarze schießt, wäre ein Beispiel hierfür; ein weiteres ist der »Abend, an dem die Schwarzen revoltierten« (S. 249), auf den ebenfalls fortwährend angespielt wird.

Kids wahrscheinlich markanteste Eigenschaft ist sein Schreiben, das den ganzen Roman durchzieht und dessen Ergebnis Dhalgren möglicherweise zum Teil ist. Zumindest stehen die bereits zitierten Anfangszeilen in jenem zur Hälfte vollgeschriebenen Notizbuch, das Lanya findet, und in dem das Ende des Romans – »die Blitze und die Explosionen« (S. 47) – sowie die Schlusszeilen festgehalten sind.[22] Tatsächlich wird zu Beginn der Handlung die Möglichkeit geäußert, dass Kid zumindest theoretisch »irgendein Typ« sein könnte, den sich »irgendein anderer in seinem verlorengegangenen Notizbuch ausgedacht hat« (S. 10), womit sich der erzählerische Kreis ein weiteres Mal schließt: Die Fiktion (Dhalgren) und die Fiktion innerhalb der Fiktion (das Notizbuch) sind unauflöslich miteinander verzahnt; die Frage, was zuerst da gewesen sein muss, führt ins Leere.

Kid beginnt, das Buch für seine eigenen Texte zu verwenden, wobei er zunächst bescheiden anmerkt: »Ich schreibe einfach so Sachen auf.« (S. 185) Erst anlässlich der Begegnung mit dem Schriftsteller Ernest Newboy bezeichnet er sich als Lyriker, was dieser mit einem Publikationsangebot im Namen von Roger Calkins quittiert. Kurz darauf formuliert Kid sein Ziel: »Ich möchte Dichter sein. Ich möchte ein großer, berühmter, wunderbarer Dichter sein.« (S. 216) Diese Rolle besetzt er rasch, auch wenn er gegenüber Frank – einem weiteren Schriftsteller – zugibt, noch nichts veröffentlicht zu haben und erst kurze Zeit Dichter zu sein; der Zusatz »Seit ich hier bin« (S. 364) verweist auf die spezifische Rolle Bellonas als Katalysator. Kid hat erste Erfolge und träumt von künstlerischem Ruhm, muss jedoch bei einem weiteren Gespräch Newboy gegenüber eingestehen, dass nicht alles im Notizbuch von ihm stammt, was dieser mit »Das ist aber peinlich« (S. 447) kommentiert. Die Frage, was Kid geschrieben hat und was nicht, wird auf der Party diskutiert, die Roger Calkins veranstalten lässt und auf der Frank zunächst die Gedichte als »pompös und überemotional« (S. 791) kritisiert, um dann – »Ich frage mich übrigens, […] ob er sie wirklich selber geschrieben hat« (S. 800) – die Autorschaft anzuzweifeln. Im 7. Kapitel zeigt sich Kid über das Erreichte verunsichert. Einerseits beendet er das Notizbuch, weil es vollgeschrieben ist, andererseits räumt er ein: »Manchmal kann ich nicht sagen, wer was geschrieben hat.« (S. 872) Auch ist die Chronologie der Einträge unklar. Entsprechend häufen sich Selbstzweifel: »Ich bin kein Dichter« (S. 903) und »Ich schreibe nichts« (S. 927) – eine Aussage, die allerdings im Widerspruch zu den neuen Gedichten steht, die am Ende des Romans verbrennen. Der Eindruck, »der Autor habe den Faden verloren« (S. 956), den Kid auf sein Leben bezieht, überträgt sich mehr und mehr auf das Buch, das schließlich in einer Katastrophe endet. Die Stadt wird zerstört, und Kid verlässt Bellona in dem Glauben, keine Dichterpersönlichkeit mehr zu sein. Doch da das Romanende in den Anfang übergeht, wiederholt sich der Zyklus, diesmal womöglich mit einer weiblichen Version von »Kid«, die das vollgeschriebene Notizbuch weiterführt: Es ist ja bereits jetzt in »vier völlig verschiedene[n] Handschriften« (S. 446) gehalten, sodass eine weitere trotz des vollgeschriebenen Zustand denkbar wäre.

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Dies alles spielt sich in Bellona ab, deren Name nicht zufällig auf die römische Kriegsgöttin verweist. Zum einen wirkt die Stadt im Kontrast zu ihrem Umfeld wie ein abgegrenzter mythologischer Bereich, zum anderen erscheint sie tatsächlich als ein gewalttätiger und anarchistischer Ort. Tak Loufer erklärt Kid, in Bellona wäre er »frei«: »Keine Gesetze; keine, die man erfüllt, keine, die man bricht. Kannst tun, was du willst.« Und: »Sehr schnell, überraschend schnell wirst du […] genau zu dem, der du bist.« (S. 29) Doch Bellona ist keine »Hippie-Stadt« (S. 56), sondern hat eine »komplizierte Sozialstruktur« (S. 851), die Aristokraten, Bettler und Vertreter der Bourgeoisie ebenso einschließt wie Bohemiens – wobei die Richards als Vertreter eine kleinbürgerlichen Mittelschicht negativ gezeichnet werden, auch wenn Madame Brown sie als »normale, gesunde Familie« (S. 971) bezeichnet. In diesem Panorama kann man ein Modell für andere Metropolen in den USA sehen; etwa von New York, mit der der Roman immer wieder in Verbindung gebracht worden ist.

Letztlich aber zeigt sich Bellona als ein schwer bestimmbarer Ort, an dem sich Straßen und Orte unentwegt zu verändern scheinen und selbst die Richtung des Sonnenaufgangs Rätsel aufgibt: »Die ganze Stadt bewegt sich, ändert sich, formt sich um. Immerzu. Und formt uns um …« (S. 50) In ihrer Rolle als Katalysator für Selbstfindungsprozesse ist Bellona genau das, was Kid interessiert, zumal sie auch eine zeitliche Entrückung auszeichnet. Die Protagonisten sind sich bewusst, in einer »ewigen« (S. 624) bzw. »zeitlosen« (S. 825/900) Stadt am »Rand von Wahrheit und Lügen« (S. 604) zu leben, die von der Umwelt »vergessen« (S. 84) wurde und in der selbst Naturgesetze nur bedingt Gültigkeit besitzen; Roger Calkins trägt dieser Tatsache Rechnung, indem er die Bellona Times mit willkürlichen Datumsangaben ausstattet, auf die ebenso wenig Verlass ist wie auf manche der abgedruckten Artikel. Damit unterscheidet sich Bellona fundamental von typischen Katastrophenstädten der Science Fiction, die eindeutig gestaltet sind; in ihrer Rolle als kreativer Impulsgeber erinnert sie allenfalls an die Palm Springs nachempfundene Künstlerkolonie Vermilion Sands in dem gleichnamigen Buch von J. G. Ballard (1971; dt. Die tausend Träume von Stellavista).

Doch Bellona ist mit zwei Himmelsbeobachtungen verbunden: Einer sich aufblähenden Riesensonne, die kurz am Himmel zu sehen ist, und der Tatsache, dass der Erdmond hier einen zweiten und erheblich kleineren Begleiter hat, der nur halb ironisch den Vornamen von George Harrison erhält.[23] Kid – »So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen« (S. 556) – versucht, beide Phänomene mit Captain Michael Kamp zu klären, einem Teilnehmer der fünften erfolgreichen Mondlandung,[24] der damit als wahrheitsstiftende Instanz fungiert; hierzu passt, dass Kid gerne selber »zum Mond gehen« (S. 591) möchte, um eine vergleichbare Position einzunehmen. Aber Kamp kann die beiden Objekte nur als Erscheinungen klassifizieren, die außerhalb von Bellona nicht nachweisbar sind, da sie sonst Gegenstand astronomischer Untersuchungen geworden wären: »Doch niemand hat mir davon berichtet.« (S. 578) Beide Phänomene lassen sich zumindest metaphorisch deuten – die kalte und folgenlos dahinglühende Sonne repräsentiert Kids rasch verblassende literarische Ambitionen (bzw. deren Wirkung in der Öffentlichkeit), während die Mondbenennung im Kontext der schwelenden Rassenkonflikte gesehen werden kann – nicht ein (weißer) Mond bestimmt die Szenerie, es müssen derer zwei sein. Dies klingt auch in Amy Taylors Predigt an: »Ihr habt also den Mond gesehen! Ihr habt also den George gesehen – den rechten und linken Hoden Gottes, so schwer am Morgen, daß sie durch die Schleier brachen und nackt über uns baumelten?« (S. 604) Die Darstellung ist – zumal im Rahmen einer Predigt – polemisch, bestätigt den Einheitsgedanken jedoch indirekt.

In Bellona trifft Kid schließlich auf William Dhalgren. Die Figur erscheint zunächst als Name auf einer Liste, die im Notizbuch enthalten ist[25] und verloren geht; schließlich kann sich Kid nur noch an ihn erinnern.[26] Er begegnet Dhalgren bezeichnenderweise auf jenem Fest, bei dem ihm seine Vornamen einfallen; dabei wird deutlich, dass es sich um jenen Bill handelt, der zuvor ein Interview mit ihm gemacht hat.[27] William weigert sich spaßhaft, Kid seinen Nachnamen zu nennen, solange der nicht den seinigen sagt, doch Kid erkennt, wen er vor sich hat: »Aber ich weiß, wie er heißt. Das kann nicht anders sein! Er kann nicht irgend jemand anders sein!« (S. 990) Die Figur ist eng mit Kids Selbstfindungsprozess verknüpft, auch wenn dieser unabgeschlossen bleibt und es letztlich erneut dem Rezipienten überlassen wird, in ihr den »William Dhalgren« der Liste zu identifizieren und sie mit dem Titel des Romans in Verbindung zu bringen. Dass hierbei letzte Gewissheiten verweigert werden, bestätigt erneut Delanys Grundkonzept.

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Dhalgren ist ein Experiment zum Thema Freiheit und der Frage, wie weit Freiheit gehen und wie die dazu passende Gesellschaft aussehen könnte. Freiheit meint hier Unbestimmtheit, nämlich die weitgehende Abwesenheit von Gesetzen, selbst Naturgesetzen, aber auch von Identität. Diesem Ansatz entspricht die äußere Form, die Eindeutigkeiten vermeidet, um der Rezeption Spielräume zu eröffnen und Material zum intellektuellen Jonglieren zur Verfügung zu stellen. Damit ragt Dhalgren konzeptuell, thematisch wie stilistisch deutlich über die Grenzen der Science Fiction hinaus und ist für diese Rolle im Sinne eines emanzipatorischen Akts bewusst entworfen worden. Dies belegen nicht zuletzt die Bücher, die in Dhalgren erwähnt werden: Tak Loufer liest John Keats und Rimbaud, aber ebenso Titel zu den Hell’s Angels, den Thriller Deliverance (1970; verfilmt 1972) von James Dickey und den Sexroman Evil Companions (1968) von Michael Perkins,[28] dessen Einbandmotiv von der Surrealistin Leonor Fini ausdrücklich erwähnt wird. Diese Mischung ist betont unkonventionell und wird in dieser Eigenschaft auch ausgestellt. Und: »Es gab noch reichlich Science Fiction von Russ (etwas, das sich The Female Man nannte), Zelazny und Disch.« (S. 58) Tatsächlich ist Dhalgren unter anderem Thomas M. Disch, Judith Merril und Joanna Russ gewidmet; mit Disch, dessen Roman 334 (1972; dt. Angoulême) im Hinblick auf übereinstimmende Motive noch zu prüfen wäre, verband ihn damals eine intensive Freundschaft.[29] Das literarische Panorama, das hier aufscheint, ist so heterogen und egalitär wie Dhalgren selbst und macht zugleich deutlich, wie sich Delany die ideale Rezeption des Buchs vorstellt: Nämlich als unvoreingenommene Lektüre, die sich aus dem Bereich der Science Fiction ebenso speist wie aus dem der Nicht-Science-Fiction. Eine solche Ausrichtung wirkt unterdessen vertrauter, als dies 1975 der Fall gewesen sein mag; eine Herausforderung für das deutschsprachige Publikum bleibt sie weiterhin. Umso mehr wäre es an der Zeit, Dhalgren eine zweite Chance zu geben.

Der Verfasser bedankt sich bei

Annette Charpentier, Christopher Ecker

und Guido Sprenger für wertvolle Hinweise

und hilfreiche Kommentare.

[1] Alle Seitenangaben aus: Samuel R. Delany, Dhalgren, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1980.

[2] Jürgen Joachimsthaler: »Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Samuel R. Delanys Intervention ins Reich der Imagination(en)«. In: Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität, hg. v. Sandra Kersten & Manfred Frank Schenke, Frank & Timme, Berlin 2005, S. 71–120, hier: S. 91.

[3] Kevin J. Ring: Corrections for the Vintage Books Edition of »Dhalgren«, 3rd, 4th, and 5th printings. http://www.oneringcircus.com/dh_errata.html.

[4] Annette Charpentier ist seit 1979 Übersetzerin und hat u. a. Bücher von Piers Anthony, Brian W. Aldiss, Marion Zimmer Bradley, Samuel R. Delany, William Morris und Mervyn Peake (Gormenghast, 1946–1959) übertragen. In ihrer Eigenschaft als Gesprächstherapeutin und Familienmediatorin wurden mehrere Ratgeber von ihr veröffentlicht.

[5] E-Mail an den Verfasser vom 12. Mai 2020.

[6] E-Mail an den Verfasser vom 13. Mai 2020.

[7] Reclams Science Fiction Führer, hg. v. Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs & Ronald M. Hahn, Reclam, Stuttgart 1982, S. 121.

[8] E-Mail an den Verfasser vom 13. Mai 2020.

[9] Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 74.

[10] Kenneth R. James, Introduction. In: Samuel R. Delany, 1984. Selected Letters, Voyant Publishers, Rutherford 2000, S. IX. Hier zit. n. Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 74.

[11] Florian F. Marzin: Mythologie und Sprache. Die Beziehung von Sprache und Mythologie in den Romanen Samuel R. Delanys. In: Das Science Fiction Jahr #7, Ausgabe 1992, hg. v. Wolfgang Jeschke, Heyne, München 1992, S. 526–558, hier: S. 548.

[12] Ebd., S. 557.

[13] William Gibson: The Recombinant City. A Foreword. In: Samuel R. Delany, Dhalgren, Vintage Books, New York, USA 2001, S. XI–XIII hier: S. XI. Das Vorwort erschien zuerst 1996 in der Dhalgren-Ausgabe der Wesleyan University Press.

[14] Beide Texte wurden mehrfach ins Deutsche übertragen und erschienen übersetzt von Waltraud Götting in: Samuel R. Delany, Treibglas. Erzählungen vom Rand der Wirklichkeit, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1982.

[15] »Er hatte gewußt, daß er schmutzig war, doch dieser ungeheure Dreck hier im Wasser war schon erstaunlich«, S. 177.

[16] Vgl. hierzu etwa: »Maus schlenderte neben Hölle³ dahin, und sein Stiefelabsatz klapperte und sein nackter Fuß klatschte«. Samuel R. Delany, Nova, Bastei Lübbe, München 1981, S. 16. Schmutz findet sich als (marginales) Element auch in den beiden weiter oben genannten Erzählungen.

[17] Vgl. S. 10 und S. 391f.

[18] Delany hat diesen Gedanken in Triton beträchtlich weiterentwickelt: »Das Buch schildert eine Gesellschaft, in der jeder über sein Geschlecht, seine sexuelle Orientierung und über die Gesetze, denen er unterliegt, selbst entscheiden kann.« Guido Sprenger, E-Mail an den Verfasser vom 22. Mai 2020.

[19] Die Verwendung des Begriffs »Nigger« wird unterdessen speziell in der US-amerikanischen Öffentlichkeit kritisch bewertet. Annette Charpentier: »Nicht, dass es damals kein Problem war, aber die Rezeption war nicht so ›woke‹ wie heute, vierzig Jahre später.« Entsprechend wäre die Verwendung der Vokabel nur noch mit Erklärung denkbar: »Das würde auch für eine bearbeitete Neuausgabe von Dhalgren gelten.« E-Mail an den Verfasser vom 21. Mai 2020.

[20] Eine biographische Anspielung: »Samuel R. Delany muss aufgrund seiner (relativ) hellen Hautfarbe immer wieder betonen, dass er Schwarzer ist.« Jürgen Joachimsthaler: Dynamisierung der Bilder, Zeichen und Imagines. Wie Anm. 2, S. 77.

[21] Vgl. S. 94, S. 601, S. 877.

[22] Vgl. hierzu S. 333 und S. 1011. Die kursive Passage (»Der Himmel ist gestreift …«) entspricht im Original exakt der Formulierung am Romanende. Vgl. Samuel R. Delany, Dhalgren, Vintage Books, New York 2001, S. 261 und S. 801.

[23] Das Motiv des zweiten Erdmonds findet sich auch in: Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994.

[24] In der Realität wäre dies Apollo XVI (1972).

[25] Vgl. S. 83, S. 679, S. 682 und S. 745. Vgl. zudem »Grendal, Grendal, Grendal …« auf S. 863 bzw. »Grendalgrendalgrendalgrendalgrendalgren …« und die nachfolgende Erklärung auf S. 865.

[26] Vgl. S. 981.

[27] Vgl. S. 813–818.

[28] Die Ausgaben 1992 und 2012 enthalten ein Vorwort von Delany.

[29] Vgl. hierzu: Samuel R. Delany, The American Shore. Meditations on a Tale of Science Fiction by Thomas M. Disch – »Angoulême«, Dragon Press, Elisabethtown 1978; Neuausgabe Wesleyan University Press, Middletown 2014. Die Studie beschäftigt sich mit der zuerst in New Worlds Quarterly 1 (1971) abgedruckten Kurzgeschichte Angoulême, die das 5. Kapitel des Romans 334 bildet.

Das Science Fiction Jahr 2020

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