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4. Allein aus Gnade
ОглавлениеAllein aus Gnade – und zwar um Christi willen – wird der sündige Mensch vor Gott gerechtfertigt und von ihm angenommen. Allein aus |76| Gnade – auch das um Christi willen – lebt der gerechtfertigte Sünder als neugewordenes Geschöpf Gottes. «Ist jemand in Christus», schreibt Paulus in 2Kor 5, 17, «so ist er ein neues Geschöpf.» Die Rechtfertigung zielt also nicht nur auf die Vergebung der Sünde und die Versöhnung mit Gott, sondern auch auf die Erneuerung der Schöpfung. Daher sind die Rechtfertigungslehre und das sola gratia nach evangelischem Verständnis das Kriterium aller kirchlichen Verkündigung,34 das Kriterium für das Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus und ebenso für das Verständnis der Welt als Schöpfung und des Menschen als Geschöpf Gottes.
Das lässt sich sehr schön an Luthers Auslegung des 1. Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses verdeutlichen. Was bedeutet die Aussage: «Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde»? Luther antwortet: «Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was nottut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.»35
Der Schöpfungsglaube hat nach Luther also die Struktur der Rechtfertigungsbotschaft. Sola gratia: Das bedeutet schöpfungstheologisch gewendet, das Leben als gute Gabe aus Gottes Hand zu empfangen – «und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit.» Dass der Glaube im Sinne Luthers gleichbedeutend mit der Gewissheit des sola gratia erworbenen Heils ist, unterstreicht der Schlusssatz seiner Auslegung des ersten Glaubensartikels: «Das ist gewisslich wahr.»
Das sola gratia bildet aber auch einen Kontrast zur Gnadenlosigkeit unserer heutigen übertribunalisierten Lebenswelt, welche die Frage nach einer Kultur des Erbarmens und des Verzeihens laut werden lässt. Nach christlichem Verständnis ist es Jesus Christus als das fleischgewordene |77| Wort Gottes, in dem eine solche Kultur des Verzeihens ihre Quelle und ihren Maßstab hat.
Das Evangelium ist die Zusage bedingungsloser Liebe. Hat schon der irdische Jesus für sich die Vollmacht beansprucht, im Namen Gottes Sünden zu vergeben, so begreift das Neue Testament schließlich seinen Tod und seine Auferstehung als definitiven göttlichen Akt der Vergebung. Mit Paulus ist der Tod Jesu als Inbegriff göttlicher Feindesliebe (Röm 5, 10) zu verstehen, in welcher die Zuspitzung des Gebotes der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe (Mt 5, 38–48) ihren eigentlichen Grund hat. Die göttliche Vergebung aber zielt auf endgültige und universale Versöhnung.
Gerade seine religiöse Dimension macht das Christentum zur maßgeblichen Ressource einer Kultur des Verzeihens. Darauf hat bereits Hannah Arendt aufmerksam gemacht.36 Besondere Beachtung verdienen ihre Ausführungen zu Taten, die von Menschen nicht vergeben werden können, weil sie auch durch keine irdische Strafe gesühnt werden können. Dieser Gedanke ist hilfreich, um den Sinn der biblischen Rede vom Jüngsten Gericht neu zu verstehen. Recht verstanden ist der Gerichtsgedanke eine Implikation der christlichen Gewissheit, dass bei Gott auch in Sachen Vergebung kein Ding unmöglich ist, gerade weil er der richtende, Gerechtigkeit verbürgende Gott ist. Ohne den Gedanken des richtenden Gottes verliert auch derjenige des gnädigen Gottes seine Plausibilität.
Der Gedanke des Jüngsten Gerichts verwandelt sich freilich unter dem Vorzeichen von Rechtfertigung und Versöhnung von einem Symbol der Angst zu einem Symbol der Hoffnung, wie sich schon an der Frage 52 des Heidelberger Katechismus zeigt.37 Der biblische Gerichtsgedanke und die |78| Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bringen eine Hoffnung zum Ausdruck, die nicht nur den Opfern der Geschichte, sondern auch den Tätern gilt, freilich so, dass die Mörder nicht über ihre Opfer triumphieren.38
Für den christlichen Glauben erschließt sich der Gerichtsgedanke von der Heilsbedeutung des Todes Jesu her. Hier wird die Verbindung des sola gratia mit dem solus Christus deutlich. Mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis gesprochen, hoffen die Christen auf die Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht. Dass aller Menschen Richter kein anderer als Jesus Christus ist, sagt uns, dass Gott die Welt heilvoll zurechtbringen will und dass seine Gerechtigkeit vom Geist der Liebe durchdrungen ist.
Das Ziel des Rechtfertigungsgeschehens ist Versöhnung. Alles menschliche Bemühen um Versöhnung hat in der von Gott selbst in Christus gestifteten Versöhnung zwischen Gott und Mensch ihren letzten Grund. Leben aus der Kraft der Versöhnung ist Leben in der Hoffnung auf das Reich Gottes. Diese Hoffnung schließt das Gedächtnis der Toten und ihrer Leiden ein. Sie bildet den uneinholbaren Horizont aller innerweltlichen Bemühungen um Versöhnung.