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ОглавлениеJasper Nicolaisen
In den Verliesen der Skienze Fickizion
Science Fiction und queere Räume
Meine erste Begegnung mit der Science Fiction fand im Arbeitszimmer meines Vaters statt. Hier gab es ohnehin die seltsamsten Dinge: einen Pfeifenhalter (obwohl mein Vater nicht rauchte), halb leere Zigarettenpackungen (obwohl mein Vater angeblich nicht rauchte), einen Degen und eine READER‘S DIGEST-Buchreihe über die Geschichte des Wilden Westens mit grausamen, blutigen Bildern, die ich mir gerne schaudernd betrachtete.
Unter den zahlreichen Taschenbüchern war auch ein gelb-schwarzes – heute würde ich sagen, eine Diogenes-Kurzgeschichtensammlung –, auf deren Cover ein Mensch neben einem Wesen abgebildet war, das Insektenaugen und -fühler auf einem Menschenkopf spazieren trug. Beide Figuren waren schwarz-weiß, für meine damaligen Begriffe – ich war gerade zur Schule gekommen – also alt. Dennoch ging es, wie mein Vater mir erklärte, in den Geschichten um die Zukunft.
»Kannst du lesen, was da steht?«, fragte er.
Natürlich konnte ich, ich war eins dieser früh bebrillten Kinder, die schon lesen können, bevor sie in die Schule kommen. Unter anderem hatte ich, ebenfalls im Arbeitszimmer meines Vaters, auf der Schreibmaschine eine Zeitung auf schönem grünen Papier verfasst, freilich in einer Sprache, die nur ich verstand, aber das war völlig egal. Die Idee, etwas anzufassen, was andere aufmerksam lasen, war viel wichtiger als der Inhalt. Der Wunsch, mit anderen in Kontakt zu sein, die mir ähnlich waren, also die Ideen in meinem Kopf teilten, war die Triebfeder dieser Veröffentlichung in Kleinstauflage, die zunächst nur meinen Vater erreichte.
»Skienze-fickizion« las ich also auf dem Taschenbuch mit den alten Bildern aus der Zukunft, und das heiße, so mein Vater »Wissenschaftsausdenkerei«. Mir gefiel das auf Anhieb. Dass man sich Wissenschaften und ihre Erkenntnisse einfach ausdenken konnte, das war ja noch viel besser, als Zeitungen in ausgedachten Sprachen zu schreiben. Ich verspürte ein Gefühl grenzenloser Verheißung. Es gab Leute, die sich von ausgedachten Wissenschaften erzählten und damit in Büchern landeten, ganz in der Nähe meiner Zeitung, die nichts mitteilen wollte als: Sprich mit mir, ich suche dich.
Das galt zunächst meinem Vater, der offensichtlich Geheimnisse hatte – ein rauchender Degenkämpfer! – und irgendeinen Teil seiner Existenz außerhalb der Familie führte, wie auch ich bereits spürte, dass meine überbordende Phantasie, mein Mitteilungsdrang und das noch nicht zu benennende Gefühl, dass ich nicht glauben wollte, dass die alltägliche Welt die einzig mögliche oder gar richtige für mich war, mich unweigerlich verquer machen würden.
Im Laufe der Jahre dehnte ich dieses Werben auf andere Bewohner*innen abseitiger Räume aus, zu denen ich dringend gehören wollte. Zunächst war es die Stadtbibliothek in unserer Nachbarschaft, wo ich nicht nur stapelweise Comics und die gesamten Klassiker der SF und Fantasy vorfand – ich war inzwischen zehn oder elf –, sondern im Lichthof, unter dessen selten gestutztem Grün die Statue eines schlafenden Kindes in der Obhut eines wachsamen Hirschen von einer Künstlerin stand, für die es sicher der größte Auftrag ihres Lebens gewesen war, die Bibliothekarinnen, die mir die glücklichsten Menschen auf der Welt zu sein schienen. Sie waren tagein, tagaus von Büchern umgeben und bedienten die glänzenden fotografischen Maschinen, die die Lochstreifen in den Laschen hinten in den Buchdeckeln dokumentierten, sodass ich gemahnt werden konnte, wenn ich das dort vermerkte Datum überschritt (ich wurde oft gemahnt). Es kam mir keineswegs merkwürdig vor, dass ich, der Junge, wie sie sein wollte. Ihre Blusen und Perlenketten kamen mir wie die einzig passende Uniform für den Dienst in einer Flotte von Perry Rhodans, Yoko Tsunus und Zyklotropen vor.
Noch ein paar Jahre später steckte ich meine Nase über den Tresen der Buchhandlung »Fantasia«, wo eine studentische Klientel Rollenspiele und Comics diskutierte, und ich mein Taschengeld in Le Guin, Douglas Adams und sogar den Neuromancer investierte, der mich völlig flashte, wohingegen ich von John Brunners Schafe blicken auf kaum etwas verstand, Hyperion und Dune mit dem Gefühl, etwas Unerhörtes und vage Verbotenes serviert zu bekommen, verschlang. Beinahe noch wichtiger als die Texte aber waren für mich die Kund*innen, die rauchend herumstanden, Kaffee in sich hineingossen und tratschten: Unter anderem lernte ich aus der Tirade einer krassen Punkerin schon damals, dass Dune »protofaschistischer Müll« sei, eine Einschätzung, die ich seitdem in meinem Herzen bewege. Ganz offen standen im »Fantasia« auch Cover herum, die in Valejo-Manier barbusige, sich irgendwie zu wohlig rekelnde Angekettete zeigten, penoid geäderte Drachen und knapp behoste Barbaren – eine passende Kulisse für die heranrauschenden Hormone, die den bebrillten Zeitungsschreiber hier mit seiner »Skienze Fickizion« nachhaltig verwirren sollten. Die ersten Ralf Königs meines Lebens gab es hier auch; niemand hatte etwas dagegen, dass ich sie stundenlang durchblätterte.
Sehr viel später sollte ich all diese außerschulischen Bildungserfahrungen zur Hilfe nehmen, um Samuel Delany zu übersetzen, der unter Rückgriff auf Foucault so beredt von »Heterotopien« spricht. Anders als Delany ließ ich mir weder interessiert etwas vom Hausmeister voronanieren, noch verbrachte ich Jahre in Sexkinos, vielleicht auch nur, weil ich durch die Bücherei und das »Fantasia« eine gewisse Gemütlichkeit meiner queeren Räume gewöhnt war. Das Gemeinte aber erkannte ich sofort in Delanys »Heterotopien« wieder. Orte, an denen unterschiedlichste Menschen zusammenkommen, die in ihrem Anderssein Gemeinsamkeiten entdecken und sich selbst (soziale und topografische) Räume schaffen, an denen dieses gemeinsame Andere erforscht und kultiviert werden kann. Das sexuelle Anderssein überschneidet sich dabei ausdrücklich mit anderen Dimensionen von Kultur, Geselligkeit und Freizeit. Science Fiction stellt Inhalte bereit, die queere Menschen als Chiffren und Bilder dienen können, um etwas in den Griff zu kriegen, was in der Alltagssprache kaum zu formulieren ist, ausgedachte Wissenschaften und News in unverständlichen Sprachen, deren Mitteilungswert gerade darin besteht, dass da jemand in Eigensprache spricht und andere Eigensprachler*innen sucht.
Mindestens ebenso wichtig waren und sind für mich die konkreten Räume, in denen diese Bilder- und Begriffssammlungen beheimatet waren. Orte, an die ich gehen konnte, und Menschen treffen –wenigstens schüchtern beobachten konnte –, die diese Baukästen des Imaginären pflegten, gebrauchten und sich aus dem Vorrat, den sie bereitstellen, eine Form bastelten. Räume, die nicht von dieser Welt und doch in ihr zu finden waren, Nischen, Brachen, Besetztes, Vorübergehendes, in dem Spuren zurückgeblieben waren, Pfeifenhalter, Statuen, penoide Drachen.
Wenn Queerness mehr ist als schwul, lesbisch, nichtbinär, weniger ein Zustand, als vielmehr eine Bewegung des Unherschweifens, Flanierens und Durchstreifens, dann habe ich in diesen Räumen die ersten Schritte gemacht, hin zu anderen, die keine Sprache vorfinden, sondern sich eine ureigene erfinden müssen, als deren solitäre Träger*innen sie dennoch Teil einer Gemeinschaft anderer Fremdsprachler*innen sein möchten. An den Rändern unserer kleinen Stadt gab es diese Räume, die innen größer waren als von außen. Danke, Bücherei, danke »Fantasia«, danke Skienze Fickizion!