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Karen Georgia Thompson, UCC, Cleveland/Ohio

Römerbrief 3, 21–31

Der Bibeltext, den wir heute Morgen gehört haben, ist uns allen gut bekannt. Er gehört zu den Perikopen, die für die Reformation von zentraler Bedeutung wurden. Martin Luther berief sich besonders auf diesen Text als Argumentationsbasis. Luther hatte es zu seiner Zeit mit einer korrupten Kirche zu tun, mit einem Volk, das man lehrte, seinen Weg zur Ewigkeit käuflich zu erwerben, und einem Klerus, dem die Pflicht oblag, den Willen einer festen klerikalen Hierarchie auszuführen, mit offensichtlicher Unterstützung des Kaisers. Kirche und Staat traten vereint für den Ablasshandel ein, der als Mittel galt, der retributiven (vergeltenden) Gerechtigkeit Gottes zu entgehen. Die Entrichtung von Geldgaben an die Kirche in Form des Ablasserwerbs verwandelte Sündenstrafen, die der Sünder als Buß- und Reueakt auf sich zu nehmen hatte, in Finanztransaktionen.

Seine ausführliche Beschäftigung mit dem Römerbrief führte Luther zu einer gewagten Herausforderung der Kirche, und das zu einer Zeit, in der es für alternative christlich-religiöse Überzeugungen und Ansichten, die im Widerspruch zur damals herrschenden christlichen Lehre standen, kaum Chancen gab, sich Gehör zu verschaffen. Luther kam aufgrund seines Verständnisses des Römerbriefes zu der Erkenntnis, dass der Mensch durch Gottes Gnade als freie Gabe Gottes vermittels des Glaubens gerechtfertigt werde. Rechtfertigung ließe sich also nicht käuflich erwerben. Indem er die Heilige Schrift zur einzigen Quelle verbindlicher Autorität für die Kirche erhob, stellte Martin Luther die Autorität des Papstes und der römisch-katholischen Kirche in Frage.

Doch Luther war, wie wir wissen, kein Lutheraner, sondern ein römisch-katholischer Priester, der die Ausbeutung der Armen kritisierte und die Missbräuche des Papsttums anprangerte. Das führte ihn dazu, eben die Institution, in deren Dienst er stand, einer strengen Kritik zu unterziehen. Luther zahlte einen hohen Preis für seinen Wagemut: Er wurde in der Folge vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser in Acht und Bann getan. Nach Luther werden wir erlöst sola scriptura, sola gratia, |36| sola fide – allein durch die Schrift, allein aus Gnade und allein durch Glauben.5

Wenn wir nun an das rasch auf uns zukommende 500-jährige Jubiläum der Reformation denken, ist dieser Anlass gewiss auch eine Gelegenheit, uns auf unsere Vergangenheit zu besinnen und das Werk unserer Vorgängerinnen und Vorgänger zu ehren. Und dieses historische Ereignis fordert uns zugleich auf, unsere kirchliche Gegenwart zu bedenken und die Zukunft der Kirche ins Visier zu nehmen.

Röm 3, 21–31 ist ein ebenso bekannter wie herausfordernder Text. Die Christinnen und Christen, Mitglieder der römischen Gemeinden jenes ersten Jahrhunderts, denen der Brief des Paulus vorgelesen wurde, hatten den Apostel nie gesehen und kannten ihn nicht. Unser Text schließt sich an den Schluss an, den Paulus in Röm 1, 17 zieht; den Abschluss bildet Röm 3, 20, wo Paulus schreibt: «…weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.» Damit ist der Rahmen für das, was Paulus zu sagen hat, abgesteckt.

In ihrem Buch «The First Paul» widmen Marcus Borg und John Dominic Crossan der Diskussion über das Thema «Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben» ein ganzes Kapitel. Als Paulus «von der Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben sprach», dachte er nach Meinung der Autoren des Buches nicht an die Art und Weise, wie wir in den Himmel kommen, sondern an die Transformation unserer eigenen Person und der Welt in unserem diesseitigen Leben. Mehr noch: Wenn Paulus Glauben und Werke gegenüberstellt, denkt er nicht an Glauben ohne Werke – was ein Unding wäre, denn Glaube umfasst stets Werke – sondern an Werke ohne Glauben, ein leider allzu häufiger Tatbestand, bisweilen aus Gründen der Gewöhnung oder von Schuld, bisweilen auch aufgrund gedankenloser Wiederholung oder kalkulierter Heuchelei.

Es ist die uns in Christus Jesus geschenkte Gnade Gottes, die Ort und Raum für Werke schafft, nicht als Vorschrift, sondern als natürliche Folge der aktiven, umgestaltenden Kraft Gottes. Weil wir Empfänger von Gottes Gnade sind, sind wir motiviert, Teilhaber von Gottes aktiver Gerechtigkeit in unserer Welt zu sein. |37|

Glaube ist die Aktion des Individuums, nicht Werke. Glaube ist unsere Antwort auf Gottes Wirken. Die Aktivität des Glaubens ist jedoch nicht unabhängig von Gottes Gegenwart und Gottes Wirksamkeit. Wäre Glaube allein auf die Aktion des Individuums zurückzuführen, gäbe es Gründe, sich seines Glaubens zu rühmen, ähnlich wie man sich seiner Werke rühmen könnte.

Walter Brueggemann und andere halten fest, dass ein Verständnis des Textes, welches impliziert, der Glaube sei eine Sache ausschließlicher Aneignung durch das Individuum, «den Text zu einer Erklärung umfunktioniere, deren Schwerpunkt auf den Folgen der Rechtfertigung Gottes für uns Menschen liegt». Doch «der Fokus des Textes», schreibt er, «liegt nicht auf der menschlichen Suche nach einem gnädigen und liebenden Gott, sondern auf dem radikalen Handeln Gottes, dessen Gnadenanspruch die ganze Menschheit umfasst.»6 Selbst wenn eine individuelle Person den Glauben besitzt, ist dies auf Gottes Gerechtigkeit zurückzuführen.

Ein rechtes Verhältnis zu Gott ist keine Verheißung für ein paar Auserwählte, sondern ist für «alle» Menschen bestimmt. Mehrmals hebt Paulus die universale Natur der Sünde hervor – «alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte», ganz wie die «Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus» allen, die glauben, zugesprochen ist. Nach Paulus zeigt Gott keinerlei Parteilichkeit im Angebot der Rechtfertigung. Es gibt keine Bedingungen oder Voraussetzungen, die zum Erwerb der Gnade Gottes erfüllt werden müssten.

Paulus vertritt diese Überzeugung «des Zugangs aller Menschen» gegenüber dem Gesetz, das den Zugang für ein bestimmtes Volk regelte. Es gibt keine Vorschriften, die eingehalten werden müssten, um das zu erreichen, was Gott frei anbietet. Allen gilt die Erlösung, die ihren Glauben auf Gott werfen.

Gott als Handelnder ist am Werk, um die Menschheit wieder in ein rechtes Verhältnis zu Gott zu bringen. Gott will ein rechtes Verhältnis zu uns schaffen, und als Ergebnis seines Handelns erfahren wir die Gerechtigkeit Gottes, wie sie sich zu unseren Gunsten auswirkt. Paulus schreibt: «Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede |38| aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.» (V. 21f.)

Walter Brueggemann und andere Kommentatoren schreiben: «Gottes Gerechtigkeit ist keine Eigenschaft, die mit Gottes Güte oder Gottes Unveränderlichkeit vergleichbar wäre. Obwohl wir uns Gottes Gerechtigkeit nie von Gott abgetrennt vorstellen dürfen, ist Gottes Gerechtigkeit ein Geschenk, das Gott uns Menschen in seiner Gnade verleiht. Gottes Gerechtigkeit ist ein Ausdruck von Gottes Handeln, um Gottes Anspruch auf die Welt erneut zur Geltung zu bringen.»7

Luther rang mit diesem Text vor fast 500 Jahren, in einer Welt, die in keinem rechten Verhältnis zu Gott stand. Luther blickte sich in der ihn umgebenden Welt um und sah in ihr die Notwendigkeit zu einem tiefgreifenden Wandel. Die in der Kirche herrschende Korruption war an sich nichts Neues. Der Ablasshandel war keineswegs nur für reiche Leute bestimmt; er zielte genauso auf die Armen ab. So bereicherte sich die Kirche ständig, während das Volk immer ärmer wurde. Luther war nicht nur darauf bedacht, die kirchlichen Zustände zu verändern; seine Motivation erstreckte sich ebenso sehr auf die Situation der Armen und Ausgeschlossenen. Die Reformation veränderte das Leben der Menschen. Die Reformation veränderte die Kirche. Die Reformation veränderte die Welt.

500 Jahre später vermögen wir die Änderungen zu erkennen, welche das Eingreifen der Reformatoren innerhalb und außerhalb der Kirche bewirkt hat. Dabei war die Reformation keineswegs ein vollkommenes Experiment; sie hatte auch den Ausschluss von Personen zur Folge, deren Interpretation und Verständnis Gottes von den Reformatoren als häretisch angesehen wurde. Und wir werden das Reformationsjubiläum im Kontext einer ökumenischen Gemeinschaft begehen, die immer noch dem Tag entgegensieht, an dem die Kirche geeint ist, gemäß der Fürbitte Jesu für seine Jüngerschaft: «damit sie alle eins seien» (Joh 17, 21). Manche sehen in der Reformation die Ursache der Kirchenspaltung. Trennungen sind auch innerhalb unserer eigenen protestantischen Kirchenfamilie auszumachen. Hier haben sich Kirchen noch und noch aufgrund verschiedenartigster Differenzen gespalten. Unsere christliche Familie manifestiert sich unter den verschiedensten Namen: Methodisten, Anglikaner, |39| Orthodoxe, Lutheraner, Baptisten, Pfingstkirchler, Heiligkeitskirchen, Evangelikale, wobei jede dieser Gruppierungen sich noch in Untergruppen unterteilt. Wie rechtfertigen wir die Tatsache, derart uneins in der Frage zu sein, wie wir Gott, Jesus, den Heiligen Geist oder die Sakramente verstehen, wenn wir erkennen, welchen Weg Gott für uns alle aufgetan hat, um mit Gott durch Christus versöhnt zu sein?

Ungeachtet der Frage, wie wir uns den Inhalt von Röm 3, 21–31 in diesen Tagen und Monaten im Vorfeld der Reformationsfeiern neu aneignen, sind wir alle mit dem Leben und Werk Luthers und der anderen Reformatoren und deren Beitrag zur Gestaltung – oder vielleicht zur Neugestaltung – des Christentums konfrontiert: Wie wollen wir unseren christlichen Glauben heute als unsere Religion leben und in die Praxis umsetzen?

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen

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