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ОглавлениеChristian Hoffmann
Die Entführten oder: Was ist Afrofuturismus?
Spätestens seit der deutschen Veröffentlichung mehrerer Werke der US-amerikanischen Autorin mit nigerianischen Wurzeln Nnedi Okorafor, die seit 2016 bei Cross Cult erschienen sind, ist der Begriff Afrofuturismus auch bei uns einem größeren Publikum bekannt geworden. Die Kunst und Literatur afrikanischstämmiger Menschen scheint nicht nur dazu geeignet zu sein, gewohnte westliche Erzähl- und andere Ausdrucksweisen zu hinterfragen und zu ergänzen, sondern übt aufgrund eigenständiger ästhetischer Elemente und einem speziellen historischen und politischen Hintergrund einige Faszination aus. Nicht nur im Bereich der Genres SF und Fantasy, also einer speziellen und damit begrenzten Szene, geriet das Thema Afrofuturismus in den Fokus des Interesses, sondern erstaunlicherweise auch bei einem »allgemeinen« Publikum, das ansonsten nur wenige Berührungspunkte mit den genannten Genres hat. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung »Afro-Tech, and the Future of Re-Invention«, die vom 21. Oktober bis zum 22. April 2017 im Rahmen des Festivals »Afro Tech« in Dortmund vom Hartware Medienkunstverein ausgerichtet wurde und auf großen Zuspruch sowohl vonseiten des Publikums als auch der Medien stieß. Dieses Interesse rührt nicht allein von einer zunehmenden Offenheit gegenüber nicht-westlichen Kulturen her, sondern liegt möglicherweise an einem ganz speziellen Faktor, den der ghanaisch-britische Künstler John Akomfrah in seinem Video The Last Angel of History im Rahmen dieses Festivals beleuchtete. Akomfrah stellt in diesem Video die These auf, dass verschiedene Künstler*innen des Afrofuturismus die bekannten »weißen« Erzählungen über die Zukunft in eine »schwarze« Sichtweise auf Vergangenheit und Gegenwart umzudeuten versuchen. Obwohl damit sicher schon ein wichtiges Merkmal des Afrofuturismus veranschaulicht wird – nämlich die oft metaphorische und verfremdete Perspektive schwarzer Menschen, die durchaus subversiv gängige Erklärungsmuster infrage stellt – ist es zunächst sinnvoll, den Ausdruck Afrofuturismus als solchen etwas näher zu beleuchten.
Um die Bedeutung eines Begriffes richtig erfassen zu können, mag es hilfreich sein, seine einzelnen Komponenten genauer zu betrachten. Im Falle des »Afrofuturismus«, der vom englischen »Afrofuturism« abgeleitet wurde, stößt man dabei jedoch schnell auf Grenzen, obwohl beide Wortteile zunächst relativ klar zu sein scheinen.
»Afro« ist nichts anderes als eine Vorsilbe, die »afrikanisch« bedeutet, was allerdings die Frage aufwirft, was tatsächlich damit gemeint ist. In ästhetischen und künstlerischen Zusammenhängen bezieht sich »Afro« meist auf Einflüsse und Merkmale der Kulturen aus den Gebieten südlich der Sahara, wobei beispielsweise das Erbe der südafrikanischen Afrikaaner oder Buren, also der Nachfahren europäischer Kolonisten, meist ausgeklammert wird.
Im Falle von »Futurismus« ist die eigentliche Wortbedeutung ebenfalls nicht so ganz klar. Ursprünglich bezeichnete »Futurismus« in Bezug auf Kunst und Kultur eine kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstandene italienische avantgardistische Bewegung, die den Anspruch erhob, eine neue, in die Zukunft gerichtete Kultur zu erschaffen. Zum anderen wird »futuristisch« landläufig natürlich als etwas angesehen, was mit zukunftsorientierter Technologie und daraus resultierender Ästhetik assoziiert werden kann.
Was Afrofuturismus also tatsächlich bedeutet, kann zwar eingegrenzt, aber rein auf Begriffsebene nicht hundertprozentig definiert werden – was schließlich in der Literatur auf viele Genrebezeichnungen, wie auch die Science Fiction, zutrifft. Dies führt zu allerlei Diskussionen und unterschiedlichen Definitionsversuchen unter Autor*innen, Künstler*innen, interessierten Laien und Akademiker*innen – und das ist auch gut so, denn dadurch wird dem aufstrebenden Genre Afrofuturismus – falls man von einem Genre sprechen will – noch zusätzlich Leben eingehaucht!
1994 führte der Kulturkritiker Mark Dery in seinem Essay »Black to the Future« den Begriff ein. Dery untersuchte in dieser Arbeit die Rolle afroamerikanischer Autoren und Autorinnen wie Samuel R. Delany und Octavia Butler innerhalb der SF und stellte gleichzeitig die Frage, warum Afroamerikaner*innen in diesem Genre sowohl als Akteur*innen als auch Leser*innen unterrepräsentiert waren (und es bis heute geblieben sind). Besonders interessant kann hier Derys Statement gelten, dass gerade diese Gruppe für einige Themen der SF in besonderem Maße empfänglich sein müsste, da sie bzw. ihre Vorfahren ja tatsächlich Opfer einer Entführung durch Aliens seien, man denke nur an die Begegnung afrikanischer Menschen mit Europäern und europäischstämmigen Amerikanern, die an einen Science-Fiction-Albtraum erinnert: Vertreter einer technologisch weiter entwickelten Kultur, die offenbar hauptsächlich wirtschaftlich orientiert ist, entführen in großem Stil Millionen nahezu zur Wehrlosigkeit verdammter Menschen, degradieren sie zu bloßen Arbeitskräften, denen alles Menschliche abgesprochen wird, und berauben sie systematisch ihrer Identität.
Ich spreche natürlich von der Jahrhunderte langen allzu realen Versklavung afrikanischer Menschen und von der Ausgrenzung und der Diskriminierung, denen sie bzw. ihre Nachfahren auch heute noch ausgesetzt sind.
Obwohl Afrofuturismus mittlerweile ein globales Phänomen geworden ist, kann man seine Wurzeln und Anfänge in den USA verorten. Dies hat mit der Geschichte des Landes und seiner afroamerikanischen Bevölkerungsanteile zu tun. Schon in der Ära vor dem Bürgerkrieg gab es Äußerungen afrikanischer Kunst und Kultur, die mehr oder weniger unterdrückt, manchmal geduldet und teilweise auch (beispielsweise von den Abolitionisten) gefördert wurden. So veröffentlichte der Autor, Soldat und Arzt Martin Robinson Delany (1812–1885), der als »free person of color« geboren wurde, mit Blake, or the Huts of America zwischen 1859 und 1862 einen utopischen Roman in Fortsetzungen über einen weltweiten Sklavenaufstand, der wohl als erster phantastischer Prosatext eines Afroamerikaners angesehen werden kann. Delany war freilich nicht der erste afroamerikanische Autor, der sich mit der Frage nach Alternativen für die Sklaven und die »free persons of color« befasste. So schrieb der (ebenfalls »frei geborene«) Abolitionist David Walker (1785–1830) bereits 1829 ein Pamphlet mit dem Titel Appeal to the Colored Citizens of the World, in dem er sich direkt an die versklavten Menschen besonders im Süden der USA wandte und die Abschaffung der Sklaverei forderte. Dieses Pamphlet fand große Verbreitung und führte zu einiger Beunruhigung unter der weißen Bevölkerung. Nicht ohne Grund setzten Plantagenbesitzer ein Kopfgeld von 3000 Dollar für die Ermordung Walkers aus. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 änderte sich die Situation für die Schwarzen[1] bekanntermaßen nicht schlagartig von Grund auf, jedoch gab es zumindest teilweise verstärkt das, was man heute Subkultur oder künstlerischen Underground nennen würde. Immerhin fanden aber auch schon damals einige Afroamerikaner*innen gebührende Aufmerksamkeit in manchen weißen künstlerischen und wissenschaftlichen Kreisen, wie etwa der Historiker, Ökonom, Soziologe und spätere Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois (1868–1963), der auch einige phantastische Geschichten und SF-Storys verfasste.
Martin Robinson Delany und sein Roman in Fortsetzungen (Quelle: Wikipedia)
Nach dem ersten Weltkrieg entstand mit der Harlem-Renaissance eine Bewegung afroamerikanischer Maler*innen, Musiker*innen und Schriftsteller*innen, die aus der massenhaften Abwanderung von Schwarzen aus dem Süden vor allem nach New York resultierte. Die Bürgerrechtsbewegungen, die zur Zeit des Vietnamkrieges besonderen Zulauf erhielten, ebenso wie der zunehmende Widerstand gegen die Rassendiskriminierung förderten die Etablierung eines neuen, emanzipierten »schwarzen« Bewusstseins. Als ein herausragender Vorläufer des Afrofuturismus kann der Lehrer und Autor Henry Dumas (1934–1968) gelten, dessen Werke zum größten Teil postum veröffentlicht wurden. Dumas, der neben einem Roman zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten schrieb, wurde nach seinem Tod (er wurde von einem weißen Polizisten ermordet) zu einer Schlüsselfigur des Black Arts Movements. Viele seiner Geschichten – allen voran vielleicht »Ark of Bones« (postume Erstveröffentlichung 1970) – behandeln auf stilistisch eigenwillige und thematisch phantastisch gefärbte Weise die Traumata der afroamerikanischen Historie. Ein anderer Autor, der außerhalb des SF-Genres tätig war, jedoch häufig zu den bedeutenden Vorläufern des Afrofurismus gezählt wird, war Ralph Ellison, dem neben James Baldwin und Toni Morrison wohl wichtigsten afroamerikanischen Schriftsteller. Dass Ellison von vielen Afrofuturisten als großer Einfluss wahrgenommen wird, liegt an seinem komplexen, mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman Invisible Man (dt. Der unsichtbare Mann) aus dem Jahr 1952, in dem er die »weiße amerikanische« Sichtweise auf Afroamerikaner*innen aufzeigt. Wie der Romantitel schon deutlich macht, besteht diese Sichtweise aus Ignoranz bis hin zur Entmenschlichung – schwarzen Menschen wird in gewisser Weise die Rolle minderwertiger Aliens auferlegt.
In der moderneren SF zählen vor allem Samuel R. Delany und Octavia E. Butler zu den wichtigen Stimmen des Afrofuturismus, die beide auch schon vor der Etablierung des Begriffs Werke geschrieben haben, die diesem Genre zugeordnet werde können. Delany, der in seinen Romanen und Erzählungen immer wieder auf durchaus ungewöhnliche Art und Weise mit Motiven der SF und Fantasy experimentierte, verfasste mit dem Essay »Racism and Science Fiction«[2] einen zentralen Text des Afrofuturismus. Ob man ihn allerdings tatsächlich als »echten« Afrofuturisten bezeichnen kann, erscheint mir fraglich, bietet sein Werk doch eine viel zu große thematische Vielfalt, als dass man ihn auf eine künstlerische Richtung festlegen sollte.
Mit ihrer Xenogenesis-Trilogie, die erstmalig zwischen 1987 und 1989 erschien, lieferte Octavia E. Butler ein Werk ab, dessen Ausgangssituation man getrost als thematische Blaupause des Afrofuturismus bezeichnen könnte: Nach dem Atomkrieg werden die wenigen überlebenden Menschen von den außerirdischen Oankali, die sich selbst als Genhändler bezeichnen, gerettet und zuerst für eine Neubesiedlung der Erde, später des Sonnensystems vorbereitet. Dazu bedarf es jedoch der Bereitschaft, sich von der gewohnten hierarchischen und aggressiven Denkweise zu verabschieden und gleichzeitig fulminante biologische Veränderungen zuzulassen. Damit thematisiert Butler die furchteinflößende Begegnung mit Fremden, die zunächst undurchschaubare und damit bedrohliche Ziele verfolgen. Allerdings konterkariert sie die historischen Fakten unserer Realität, indem sie die Oankali als tatsächlich ethisch höher stehend als die Menschen schildert und sie eben nicht als Gewaltherrscher auftreten lässt. Wichtige andere Themen, die in den drei Romanen und auch in anderen Werken des Afrofuturismus auftauchen, sind Selbstbestimmung, Rassismus, Geschlechterrollen, Manipulation und natürlich immer wieder die Auseinandersetzung mit einer technologisch höher entwickelten fremden Macht. Damit behandelt Butler das Thema »Entführung« in Dawn (dt. Dämmerung), Adulthood Rites (dt. Rituale) und Imago (dt. Imago) auf eine äußerst facettenreiche und intelligente Weise. In ihrem wohl bekanntesten Werk Kindred (dt. Vom gleichen Blut, bzw. Kindred – Verbunden) von 1979 lässt sie eine junge schwarze Frau aus der Gegenwart mittels Zeitreise in das Amerika vor dem Bürgerkrieg zurück reisen. Butler nimmt sich in Kindred auf hautnahe und erschreckende Weise eines Motivs an, das sich auch im heutigen Afrofuturismus immer wieder zeigt, nämlich der Konfrontation mit der grausamen Realität der Sklaverei.
Thematisch verwandt mit Kindred ist der bereits 1972 erschienene Roman Captain Blackman von John A. Williams, in dem ein schwarzer GI, der im Vietnamkrieg verwundet wird, ebenfalls verschiedenen Zeitsprüngen ausgesetzt ist. Captain Blackman wird in verschiedene Kriege versetzt, in denen schwarze Soldaten mehr oder weniger freiwillig für die Ideale der Vereinigten Staaten ihren Kopf hinhalten mussten.
Wichtige moderne Vertreter des Afrofuturismus sind Nisi Shawl (vor allem mit dem Alternativweltroman Everfair), Nalo Hopkinson, Tade Thompson, Deji Bryce Olukotun, Dilman Dila, Minister Faust, Helen Oyeyemi, Colson Whitehead und Nnedi Okorafor. Nicht alle der genannten Autoren sind übrigens US-Amerikaner, was nichts anderes bedeutet, als dass Afrofuturismus längst zu einer globalen Bewegung geworden ist. Ebenfalls interessant dürfte die Tatsache sein, dass nicht alle der genannten Autoren sich selbst als Afrofuturisten sehen dürften. So verfasste etwa Colson Whitehead mit The Underground Railroad (2016, dt. Underground Railroad) einen Roman, der sich auf phantastisch verfremdende Weise mit der Rettung und der Flucht schwarzer Sklaven und Sklavinnen in der Zeit vor dem Bürgerkrieg auseinandersetzt, was sicher als wichtiges Thema des Afrofuturismus bezeichnet werden kann. Doch als Mainstream-Autor, der sehr unterschiedliche Texte produziert, werden seine Romane selten diesem Genre zugordnet. Ohnehin sollte man sicherlich eine zu enge Genreeinordnung mit Vorsicht genießen.
Wie dem auch sei – auch einige Anthologien versammeln Erzählungen von ausschließlich afrikanischstämmigen Autoren, die zumindest zu einem großen Teil thematisch als Afrofuturismus gelten können. Herausragend sind hierbei Dark Matters (Hrsg. Sheree R. Thomas), Mothership (Hrsg. Bill Campbell und Edward Austin Hall), New Suns (Hrsg. Nisi Shawl) sowie die Ausgabe 42/1-2 der Zeitschrift Obsidian, die sich mit »Speculating Futures: Black Imagination & the Arts« beschäftigt.
Sehr gute Einblicke in die Geschichte und viele andere Aspekte des Afrofuturismus bieten die Sachbücher Afrofuturism von Ytasha L. Womack, Afrofuturism 2.0, herausgegeben von Reynaldo Anderson und Charles E. Jones und Afrofuturism Rising von Isiah Lavernder III. Mit der faszinierenden Geschichte schwarzen Nationalismus, schwarzer und afrikanischer Utopien und des Afrofuturismus befasst sich Black Utopia von Alex Zamalin.
Dass Afrofuturismus kein rein literarisches Phänomen darstellt, zeigen die Werke zahlreicher Musiker*innen, deren wohl frühester und bekanntester Vertreter der Jazz-/Funk-/Experimentalmusiker Sun Ra (vermutlich 1914–1993) sein dürfte. Sun Ra, der sich selbst als Vertreter einer Alienspezies inszenierte, vermengte in seiner Musik, die er mit dem ständig wechselnden bzw. sich erweiternden Ensembles seines Arkestras erschuf, afrikanische (oft ägyptische) Ästhetik und Mystik, Sozialkritik, schrägen Humor und SF-Themen. In dem bizarren Film Space is the Place von John Coney aus dem Jahr 1974 stellt Sun Ra sich und seine Welt auf ungewöhnliche und sicherlich gewöhnungsbedürftige Art dar.
Andere Musiker*innen, die als Vorläufer*innen oder »echte« Vertreter*innen des Afrofuturismus gelten können, sind Parliament/Funkadelic, Jonzun Crew, Deltron 3030, George Clinton, Grace Jones, Poly Styrene sowie – vielleicht mit Einschränkungen – Rihanna, Missy Elliot und sogar Michael Jackson mit seinem »Moonwalk«. Und dass Jimi Hendrix ein großer SF-Fan war, kann man anhand vieler entsprechender Songtexte nachvollziehen. Die wohl wichtigste und bekannteste heutige Vertreterin des musikalischen Afrofuturismus ist mit Sicherheit Janelle Monáe, die auf ihren Alben Metropolis, The ArchAndroid, The Electric Lady und Dirty Computer immer wieder Themen der SF behandelt. Dabei beschäftigt sich Monáe auf verfremdende Weise besonders mit ihrer eigenen Rolle als schwarze, queere Frau in einer von weißen Männern dominierten Welt. Vor allem in einigen ihrer Videos verwendet sie afrikanische und afroamerikanische Symbolik und stellt sie inhumaner moderner Technik und der von Kapitalismus beherrschten, westlich geprägten Gesellschaft gegenüber.
Ähnliche Ansätze liefern Filme wie John Sayles’ »ernste« Komödie The Brother from Another Planet (dt. Der Typ vom anderen Stern) von 1984, in der ein stummer Schwarzer, der in Wirklichkeit Angehöriger einer Alienspezies ist, in Harlem landet und sich in unserer Welt durchschlagen muss. Ebenfalls bemerkenswert und weitaus düsterer ist Get Out (dt. Get Out) von Jordan Peele aus dem Jahr 2017. Hier gerät ein Schwarzer an eine scheinbar aufgeklärte, tatsächlich jedoch zutiefst rassistische weiße Gesellschaft, die ihn im wahrsten Sinne des Wortes seiner Identität berauben will.
In der bildenden Kunst werden manchmal die Werke von Jean-Michel Basquiat (1960–1988) – der vielleicht erste schwarze Künstler, der in der weiß dominierten Kunstwelt den Durchbruch schaffte – als frühe Beispiele für Afrofuturismus angesehen. Dies mag daran liegen, dass er in seinen Bildern teilweise afrikanische Volkskunst mit den verschiedensten Techniken und Themen der modernen Welt verband. Wie so oft sollte man aber vorsichtig damit sein, Künstler für bestimmte Bewegungen zu vereinnahmen. Im Falle von Basquiat bedeutet aufgrund seiner immensen Vielseitigkeit und der nicht minder großen Vielfalt seiner Werke eine derartige Vereinnahmung eine große Versuchung. Andere heutige bildende Künstler, die oft in die Nähe des Afrofuturismus gerückt werden, sind beispielsweise der Graffitikünstler und Rapper Rammellzee, der Fotograf Renée Cox und die experimentierfreudige Wangechi Mutu, die mit Rauminstallationen und Collagen bekannt wurde.
Manchmal werden Werke afrikanischer Autoren und Künstler, die zur SF oder auch zur Phantastik gezählt werden können, automatisch dem Afrofuturismus zugeschlagen. Dies ist in manchen Fällen sicher nicht falsch, jedoch sollte man bedenken, dass afrikanische Literaturen und Kunstformen eigenständige Traditionen haben und die Lebenswirklichkeiten ihrer Vertreter*innen nicht mit denen von Menschen mit afrikanischem Hintergrund gleichzusetzen sind, die ihren Lebensmittelpunkt in westlich geprägten Ländern haben. Dennoch konzentrieren sich viele Afrikaner*innen, die auf dem Kontinent oder in der Diaspora leben, auf zumindest dem Afrofuturismus »verwandte« Themen, wurden und werden sie doch mit ähnlichen historischen und gegenwärtigen Problemen wie Afroamerikaner*innen konfrontiert. Dazu zählen etwa versteckter und offener Rassismus, die Folgen der Kolonialherrschaft durch die Europäer sowie moderne Formen der Abhängigkeit durch nichtafrikanische Mächte, aber auch das afrikanische kulturelle Erbe und alternative Zukunftsmodelle.
Im Grunde erscheint es mir nicht allzu wichtig, den Begriff »Afrofuturismus« aufs Genaueste auszuloten und zu ergründen. Obwohl sicherlich einige »typische« Motive und Stilmittel zu finden sind, die seine eigenständige Ästhetik und seine thematische Brisanz ausmachen, handelt es sich um ein kulturelles und gesellschaftspolitisches Phänomen, das sich einer allzu strikten Einordnung oder gar einer genauen Definition entzieht. Das soll allerdings nicht heißen, dass Diskussionen und wissenschaftliche Arbeiten zu dem Thema zu nichts führen – gerade sie sind wichtig, um die historisch gewachsenen gesellschaftlichen und politischen Hintergründe sowie die künstlerischen Ausformungen des Afrofuturismus besser verstehen zu können.
Abgesehen davon lohnt sich natürlich gerade für an SF und Phantastik interessierte Menschen die Beschäftigung mit den Werken des Afrofuturismus, bieten sie doch sehr oft ungewohnte und bereichernde Sichtweisen auf unsere Welt.
[1] Ich benutze diesen oft als problematisch empfundenen Begriff, da er auch von Afroamerikanern selbst verwendet wird.
[2] In der Anthologie Dark Matter, herausgegeben von Sheree R. Thomas, 2000.