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Einleitung

Wann hat die Reformation stattgefunden? Und worin besteht sie letzten Endes? Die protestantischen Kirchen feiern den Reformationssonntag gewöhnlich um den 31. Oktober. Nach traditioneller Überlieferung soll an diesem Tag des Jahres 1517 Martin Luther, ein junger deutscher Mönch und Theologieprofessor, 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben, in denen er die Praxis des Ablasses kritisierte, der es den Gläubigen ermöglichte, mit klingender Münze ein Stück ihres Seelenheils zu kaufen. Diese Einladung zu einem Disput unter Theologen bildete den Ausgangspunkt eines Konfliktes zwischen verschiedenen theologischen Standpunkten, die sich rasch als unversöhnlich herausstellten. Unter anderem dank politischer Unterstützung und massivem Einsatz von Druckschriften änderte damals ein großer Teil der römisch–katholischen Kirche in kürzester Zeit ihre Praxis und einen Teil ihres Denkens. Diese Bewegung breitete sich in ganz Europa aus, und zwar so schnell, dass die Argumente Luthers gegen den Ablass nicht die einzige Ursache dafür sein konnten.

2017 werden die protestantischen Kirchen, die aus dieser Bewegung hervorgegangen sind, des 500. Jahrestages der Reformation gedenken. Was soll aber 2017 genau geschehen? Wozu dieses Ereignis feiern, das von der heutigen Situation der Kirchen und den geistigen Sorgen und Fragen unserer Zeitgenosse so weit entfernt scheint, auch wenn es damals die Geschichte des europäischen Kontinents tiefgehend verändert hat und historisch von weltweiter Bedeutung war? Hat die Reformation nicht auch zu zahlreichen Gewalttaten geführt? Woran wollen wir uns erinnern und was wollen wir eigentlich feiern? Worin besteht diese Reformation? Wie weit kann sie die Kirchen und die Welt von heute betreffen?

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die aus der Reformation von Luther hervorgegangen ist, und der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK), der aus der Reformation von Zwingli und Calvin entstanden ist, haben 2012 beschlossen, ein Zeichen der Einheit des Protestantismus zu setzen, indem sie einen gemeinsamen Vorbereitungskongress für das Reformationsjubiläum 2017 organisierten. Damit haben der SEK und die EKD bekräftigt, dass durch die 1973 auf dem Hügel von Leuenberg bei Basel getroffene theologische Vereinbarung, die unter dem Titel «Leuenberger Konkordie» bekannt geworden ist, die |10| kommenden Feiern des Reformationsjubiläums eine neue gesamtprotestantische Bedeutung erreichen. Dahinter soll und kann das Verständnis evangelischer Kirchen nicht mehr zurückfallen. Im Lauf dieses Kongresses, der im Oktober 2013 in Zürich stattfand, versuchten die EKD und der SEK, eine Standortbestimmung zu den genannten Fragen vorzunehmen zum Zeitpunkt, da die meisten Kirchen ihre Aktivitäten planen. Wir wollten vor allem zusammen mit den Mitgliedkirchen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und anderen Partnerkirchen weltweit diskutieren, was wir feiern wollen und weshalb wir das tun. Heute wird die Reformation nicht mehr nur über die Wirksamkeit von Luther in Deutschland oder von Zwingli oder Calvin in der Schweiz definiert, so bedeutend und entscheidend das Wirken dieser Persönlichkeiten auch sein mag. Die Reformation muss heute vielmehr als vielfältige und europäische Bewegung verstanden werden, deren Ursprünge in die früheren Jahrhunderte zurückreichen. Sie ist aber vor allem unter dem Aspekt des aktuellen Kontextes der weltweiten Christenheit neu zu betrachten: Wir sehen auf der einen Seite eine Verweltlichung und ein Abbröckeln, auf der anderen Seite Wachstum und fundamentalistische Tendenzen; eine zunehmend multikulturelle und pluralistische Religionslandschaft. Wir sehen auch die Errungenschaften, die Wirklichkeit und die Zukunft des ökumenischen Dialogs und die globalen Fragestellungen zur Zukunft der Erde. Für die evangelischen Kirchen kann es sich also nicht bzw. nicht bloß darum handeln, sich 2017 das Geschehen der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen und dessen Spuren im Lauf der Geschichte zu verfolgen. Es geht vielmehr darum, sich die Botschaft der Befreiung, wie sie bereits Luther und andere wiederentdeckt haben, neu anzueignen, indem wir die Bibel neu lesen. Wir wollen diese damaligen Entdeckungen für die Christen von heute neu interpretieren. Wenn also 2017 ein Jubiläum und ein Fest sein soll, dann kann es nur ein Fest des Evangeliums und nur ein Fest für Jesus Christus sein.

Die in diesem Band vereinten Texte geben deshalb nur einen Teil dessen wieder, was den Reichtum dieses Kongresses ausmachte. Sie wollen die Kirchen einladen und dazu auffordern, zu diskutieren und miteinander auszutauschen, was die Botschaft des Evangeliums uns heute sagen will und wie wir das Jubiläum von 2017 und darüber hinaus am besten feiern. Darin bestand auch der Mehrwert des Kongresses, der hier dokumentiert wird. Diese Texte sollen verlässliche Orientierungspunkte und interessante Hinweise anbieten für all jene, die sich auf internationaler Ebene darauf vorbereiten, 500 Jahre Reformation zu feiern – ohne zu |11| triumphieren, ohne sich aus falscher Scham zu verstecken, ohne gegen andere Konfessionen zu polemisieren und ohne die ökumenische Herausforderung zu unterschätzen. Am Kongress trafen sich 250 Teilnehmer aus 35 Ländern, Professoren, Kirchenführer, interessierte Pfarrer, Multiplikatoren und Ökumenefachleute. Dadurch wurde die weltweite Dimension der evangelischen Kirche sichtbar und spürbar. Die hier abgedruckten Texte kommen von sehr unterschiedlichen Autoren und aus verschiedenen Kontexten. Einige sind mehr akademisch, andere mehr narrativ oder deskriptiv verfasst. Für viele Autoren waren die Kongresssprachen auch nicht ihre Muttersprache. All dies ist im Stil der Beiträge spürbar. Wir haben diese Elemente, die zuerst stören oder irritieren können, nicht vollständig bereinigen wollen. Denn genau darin sehen wir ein Zeichen der Stärke und der Qualität der Beiträge, ein Indiz dafür, dass die Wette dieses Kongresses gelungen ist: evangelische Stimmen aus der ganzen Welt um unsere gemeinsame theologische Identität heute zu versammeln, ohne Vorurteil oder vorgefertigte Regelung.

Das Buch folgt dabei der inneren Logik des Kongresses:

– In einem ersten Teil werden die theologischen Grundlagen der Reformation hinterfragt. Die Analysen beziehen sich einesteils auf die Bedeutung, die der Entdeckung der Reformation heute zukommt, was natürlich einen ökumenischen und internationalen Ansatz voraussetzt. Andererseits aktualisieren sie spezifische Themen, aus denen sich die Reformation herauskristallisiert hat. In den letzten Jahren hat nämlich sowohl die historische wie auch die theologische Forschung große Fortschritte gemacht bei der Klärung der Frage, was die Reformation wirklich Neues gebracht hat und wieweit sie auch eine Frucht der damaligen Zeitverhältnisse darstellt.

– In einem zweiten Teil befasst sich der Band mit den möglichen Inhalten und Grenzen, die sich heute aufgrund des Kontextes und der verschiedenen Gesprächspartner des Jubiläums ergeben: Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen der Situation in Deutschland und in China? Wie wird unsere Botschaft von einem römisch-katholischen oder einem afrikanischen Standpunkt aus verstanden?

– Schließlich enthält der Band Bewertungen des Kongresses und Rückblicke, insbesondere aus Sicht der Freikirchen bzw. der Kirchen, die aus der radikalen Reformation entstanden sind.

Wir hoffen, dass die Leser von der Vielfalt und vom Reichtum dieser Perspektiven auf 2017 für ihre eigene Projekte und Vorbereitung angeregt werden.

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen

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