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2. Rechtfertigung heute

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Bei oberflächlicher Betrachtung scheint die reformatorische Rechtfertigungslehre in der Moderne obsolet geworden zu sein, weil die Vorstellung von einem Jüngsten Gericht, die Frage nach dem gnädigen Gott und die Angst vor Sündenstrafen verblasst sind und die Existenz Gottes überhaupt fraglich geworden ist.22

Die moderne Infragestellung der Rechtfertigungslehre ist eng mit dem Theodizeeproblem verbunden. Die Theodizee mutiert zur Anthropodizee. |72| Wenn Gott nicht existiert, bleibt nur der Mensch als Handlungssubjekt in der Welt. Von ihm allein hängt das Wohl und Heil der Welt ab. Weil Gott fehlt, tritt an die Stelle der Rechtfertigung des Menschen eine Unkultur des Rechthabens, wie der Schriftsteller Martin Walser schreibt.23 So steht die vermeintliche Obsoletheit der reformatorischen Rechtfertigungslehre in einem eigentümlichen Widerspruch zum heute allgegenwärtigen Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung und zur Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit.24

Die Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der, modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft. Existenzielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung.25 Gesellschaftliche Konflikte lassen sich daher nicht auf ökonomische reduzieren, sondern sind immer auch moralische und – wie wir in jüngster Zeit wieder sehen – religiöse. Im – auch massenmedial ausgetragenen – Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit26 getrieben.

Auch die Schuldfrage und damit die Frage nach Vergebung und Annahme sind nicht wirklich verschwunden. Der Sinn der Rechtfertigungsbotschaft erschließt sich freilich nur, wenn nicht allein von unterschiedlichen Gestalten der Schuld, sondern auch von Sünde gesprochen wird. Sünde meint ein verfehltes Gottesverhältnis, das sich in einem verfehlten Selbstverhältnis und einem verfehlten Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen wie zur gesamten Schöpfung manifestiert. Sie bildet die Tiefenstruktur des Kampfes um Anerkennung. Schon in der biblischen Überlieferung lässt sich der Kampf um Anerkennung auf Schritt und Tritt festmachen. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören bereits nach alttestamentlicher Auffassung zusammen. Paulus bestimmt den sündigen Menschen |73| radikal als Feind Gottes. Die paulinische Rechtfertigungslehre aber besagt, dass Gott die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt.

Die Rechtfertigung des Sünders bedeutet auch, dass dieser sich auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Das Ziel der Rechtfertigung ist ein neues Verständnis der menschlichen Geschöpflichkeit. Indem das gestörte Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, gewinnt der Mensch auch ein neues Verhältnis zur Natur, die ihm nun als Schöpfung aufgeht.

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen

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