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I.

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Gewiss wird es heute mehrere solche determinationes magistrales geben. In jedem Fall hat die vorbereitende Sammlung von Perspektiven und Aspekten jetzt mit der Formulierung der Disputationsfrage zu beginnen, die in unserem Fall also wohl hiesse: «Utrum doctrina Barbae in tempore Safenviliensi sit doctrina dialectico-theologici socialismi.»13 Und die erste Angabe, der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage müsste traditionsgemäss lauten: «Videtur quod non», es scheint so, dass Barths Denk- und Lehrform in der Safenwiler Dekade nicht die Denkform eines dialektisch-theologischen Sozialismus gewesen sei.

Als einen ersten Beleg für diesen Eindruck möchte ich, um gleich mitten in die Sache zu springen, den kurzen Text anführen, den Barth mit «Sozialismus und Kirche» überschrieben hat. Barth sagt hier einerseits, er sei «mehr Pfarrer als Sozialist», andererseits, er sei «auch Sozialist wenigstens». Die Stichworte, die Barth sich wohl für eine Aussprache im Safenwiler Arbeiterverein notiert hat, erläutern dieses «mehr» und dieses «auch wenigstens» so: Das «Unausgesprochene» im Sozialismus ist gerade das Wesen des Sozialismus, und deshalb ist hinter und über dem Parteiprogramm von der Bibel zu reden – von der Bibel, die aber in der kirchlichen Tradition entleert worden ist; deshalb ist im gleichen Vorgang ebenso umgekehrt von der Bibel, von der Theologie her auf den Sozialismus Bezug zu nehmen, um die einseitig geistige, die einseitig moralische, die insgesamt zu wenig radikale Auffassung und Wahrnehmung der Bibel zu korrigieren.

Friedrich-Wilhelm Marquardt, dessen ich auch an dieser Stelle mit aufrichtigem Dank gedenken möchte, hat diese Notizen in den Zusammenhang der thematisch ähnlichen Vorträge über «Religion und Sozialismus», «Krieg, Sozialismus und Christentum» und über «Christus und die Sozialdemokraten» gestellt und entsprechend in die Jahre 1915/1916 eingeordnet. Das ist gewiss sehr erwägenswert. Trotzdem stellt sich hier eine Frage: Denn zum einen ist das Schriftbild z. B. der Ausführungen über «Krieg, Sozialismus und Christentum» vom 14. Februar 1915 doch deutlich anders als das der Notizen über «Sozialismus und Kirche».14 Zum andern aber und vor allem: Die Stichworte über «Sozialismus und Kirche» sind auf der Rückseite eines Textentwurfs notiert, dessen Schrift ebenso wenig oder noch weniger |27| der von 1915/1916 gleicht.15 Die Gedankenmotive in diesem Textfragment erinnern an die Predigt, die Barth am 26. Oktober 1919 gehalten hat.16 Das gibt uns einen Orientierungspunkt.

Gemeinsam ist dem Textfragment und der Predigt die Unterscheidung von drei bzw. vier Zeiten: Das Textfragment unterscheidet sie deutlich als erste, zweite und dritte Zeit. Soviel aus den wenigen Zeilen – in Barths an Thomas von Aquins «littera inintelligibilis» erinnernder Schrift – zu entnehmen ist, sind sie im Blick auf die Frage unterschieden, «die verborgen im Herzen der Menschen lebt»; die dritte Zeit, «in der wir daran denken müssen», wird der ersten gegenübergestellt, in der wir daran denken – vielleicht akzentuiert Barth: «noch daran denken» –, und der zweiten, in der wir nicht daran denken – vielleicht: nicht daran denken wollen. Vermutlich hatte Barth zuvor, auf der nicht erhaltenen oberen Blatthälfte, davon gesprochen, dass wir in Beziehung auf die Lebensfrage auch in der ersten und der zweiten Zeit leben. «Die gegenwärtige Zeit» ist, «aufs Ganze gesehen», jedoch «jedenfalls dritte Zeit»: «die Zeit der offenen, der brennenden Frage», in der «viel Sicherheit, viel Befriedigung, viel Gerechtigkeit» dahin ist; aber gerade da «fängt das Leben an».

Wenn es sich hier wirklich um ein Fragment aus dem ersten Anlauf zur Predigt vom 26. Oktober 1919 handelte, dann wäre er wohl kassiert worden, weil Barth die Kennzeichen und das Verhältnis der drei Zeiten noch genauer ausarbeiten wollte. In der Predigt, wie sie dann gehalten wurde, kehren viele Motive aus dem Textfragment wieder: «Die grosse, brennende Frage unserer Zeit, die wie ein Erdbeben durch alle Herzen hindurchgeht», die nun bestimmter gefasst wird als die Frage: «Wo ist Gott in der Menschenwelt?»17; die Menschen, die «sehnsüchtig» geworden sind18, die «erwacht sind und nun wachen müssen»19, über die die «Unruhe» gekommen ist20, die «ganz am Anfang des Lebens stehen».21 Vor allem kehrt die Unterscheidung der Zeiten wieder – nun aber zunächst konzentriert auf den Gegensatz von unserer Zeit22 und der Zeit vor dem Krieg23, der jedoch charakteristisch differenziert wird: zunächst durch die Feststellung, dass in der |28| Vorkriegszeit Gott «überflüssig» wurde, indem die Menschen dieser Zeit und des in ihr sich zusammenfassenden Zeitalters, die «im Grossen Ganzen mit sich selbst und mit dem Leben fertig» waren, «allerdings auf die Frage kommen» mussten, «ob es einen Gott gibt»24. Aus der Zeit eines nicht problematisierten Glaubens geht also die Zeit des Zweifels an Gott hervor.25 «Unsere heutige Zeit» ist aber nicht nur durch einen «Rest» «in uns allen» mitbestimmt, «in dem wir auch noch vor dem Krieg sind»26. Sie ist auch, in einer gegenüber dem Fragment genauer zu unterscheidenden Analyse, als die Zeit gesehen, die von der Frage nach «Gott in der Menschenwelt» «bewegt ist oder doch im Begriff steht, nun an diese Frage heranzukommen»27. Sie steht vor der Entscheidung, das «Rätsel» jener Frage ernst zu nehmen. «Von dieser Entscheidung wird es dann abhängen, ob der Verheissung, die wir heute unzweifelhaft haben, die Erfüllung folgen kann.»28 Es sind also vier Zeiten, die in verschiedener Aktualität, in Potenz und Latenz, die Gegenwart von 1919 bestimmen: die Zeit des Glaubens, die Zeit des Zweifels, die Zeit der Verheissung (die in der offenen Frage gegeben ist) und die Zeit der Erfüllung. Die Zeit der Erfüllung ist noch nicht Gegenwart. Aber sie «wird kommen». «Denn wenn es mit der Frage: Wo ist Gott? wieder ernst werden wird unter uns, dann wird auch die Antwort da sein.»29 Wenn die Antwort aus der Frage selber entspringt, dann ist klar, dass schon in dieser dritten Zeit «Ungläubige» wie «Gläubige», die «drinnen» und die «draussen» – eben in der offenen, brennenden Frage – in einer seltsamen bedeutungsvollen Weise zusammengehören.30

Der genauere Blick auf das Textfragment und auf die Predigt vom 26. Oktober 1919 war nicht nur für den Versuch einer chronologischen Einordnung der Stichworte über «Sozialismus und Kirche» notwendig. Er war |29| auch schon ein erster Schritt in den Ideenzusammenhang, in den sie gehören. Wenn der Text auf der Rückseite von «Sozialismus und Kirche», wie ich vermuten möchte, aus einem ersten, dann verworfenen Anlauf zur Predigt vom 26. Oktober 1919 stammt, dann gehören die Notizen über «Sozialismus und Kirche» in die Zeit nach Ende Oktober 1919 – also vielleicht in den November 1919, in dem Barth am 18. einen Diskussionsabend im Arbeiterverein Safenwil hatte und am 29. November in Suhr die Ansprache zur Novemberfeier des Grütlivereins hielt. In dieser Rede weist Barth unter dem Titel «Vom Rechthaben und Unrechthaben» den Sozialisten die stellvertretende Rolle derer zu, die prinzipiell «unrecht haben», weil sie «das grosse Unrecht der Welt, der Gesellschaft, der Menschen» in sich haben «wie ein Feuer»31. Deshalb sind sie «unruhige, unbefriedigte Menschen», «die immer murren und klagen müssen gegen das, was jetzt ist», «die immer nach etwas fragen und suchen müssen, was es in der Welt offenbar gar nicht gibt»32. Den für den Sozialismus, den er ihm Blick hat, wesentlichen Bezug auf das Ungesagte, Unaussagbare macht Barth in einem Bild klar, das sich tief einprägt:

«Wir meinen ja eigentlich gar nicht das, was in den Forderungen unseres Programmes steht, wir meinen viel mehr als das. Unsere sozialistischen Forderungen […] sind ja nur die paar ersten Worte einer fremden Sprache, die wir unablässig wiederholen müssen, weil wir die übrigen noch nicht wissen.»33

Die «unmögliche Hoffnung», die in der Welt, wie sie ist, immer Unrecht haben muss, entspricht der «Notwendigkeit der geschichtlichen Stunde, in der die Menschheit heute steht»34. Deshalb dürfen die Sozialisten «nicht aufhören, die zu sein, die immer unrecht haben. Wir müssen Sozialisten bleiben.»35 «Um der Bürgerlichen selbst willen dürfen wir nicht bürgerlich werden.»36

«Wir müssen das Opfer bringen, die zu sein, die immer Unrecht haben. Denn erst wenn der Mensch weiss, dass er im Unrecht ist, kann der Tag des Rechtes anbrechen auf der Erde, der Tag des Advents, der Zukunft des neuen Menschen, |30| des Menschensohnes [vgl. Lk. 17,22], der das Unmögliche möglich macht – der Tag, dessen wir warten.»37

Insbesondere im Licht dieser Schlussworte des Suhrer Vortrags erscheint Barths Sicht- und Denkweise doch kaum als ein «dialektisch-theologischer Sozialismus», sondern eher als eine negative Theologie, die Sozialismus und Christentum in der Negation, in der Bezogenheit auf das Unausgesprochene und Unaussprechliche, auf das «ganz andre»38 zusammenschliesst.

Theologie im Umbruch

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