Читать книгу 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen - Группа авторов - Страница 8
Оглавление|19|
Michel Müller, Zürich
Eröffnungspredigt
Zu Apg 11, 1–18
Liebe Gemeinde
Viele von Ihnen werden nun also 3–4 Tage und Nächte hier in Zürich verbringen anlässlich des Kongresses, den wir mit diesem Gottesdienst eröffnen. Ich vermute, dass manche von Ihnen zu Hause berichten werden, wollen oder müssen, was Sie hier Sinnvolles getan haben. Sie sind in einer bedeutenden Stadt der Christentumsgeschichte, und deshalb sind Sie hierhergekommen. Andere kommen her wegen der Streetparade und des Zürich Film Festivals, das gestern zu Ende ging. Sie könnten hier auch völlig überteuerte Designerhandtaschen oder Luxusuhren kaufen. Ob die Daheimgebliebenen da vorwurfsvolle Fragen stellen oder es gar einen medialen Sturm auslöst? Vielleicht nicht. Aber es stellt sich eine andere, die entscheidende Frage: Kann an einem solchen Ort, hier und heute, der Geist Gottes uns auf eine Art begegnen, dass es einen Sturm auslöst? Erwarten wir überhaupt so etwas? Oder wozu sind Kongresse sonst da?
Werden wir uns im Nachdenken über Reformation rechtfertigen müssen für unser Tun und Nichtstun? Kommt es denn überhaupt auf uns an? Mit Petrus fragen auch wir doppeldeutig: «Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können?»
Das formuliert der Apostel zunächst einmal ganz zurückhaltend in der Tradition eines Mose oder Jeremia. Der Geist Gottes baut an seiner Kirche! Wer wären die einzelnen Dienerinnen und Diener – und wenn es der erste Papst wäre –, dass er dem Geist entgegen treten könnte? Der Geist ist bei Lukas frei, Fakten zu schaffen, denen die Kirche dann folgen kann, folgen muss mit ihren Handlungen. Hier konkret folgt die Taufe dem Empfang des Geistes. Manchmal ist es bei Lukas auch umgekehrt, und der Geist folgt erst der Taufe. Der Geist ist frei. Denn es ist Gottes Geist. Aber das heißt nicht, dass er nicht wirkt. Sein Wirken darf erwartet werden, und zwar auch überraschend und gegen eigene wohlgepflegte theologische Überzeugungen. Die Geschichte der Kirche ist entsprechend dem dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses auch die Geschichte des Heiligen |20| Geistes. Nun haben die christlichen Kirchen ausgeklügelte Systeme entwickelt, um das Wirken des Geistes zu prüfen und zu domestizieren. Ja, wir müssen den Geist prüfen. Dazu verpflichten uns die Irrungen und Wirrungen der Kirchengeschichte, gerade auch unserer eigenen. Darum müssen wir fragen: Wie sind die letzten 500 Jahre als Wirkung des Geistes Gottes zu verstehen? Wie hätte Lukas seine Geistgeschichte fort-geschrieben? Kämen die Protestanten darin vor, als eine Wirkung des Geistes? Manche Vertreter anderer Kirchen würden das wohl auch nach 500 Jahren bezweifeln. Wir hier in der Zürcher Kirche hingegen glauben das. Unsere Kirchenordnung (KO) bekennt, dass Kirche «gebaut wird durch Gottes Geist»1. Punkt – Doppelpunkt: Nicht nur wir, sondern eine Vielzahl von Kirchen, die in den letzten Jahrhunderten entstanden sind und von hier und Wittenberg und all den Reformationsorten ausgegangen sind, sehen sich im Glauben als Wirkungen des Geistes Gottes. Aber wie geht das zusammen: der eine Geist und die vielen Kirchen?
Der vor Jahren verstorbene Ökumeniker Oscar Cullmann verstand die Vielfalt der christlichen Kirchen geradezu definitorisch als eine Wirkung des Geistes. So schreibt er in seinem berühmten Buch «Einheit durch Vielfalt»: «Wer den Reichtum der Fülle des Heiligen Geistes nicht respektiert und Uniformität will, sündigt gegen den Heiligen Geist»2. Und ist es dann nicht umgekehrt auch als Wirkung des Geistes zu betrachten, dass es da nach wie vor neben den protestantischen Kirchen eine römisch–katholische Kirche gibt? Deshalb könnte gelten: «In den ökumenischen Beziehungen ist dies wichtig: Das, was der Geist in den anderen gesät hat, nicht nur besser zu kennen, sondern vor allem auch besser anzuerkennen als ein Geschenk auch an uns»3. Das war nun nicht Cullmann mit seiner Idee der Charismen in allen Kirchen, sondern ein Zitat des römischen Bischofs! Und gleich anschließend sagt Papst Franziskus in diesem kürzlich geführten Interview mit der Jesuitenzeitschrift «Civiltà Cattolica»: «Wir müssen vereint in den Unterschieden vorangehen. Es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden. Das ist der Weg Jesu.» «Vereint in den Unterschieden» ist vielleicht nicht dasselbe wie «versöhnte Verschiedenheit», wie wir Protestanten sie verstehen, aber auch nicht etwas völlig |21| anderes als das Konzept unserer Leuenberger Gemeinschaft. Ist dies die aktuelle Herausforderung für uns alle – gerade auch gegenüber den jungen Kirchen wie den Pfingstkirchen, die den Geist programmatisch im Namen tragen? Wir reden hier von der mittlerweile zweitgrößten Gruppe im weltweiten Christentum – wie werden wir eigentlich mit ihnen Reformation feiern und Erneuerung thematisieren, erbitten, erfahren? Und wie werden wir mit den ganz alten Kirchen umgehen? Werden wir allen Ernstes bald nach 500 Jahren Reformation des tausendjährigen Schismas gedenken müssen?
Wirklich: Wir müssen sie alle prüfen, die Geister, und gerade das kann und soll eine Aufgabe eines Kongresses von theologischen und kirchenleitenden Fachleuten sein. Wir besprechen die Geschichte und deren Folgen, lernen daraus und beziehen daraus auch unsere Inspiration. Wozu sonst sollten wir uns treffen? Ist unsere Lage also ähnlich wie jene derer, die damals in Jerusalem zu prüfen und zu entscheiden hatten?
Wer sind wir? Wer bin ich? Diese Fragen stellt derselbe Petrus, der gesagt hat, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Eine Haltung, die Martin Luther in Worms vor Augen hatte, als er sagte, er müsse seinem Gewissen mehr gehorchen als Kirche und Kaiser: «Hier stehe ich und kann nicht anders.» Wirklich so gesagt oder nicht: Es macht ja den Reiz solcher Sätze aus, dass sie exemplarisch etwas vom Wesen des Geschehenen auf den Punkt bringen. Da steht ein Einzelner vor Machthabern und vor Gott, vom Geist bewegt, seinem Gewissen und dem Wort Gottes treu zu sein, gegen den Rest der Welt. Da kommt es plötzlich auf den einen Einzelnen an, der tapfer Rechenschaft ablegt. Der in Gottes Namen «etwas Tapferes tut.» Diese Wendung, «etwas Tapferes tun» steht in Zürich beispielhaft für das Wirken Zwinglis. Sie wurde in einem anderen Zusammenhang als Luthers Satz geschrieben, und doch galt und gilt auch hier: Wenn der Geist Gottes uns durch die Schrift dazu bringt, dann müssen wir ihm folgen. «Tuont um Gottswillen etwas Dapfers», schrieb Zwingli. Sie können es in der Sakristei nachlesen. Wer wären wir, ihm entgegenzutreten? Dabei ist die Spannung, ja Widersprüchlichkeit auszuhalten: Nein, es geht hier nicht um einzelne heroische Gestalten, sondern um Christi Kirche, gebaut durch seinen Geist. Nie aber geht es, ohne dass eine oder einer, auch von uns, diesem Geist folgt. Nein, nicht um uns geht es, aber eben auch nicht ohne uns. Wer sind wir heute?
Wer bin ich? Noch einmal leihe ich mir Worte vom römischen Bischof Franziskus, der so antwortet: «Ein Sünder, der vom Herrn angeschaut wird.» Ein Sünder, weil selbst vermeintlich unfehlbare Entscheide nicht |22| an Gottes Stelle treten können? Ein Sünder, der es wagen darf, etwas zu tun, weil er vom Herrn angeschaut wird, anders ausgedrückt in unserer Tradition: weil er zugleich Sünder und Gerechter ist?
Was aber ist es dann, was für uns zu tun ist, hier und heute und in den nächsten Jahren als protestantische Kirchen? Wir hier in Zürich feiern gerade 50 Jahre Frauenordination. Dafür erhalten wir zwar eine gewisse Aufmerksamkeit, aber keinen Applaus, zu selbstverständlich müsste es eigentlich in einer modernen Gesellschaft sein. Zölibat? Das ist bei uns Protestanten seit Katharina von Bora, der Lutherin, und Anna Zwingli, geborene Reinhart, kein Thema mehr. Wir haben in vielen evangelischen Kirchen Schluss gemacht mit der Normierung bestimmter Lebensweisen und der Diskriminierung derer, die anders sind. Und das, weil wir evangelisch sind und nicht zum Trotz. Gut. Aber: Was bleibt für uns zu tun, dort, wohin der Geist uns leiten will?
Die protestantischen Kirchen Frankreichs als ein ganz aktuelles Beispiel haben dieses Jahr einen großen Schritt getan mit ihrer Union. «Ecoute – Dieu nous parle», heißt es dort, und wenn Gott spricht: Wer könnte ihm entgegentreten? Er beruft uns zu Zeugen, témoins, in einer modernen Gesellschaft. Auf die noch relativ reichen deutschsprachigen Kirchen sehe ich die Frage zukommen: Wie lange werden wir uns die Erhaltung einer Struktur leisten wollen, die den tatsächlichen Erfordernissen und der Größe gar nicht mehr entspricht? Und die dem Auftrag, das Evangelium allen Völkern in Wort und Tat zu verkündigen, Mittel entzieht?
Wer bin ich, dass ich das sage? Kein anderer als der, der an seinem Ort, mit seiner Kirche und mit seinen Gaben das Notwendige tun soll und will. Der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, dem Geist nicht entgegenzutreten. Dem Geist, der «auch den anderen Völkern die Umkehr zum Leben gewährt», wie es Lukas zusammenfasst.
Ich meine und sage es offen: Wir müssen hinaus aus unseren alten Mauern. Hinaus in die Welt – nicht in die Welt, wie wir sie gerne hätten, sondern in die Welt, wie sie nun einmal ist. Zu den Menschen, die nun einmal sind, wie sie sind. Wir müssen die Sicherheit gegenseitiger Bestätigung in geschlossenen Kirchen verlassen, uns selbst vergessen und den Menschen begegnen in ihren tatsächlichen Bedürfnissen, gerade auch den spirituellen, also geistlichen.
Hinausgehen. Das kann man auch mal während eines Kongresses versuchen, hinausgehen aus sich selbst, sich hinsetzen auf eine Bank, den Menschen zuschauen, mit jemandem ein Wort wechseln. Auch in Zürich |23| hat’s ganz einfach Menschen. Die Ökumene beginnt in der persönlichen Begegnung mit meinem Nächsten, auf den ich höre, für den ich beten kann, dem ich dienen kann. Wer, wenn nicht ich?
Dann wird die weltweite Kirche, die Ökumene, eine spirituelle und eine diakonische Ökumene sein, eine Kirche, die betet und dient, die aus dem Wort Gottes geboren wird, die genährt wird am Tisch des Herrn. An diesen Tisch sind alle geladen, die der Herr einlädt, der gegenüber Petrus erklärt hat: «Was Gott für rein erklärt hat, das erkläre du nicht für unrein.»
Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können?
Amen