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2. Das Schweizer Fabrikgesetz von 1914

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1877 hatte das erste Schweizer Fabrikgesetz die Arbeitszeiten und die Arbeitsbedingungen in den Fabriken geregelt. Es galt als international richtungsweisend für die Arbeitsgesetzgebung, weil es die Arbeitszeit auf 11 |54| Stunden festlegte, und zwar für Frauen und Männer, und damit den kantonalen Vorläufern Glarus und Basel folgte.113 Die Fabrikgesetze anderer Länder, z. B. von England, hatten jeweils nur die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen von Frauen und Kindern geregelt. Die Begründung war, dass man nicht in die Vertragsfreiheit der Männer eingreifen sollte. Das blieb auch für Deutschland so, obwohl man das Schweizer Gesetz zum Vorbild nahm.114

Karl Barth hatte die Revision von 1914 zum Thema eines Vortrags gemacht,115 und zwar am 19. April, also noch vor der Verabschiedung des Gesetzes in Nationalrat und Ständerat. Das Gesetz wurde dann am 17. und 18. Juni einstimmig von beiden Räten verabschiedet. Ein Referendum wurde nicht ergriffen. Damit erhielt das Werk Gesetzeskraft. Barth referierte beim Grütliverein116 Suhr. Der Grütliverein war eine sozialliberale Arbeiterorganisation und Handwerkervereinigung, die 1901 mit der Sozialdemokratischen Partei fusioniert hatte, aber die selbständige Organisation beibehalten hatte. Barth war diesen sozialen Bewegungen eng verbunden. Er hatte sich bereits mit seiner Bewerbungspredigt zur Pfarrwahl in Safenwil mit der Beziehung zwischen Christentum und Sozialismus beschäftigt und war nach seiner Wahl zum Pfarrer in Safenwil an der Gründung dortiger Gewerkschaftsorganisationen beteiligt. Der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz117 (SPS) trat er dann 1915 bei.118

Aus den Notizen geht hervor, dass Barth zwar eine schärfere Gesetzgebung, insbesondere bessere Konditionen für die Arbeiter gewünscht hätte119, insgesamt warb er aber für den Kompromiss. Da noch nicht klar war, ob das Referendum ergriffen würde, war für eine allfällige Abstimmung die Unterstützung der Arbeiterschaft wichtig. |55|

Das erste Fabrikgesetz von 1877 und seine späteren Revisionen waren ein Erfolg der Gewerkschaftsbewegung. Das heisst allerdings nicht, dass es von den Arbeitern einhellig unterstützt wurde. Sie hatten Angst, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit eine Verkürzung des Lohnes nach sich ziehen würde, und auch das Verbot von Kinderarbeit in den Fabriken wurde gefürchtet, weil die Familien auf das Einkommen angewiesen waren. Das Fabrikgesetz wurde 1877 nach einem heissen Referendumskampf nur äusserst knapp angenommen. Wie schon bei den kantonalen Vorläufern der Gesetze waren Lehrer, Ärzte und auch Pfarrer für die Gesetzgebung eingetreten; Lehrer, weil ihre Schülerinnen und Schüler, wenn sie in der Fabrikarbeit eingespannt waren, im Unterricht den verpassten Schlaf nachholten, Ärzte, weil sie die gesundheitlichen Schäden bei Jugend und Erwachsenen feststellten, und Pfarrer, weil sie um die religiöse Bildung und Bindung fürchteten, und auch aus philanthropischen Erwägungen. Insgesamt war man in der Schweiz vom Wert guter Allgemeinbildung überzeugt, da man davon ausging, dass nur der gebildete Bürger auch in der Lage war, die im politischen System notwendigen Entscheidungen zu treffen.

Zu den Voraussetzungen der Schweizer Industrialisierung gehörten die vergleichsweise ungünstigen Standort-Rahmenbedingungen: keine Rohstoffe und keine direkte Verbindung zu den Weltmeeren. Die hohen Transportkosten glichen die Unternehmer durch die niedrigen Löhne aus. Typisch für die Schweizer Entwicklung war die dezentrale Industrialisierung, da die Wasserkraft genutzt werden konnte; d. h. aber auch, dass keine – etwa mit England vergleichbaren – Ballungszentren entstanden und Arbeitskräfte im ganzen Land verfügbar waren. Auch diese Konkurrenzsituation unter den Arbeitern und Arbeiterinnen erlaubte, die Löhne tief zu halten. Die frühe und lange Zeit einzige Leitindustrie der Schweiz war die Textilindustrie. Maschinenindustrie und chemische Industrie waren Folgeindustrien, die erst gegen 1900 langsam an Bedeutung gewannen. Die Textilindustrie beschäftigte traditionellerweise sehr viele Frauen, die in den Fabriken ähnliche Arbeiten verrichteten wie zuvor in der Verlagsindustrie oder im eigenen Haushalt. Sie brachten gute Materialkenntnisse, Erfahrungen und Qualifikationen mit, konnten aber – auch hier kann man sagen, traditionellerweise – schlecht bezahlt werden. Zunächst war also die Mehrheit der Fabrikarbeiterschaft weiblich, mit der Zunahme der Zahl der Arbeitskräfte ging der Anteil der Frauen zurück. In der Maschinenindustrie waren dann schon von Anfang an mehr Männer als Frauen beschäftigt. Was aber blieb, waren vielfach die niedrigen Frauenlöhne und zunächst auch das schlechte gesellschaftliche Ansehen der Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen. Allerdings war es für die Entwicklung der Schweizer Wirtschaft typisch, dass häufig beide |56| Erwerbsformen, Landwirtschaft und Fabrikarbeit, – je nach Saison – nebeneinander ausgeübt wurden. Der Arbeiter und die Arbeiterin galten weniger als die Bäuerin und der Bauer, und das Selbstverständnis der Schweiz blieb das eines agrarischen Landes.

Hier setzten nun die Gewerkschaften an, und zwar an beiden Punkten, Lohn und Ansehen, wohl wissend, dass sie zusammenhingen. Das Image des Fabrikarbeiters musste verbessert werden, seine Leistungen für die Gesellschaft betont, seine Rolle als Familienvater gestärkt. Die gewerkschaftliche Organisation war wichtig, das ermöglichte Druck und Streik, um so Lohnerhöhungen und die Verkürzung der Arbeitszeit durchzusetzen. Frauen waren da im Weg. Sie waren Konkurrentinnen, wurden als Lohndrückerinnen eingesetzt und waren meist nicht organisiert. Fabrikarbeit für Männer konnte man aufwerten, indem die Wichtigkeit für Volkswirtschaft und Gesellschaft betont wurde. Frauenarbeit aber, insbesondere die Arbeit verheirateter Frauen, sollte unnötig werden, wenn der Mann einen Familienlohn erhielt, einen Lohn, mit dem er ohne den sogennanten Zuverdienst eine Familie unterhalten konnte. Das war das Ziel, danach wurde die Gewerkschaftspolitik ausgerichtet. Dies wird auch in der Revision des Fabrikgesetzes sichtbar. Allerdings war es für die meisten Arbeiterfamilien bis in die 1950er-Jahre eine Illusion, von einem Einkommen leben zu können, ganz abgesehen davon, dass diese Politik junge Frauen in eine Warteposition bis zur Heirat verwies.

Barths Vortragsnotizen beziehen sich – wie gesagt – auf den Entwurf des Gesetzestextes, der nach heftigen und langandauernden Verhandlungen als Kompromiss im Parlament zustande gekommen war. Die Ergebnisse: Die 59-Stunden-Woche, maximal 10 Stunden pro Tag, ein Fortschritt gegenüber dem 11-Stunden-Tag des Fabrikgesetzes von 1877. Eine weitere Veränderung war die deutliche Ausweitung des Frauenschutzes: ein Verbot der Beschäftigung von Frauen in bestimmten Industriezweigen, Sonderbestimmungen zur Nachtruhe von Frauen, eine Verkürzung des sogennanten Wöchnerinnenschutzes auf 6 Wochen; vorher waren 8 Wochen möglich. Wöchnerinnenschutz bedeutete, dass Frauen in dieser Zeit nicht arbeiten durften, eine Erwerbsausfallentschädigung war nicht vorgesehen, hingegen immerhin ein Kündigungsschutz für Frauen während der 6 Wochen. Es wurde verboten, Frauen, «die ein Hauswesen zu besorgen hatten» zu Hilfsarbeiten ausserhalb der Arbeitszeit einzusetzen. Zudem sollten sie dann in 5 Jahren, also 1919, den Samstagnachmittag frei nehmen dürfen.

In Barths an sich sehr knappen Notizen, die den genau aufgeführten Gesetzesparagrafen folgten oder beigefügt waren, fällt auf, dass er einerseits die Verkürzung der Arbeitszeit unzureichend fand, zumal sie nur auf ein Niveau gesenkt wurde, das – wie er notierte – in 65 Prozent der Betriebe |57| bereits eingeführt war120. Mehr Freizeit sei infolge der immer anstrengender werdenden Fabrikarbeit nötig. Mit «freie Zeit wird nicht versoffen»121 reagiert Barth offensichtlich auf entsprechende gegnerische Argumente. Auch frühere Zeitverkürzungen seien nur unter Protest der Fabrikanten zustande gekommen (1914/15), obwohl die Arbeitsleistung durch eine Verkürzung grösser werde und die «grösste Unfallgefahr in den letzten zwei Stunden» zu verzeichnen sei.122

Was den Frauenschutz angeht, so gehörte Barth zu den vehementen Befürwortern. Seine Argumente, die er stichwortartig aufführte: die «schwächere Konstitution», Verdienst der Frauen sei meist nur Zuverdienst, geringe Organisationsfähigkeit.123 «Gründe dagegen seitens der Frauenrechtlerinnen nicht stichhaltig», schreibt er.124 Hier bezieht er sich wohl darauf, dass insbesondere ausländische Frauenbewegungen gegen Sonderbestimmungen für Frauen opponiert hatten. Sie erkannten die Ambivalenz dieses Frauenschutzes, der zwar das Los der doppelt und dreifach belasteten Fabrikarbeiterin erleichterte, die keineswegs nur Zuverdienerin war. Gleichzeitig machte er aber Frauen als Arbeitnehmerkategorie minderwertig, hielt sie zum Teil von besser bezahlten Arbeiten fern und legitimierte niedrigere Frauenlöhne. Nur ein Beispiel: Das Nachtarbeitsverbot des ersten Fabrikgesetzes, das für Männer in den Revisionen nach und nach durch Ausnahmeregelungen aufgeweicht wurde, galt für Frauen weiterhin absolut. Sie verloren daher in der Druckerei und Setzerei, in der sie bisher verhältnismässig gut bezahlte, qualifizierte Arbeiten verrichtet hatten, ihre Arbeit. Zudem war dieses Verbot ein Vorwand für die Gewerkschaften, die Ausbildung von Setzerinnen überhaupt zu unterbinden.125

Barth forderte zudem lapidar «bessere Männerlöhne». Damit übernahm er hier die Vorstellungen der Gewerkschaften, die sich über die Forderung des Familienlohnes des Mannes für die Besserstellung der Arbeiterschaft einsetzten. Dass viele Frauen – und Fabrikarbeit war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz zu einem beträchtlichen Teil Frauenarbeit – |58| nicht «Zuverdienerinnen» waren, sondern als Ledige sich selbst unterhielten und die Herkunftsfamilie unterstützten bzw. als Witwen oder Geschiedene ebenfalls nicht vom Familienlohn eines Mannes profitieren konnten, blieb unberücksichtigt. Das Konzept der Zuverdienerin und die Vorstellung, dass es für die Familien besser wäre, wenn die Frauen nicht erwerbstätig wären, verhinderten weitgehend, dass die Gewerkschaften sich für eine Verbesserung der Frauenlöhne stark machten. Zudem führten sie dazu, dass Frauenarbeit «versteckt» wurde, war sie doch der Beweis, dass es ein Mann nicht «geschafft» hatte, wenn die Familie auf den Verdienst der Frau angewiesen war.126

Hier trafen sich aber die bürgerlichen Vorstellungen, die das Haus als Wirkungsstätte der Frau sahen, und die der Gewerkschaften, auf deren Seite Barth in dieser Frage stand. Er hätte auch gern noch den Schutz der jungen Frauen verstärkt – er befürwortete einen Arbeitsbeginn der Mädchen als «Mütter der Zukunft» mit 15 statt mit 14, wie für die Knaben; «das non possumus der Arbeitnehmer ist nicht so ernst zu nehmen»127. Abschliessend bezeichnete Barth das Gesetz als «unter Achselzucken annehmbar», eine weitere Verbesserung müsste durch den Ausbau der gewerkschaftlichen Organisation «zur weiteren Selbsthilfe» erfolgen.128

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden jedoch nicht nur die Verbesserungen der Arbeitssituation sistiert, also die Inkraftsetzung des Gesetzes ausgesetzt, sondern insgesamt auch das bisher geltende Fabrikgesetz ausser Kraft gesetzt. Hier begann eine Entwicklung, die die städtischen Arbeitskräfte belastete, die zudem durch steigende Mieten, die schlechte Versorgungslage und die steigenden Lebensmittelpreise stärker betroffen waren als die Landbevölkerung, insbesondere als die Bauern. Zudem war offensichtlich, dass es neben den Verlierern diejenigen gab, die aus dieser Situation enorme finanzielle Gewinne zogen, sei es in der Rüstungsindustrie oder durch Erhöhung von Lebensmittelpreisen. Der Antagonismus Stadt – Land wurde dadurch akzentuiert. |59|

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