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Johannes 3, 1–15 (Lutherübersetzung 1984)
ОглавлениеLieber Kongressteilnehmerinnen und Kongressteilnehmer
Was für ein Text am frühen Morgen! Das ist wirklich ein harter Brocken und es ist schwer, sich ihm in 30 Minuten anzunähern. Denn wir haben es mit einem gut durchdachten, tiefgründigen und durchkomponierten Abschnitt zu tun. Nur beim Evangelisten Johannes finden wir dieses «Nikodemusnachtgespräch», das aufhorchen lässt. Was ist gemeint? Wenn Sie nach der ersten Lektüre denken: Das ist mir zu komplex, schwer verständlich, kann ich Sie beruhigen: Das findet sogar der große Johannesexeget Rudolf Bultmann. Das ganze Gespräch atmet, so Bultmann, «die Atmosphäre des Mysteriösen», entfaltet es doch «das Geheimnis der Wiedergeburt, des Menschensohns und des Zeugnisses.»
Schauen wir uns die Situation zunächst näher an. Ein Mann namens Nikodemus, offenbar bekannt, von Jesus sogar als «Lehrer Israels» angesehen (3, 10), kommt zu Jesus nach Anbruch der Nacht. In der Literatur und in vielen Predigten wird das als Ängstlichkeit interpretiert: Der Mann mit einer führenden Position im Hohen Rat wagt es nicht, öffentlich mit Jesus zu sprechen. Aber wovor sollte er Angst haben? Um seinen Ruf? Der Evangelist Johannes selbst sieht Nikodemus wohl als opportunistisch an. Jedenfalls sagt er über die «Oberen», die sich aus Furcht nicht offen zu Jesus bekennen: «Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott.» (12, 42f.)
Der Neutestamentler Klaus Wengst stellt dementsprechend die These auf, dass Nikodemus als Einzelperson für Johannes eher uninteressant sei. Vielmehr stehe er für eine Gruppe von «heimlichen Sympathisanten aus der Oberschicht, die sich nicht offen bekennen, weil sie befürchten, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden. Weil sie ihren sozialen Status nicht aufs Spiel setzen wollen…»8. Ein hartes Urteil. Dass Nikodemus Jesus als von Gott gekommenen Lehrer (3, 2) anspricht, sich aber nicht zu |41| ihm bekennt, das wirft Johannes ihm offensichtlich vor und damit vielen, die sich ebenso verhalten. Hier findet sich wohl auch ein latenter Antijudaismus bei Johannes. Der flackert auch in den exegetischen Betrachtungen zu unserem Text immer wieder auf, etwa bei Emmanuel Hirsch, wenn er schreibt: «Der Jude ist in einen Dienst gebunden, der seinen Blick verschließt für eine Gotteskindschaft, die als Wundergabe Gottes in das erdgebundene Leben sich senkt.»9
Nikodemus taucht mehrfach auf im Johannesevangelium. Er tritt für ein faires Verfahren gegen Jesus ein (7, 50f.) und er ist es, der gemeinsam mit Josef von Arimatäa für eine würdige Bestattung sorgt (19, 39ff.). Wäre es nicht auch möglich, dass Nikodemus schlicht Interesse an der Lehre Jesu hatte, nachdenklich war und offen das Gespräch suchte? Dass es abends stattfand, ist nicht außergewöhnlich. Der Talmud beschreibt, dass Rabbiner sich manches Mal nachts in die Tora vertieften:
«Preiset den Herrn, alle Diener des Herrn, die ihr in den Nächten im Hause des Herrn steht.» (Ps 134,1) «Was heißt: in den Nächten? Rabbi Jochanan erwiderte: Das sind die Schriftgelehrten, die sich nachts mit der Tora befassen. Die Schrift rechnet es ihnen an, als würden sie sich mit dem Opferdienst befassen.» (bMen 110a)
Die Situation könnte doch schlicht sein: Zwei Männer kommen am Abend zusammen und führen ein intensives Gespräch über die Grundfragen des Lebens und des Glaubens. Das gibt es doch auch noch heute. Vielleicht sogar hier auf unserem Kongress in Zürich! Und in der Tat sogar mit und auch unter Frauen! Abseits von aller Geschäftigkeit des Alltags gibt ein solcher Abend Raum für Dialoge, die tasten, fragen, nicht gleich alles unter Ergebnisdruck stellen. So verstehe ich dieses Gespräch, ein Ringen um Antworten im Glauben, die alle nicht leicht zu finden sind. Und es ist gut, wenn es solche Gespräche gibt. Allzu selten stellen wir uns diesen Glaubensfragen: Glaubst du an Auferstehung? Kann ich sagen, dass Jesus Christus für mich der Weg, die Wahrheit und das Leben ist? Was heißt Gottessohnschaft? Was bedeutet mir die Taufe? Und sind wir offen genug für Menschen wie Nikodemus, die interessiert sind, aber nicht gleich konvertieren oder sich bekennen? Ich denke, wir brauchen mehr Nikodemusnachtgespräche in unserer Zeit! |42|
Aber schauen wir uns den Dialog näher an, den Rudolf Bultmann übrigens in der Komposition bei Johannes als traditionelles Schulgespräch10 versteht:
Erst einmal stellt Nikodemus gar keine Frage, sondern erkennt Jesus als Lehrer im Glauben an. Wir befinden uns ja ganz am Anfang des Evangeliums. Johannes der Täufer hat erkannt, dass der Geist Gottes bei Jesus ist, und die Hochzeit zu Kana mit dem Weinwunder sowie die Tempelreinigung sind erste Zeichenhandlungen. Niemand kann solche Zeichen tun, wenn Gott nicht mit ihm ist, erkennt Nikodemus. Darauf reagiert Jesus mit seiner zentralen These: «Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.» (3, 3)
Das Reich Gottes kommt im Johannesevangelium nur in diesem Kontext vor, in Vers 3 und in Vers 5. In anderen synoptischen Evangelien wird es ja immer wieder mit dem Vergleich eingeführt, dass wir uns Kindern annähern müssen, um Zugang zu finden. So etwa Mk 10, 15: «Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes» oder auch Mt 18, 3: «Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.» Im Grunde ist das Johannesevangelium noch radikaler: nicht nur wie ein Kind werden, nein, neu geboren werden. Was kann das heißen?
Genau das fragt Nikodemus: «Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?» (Joh 3, 4) Das ist, finde ich, eine sehr angenehm realistische Frage! Kann denn ein alter Mann neu anfangen? Gibt es das wirklich, als alte Frauen alles hinter sich lassen, noch einmal zurück auf Los? Ich sehe solche Thesen mit wachsendem Unbehagen. Beim Hamburger Kirchentag im Mai dieses Jahres war ich auf einem Podium zur Zukunft des Alterns in Deutschland. Eine Wissenschaftlerin beschrieb, dass wir alle immer älter werden, ständig Neues lernen sollen, neue berufliche Wege einschlagen, uns neu orientieren… Ich habe tiefe Erschöpfung gefühlt. In unserer Gesellschaft sollen wir uns alle verjüngen, ob durch Botox oder Haarimplantate, neu aufbrechen sollen wir, mobil und flexibel sein. Vielleicht möchte ich aber gar nicht mehr ständig neu anfangen, sondern endlich mal Ruhe haben und alles lassen wie es ist? Da kann die Forderung, neu geboren zu werden, ja auch Stress auslösen! Oder ist etwas ganz anderes gemeint als der Jugendwahn unserer Zeit? |43| Ein Geburtsvorgang ist ein tiefgreifendes einmaliges Geschehen. Es geht doch Johannes viel mehr um eine Erfahrung von Neu-Werden, die das Leben neu orientiert. Nicht aus mir selbst, aus Gnade lebe ich, aus Gottes Lebenszusage und nicht aus meinen Leistungen definiere ich den Sinn meines Lebens, im Glauben finde ich Halt im Leben und im Sterben – sola gratia und sola fide, wie die Reformatoren es konzentriert ausgedrückt haben.
Was kann das aber heißen, aus dem Geist geboren? Erst wird vom Geist gesprochen, dann vom Wasser: «Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.» (3, 5)
O ja, jetzt kommen wir in diffiziles ökumenisches Minengelände! Da gibt es diejenigen, vor allem Baptisten, die sagen: erst der Geist, dann das Wasser – der Taufe! Für die Reformierten ist diese Frage nach Geistwirken besonders wichtig. So heißt die Frage 53 im Heidelberger Katechismus, dessen 450. Jubiläum wir 2013 feiern: «Was glaubst du vom Heiligen Geist?» Und die Antworten lauten:
Erstens:
Der Heilige Geist ist gleich ewiger Gott
mit dem Vater und dem Sohn.
Zweitens:
Er ist auch mir gegeben
und gibt mir durch wahren Glauben
Anteil an Christus
und allen seinen Wohltaten.
Er tröstet mich
und wird bei mir bleiben in Ewigkeit.
Für die Getauften ist der Heilige Geist in dieser Tradition also bleibender Beistand Gottes.
Aber ich bin Lutheranerin und frage mich natürlich: Warum hat der ökumenische Kongress gerade mir einen solchen Text vorgegeben?
Für Martin Luther wurde immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. «Baptizatus sum» – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden. |44|
Und: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst. Von da her hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution. Aus diesem Taufverständnis entwickelte sich durch die Jahrhunderte die Überzeugung, dass Frauen in der Tat jedes kirchliche Amt wahrnehmen können. Mir ist wichtig, die theologischen Hintergründe deutlich zu machen, gerade da, wo von anderen Kirchen die Ordination von Frauen in Pfarr- und Bischofsamt infrage gestellt wird. Es geht nicht um Zeitgeist, es geht um Theologie.
Das gilt auch mit Blick auf Rassismus. In Südafrika erzählte ein Missionar, dass viele weiße Farmer sich in der Zeit der Apartheid dagegen wehrten, dass ihre schwarzen Arbeiter getauft werden sollten. «Dann sind sie ja wie wir» – o ja, eine tiefe theologische Einsicht, denn genau so ist es! Die Taufe ist ein Zeichen gegen alle rassistischen, sexistischen und anderen Ausgrenzungen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche.
Zölibatäres Leben galt vor der Reformation als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die «etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: Die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens»11. Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt – da dürfen Protestanten auch sinnlich sein.
Und das finde ich in unserem Bibeltext für heute Morgen bestätigt. Im Johannesevangelium heißt es: «Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch: und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.» (Joh 3, 6) Das muss doch gerade kein Dualismus sein, auch wenn es in der Exegese oft so gesehen wird: sarx und pneuma! Natürlich sind wir als Menschen eingebunden in die Zusammenhänge unseres Lebens. Wir wären doch |45| verantwortungslos, würden wir alles abstreifen hier und jetzt um einer vermeintlich geistgewirkten Zukunft willen! Genau da mahnt Luther zu Verantwortung in der Welt mit seinem Begriff von Berufung als Beruf, den wir da ausüben, wo Gott uns hingestellt hat. Und doch wirkt die Frage nach der Geistgeburt wie ein Korrektiv: Gibt es nicht noch eine ganz andere Wirklichkeit Gottes? Eine, in der Gut, Ehr, Kind und Weib oder eben alles das, was wir besitzen, woran unser Herz hängt, völlig in den Hintergrund tritt? Oder wie Bultmann schreibt: Der Mensch kann wissen, «dass er eigentlich in das jenseitige Sein gehört und doch faktisch in das diesseitige geraten ist»12. Ich denke nicht, dass hier ein Entsagen der Welt angedeutet ist. Es wird vielmehr die Frage gestellt, in welchem Horizont ich mein Leben verstehe. Gehe ich auf in sarx, Fleisch, dem Weltlichen, oder weiß ich um die Realität Gottes, pneuma, das zwar viele, gerade heute in einem säkularisierten Zeitalter nicht wahrnehmen wollen, als «Opium des Volkes», Selbsttäuschung, ein Weglaufen vor den Realitäten ansehen. In welchem Licht begreife ich mein Leben? Darum geht es.
Wir wissen doch: Mit der Bibelstelle von heute Morgen haben wir manche Probleme als Kirchen in ökumenischer Gemeinschaft. Kann die Kindertaufe wirkmächtig sein, wenn Menschen nicht auch mit ihrem Verstand, mit bewusstem Ja zur Taufe stehen? Muss es dann nicht eine zweite Taufe als Erwachsener geben oder nur eine Erwachsenentaufe?
Schon zu reformatorischen Zeiten war das eine Auseinandersetzung. Die von den Gegnern sogenannten Anabaptisten oder Wiedertäufer wurden hart verfolgt von der «Mainline-Reformation». Ihnen lag an einer Gläubigen– bzw. Erwachsenentaufe, denn die Taufe setze ein persönliches Bekenntnis zu Jesus Christus voraus. Die Säuglingstaufe sei unbiblisch und damit ungültig, die Erwachsenentaufe also eine Ersttaufe.
Wir haben manche Differenzen überwunden. Bei seiner Vollversammlung in Stuttgart hat der Lutherische Weltbund am 22. Juli 2010 ein Schuldbekenntnis gegenüber den Mennoniten als geistlichen Erben der zur Reformationszeit brutal verfolgten Täuferbewegung (s. o.) abgelegt. In der Erklärung heißt es: «Im Vertrauen auf Gott, der in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte, bitten wir deshalb Gott und unsere mennonitischen Schwestern und Brüder um Vergebung für das Leiden, das unsere Vorfahren im 16. Jahrhundert den Täufern zugefügt haben, für das Vergessen oder Ignorieren dieser Verfolgung in den folgenden |46| Jahrhunderten und für alle unzutreffenden, irreführenden und verletzenden Darstellungen der Täufer und Mennoniten, die lutherische AutorInnen bis heute in wissenschaftlicher oder nichtwissenschaftlicher Form verbreitet haben.»13
Das war wichtig. Und heilsam. Im Jahr 2007 haben fast alle Kirchen in Deutschland ihre Taufe erstmals formell gegenseitig anerkannt und so ein gewichtiges Zeichen der Gemeinsamkeit gesetzt. Der römisch-katholische Bischof Feige sagte damals, die gegenseitige Anerkennung zeige, «dass mit der Taufe etwas gegeben ist, was getrennte Kirchen und Christen fundamental verbindet». Diese Rückbesinnung auf die Taufe schließt zwar leider noch nicht alle überall ein. Die Taufanerkennung kann aber ein gewichtiger ökumenischer Schritt sein. Ich erinnere mich gut daran, wie überlegt wurde, welches sichtbare Zeichen von Gemeinschaft denn beim Ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin 2003 gesetzt werden könnte. Es war am Ende im Schlussgottesdienst die Tauferinnerung. Protestanten und Katholiken und Christen anderer Konfession malten einander mit Taufwasser gegenseitig ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Mich hat das berührt.
Was aber ist die Geistgeburt? Unser Bibeltext heute Morgen ist eine deutliche Herausforderung. Alle Exegeten, bei denen ich nachgelesen habe, betonen, wie sorgfältig dieses Gespräch im Johannesevangelium aufgebaut ist. Johannes will Jesus schon hier, zu Beginn seines Wirkens als den erweisen, als der er erst nach der Auferstehung sich erschließt: der Menschensohn, der Messias, der Sohn Gottes. Johannes der Täufer hat nach diesem Evangelium gesehen, wie bei der Taufe der Geist Gottes als Taube zu Jesus kam. Im Reden und Wirken Jesu können Menschen Gott erkennen. Sie erfahren, wie Gott ist, wie ein liebender Vater, wie eine suchende Witwe, wie ein fürsorgender Weingartenbesitzer, wie Jesus, der alle an einen Tisch lädt.
Aber wie verhalten sich Geist und Taufe? Wirkt die Taufe die Anwesenheit des Geistes? Noch einmal Klaus Wengst: «Gottes Geist ist souverän. Sein Wirken kann von Menschen nicht festgelegt werden – auch nicht durch die Taufe.»14 Das stimmt gewiss, die Taufe domestiziert das Wirken des Geistes nicht. Manches Mal haben wir ja eher Angst vor zu viel Geistwirken. Das war schon bei den Reformatoren so, Luther eilte von |47| der Wartburg nach Wittenberg zurück, als allzu viel freier Geist zu wirken begann. Und auch Zwingli und Calvin legten Wert auf klare Ordnung statt viel freiem Geist.
Auch heute suchen wir die Balance zwischen notwendiger Ordnung und ebenso notwendiger Freiheit des Geistes. Eine Kirche als Institution kann da von viel Geist schon mal irritiert werden. Ich erinnere mich an den konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. In Westdeutschland wurde er von manchen als nervender Störfaktor gesehen. In Ostdeutschland führte er zu übervollen Kirchen, in denen politisch debattiert wurde – da fürchteten manche, es werde die Kirche beschädigen. Aber am Ende führte es zu einer friedlichen Revolution. Ich denke auch an die Schweiz; hier in Basel fand 1989 die Erste Europäische Ökumenische Versammlung statt und es war zu spüren: In den Kirchen Osteuropas gärt es, da will sich ein Geist der Freiheit Raum verschaffen. Das kennen auch unsere Partnerkirchen in den Ländern des Südens, etwa wenn angefragt wird, wie viel Patriarchat die Kirche verträgt, ob es zu viel Anpassung gibt an eine Diktatur, ob über Homosexualität überhaupt gesprochen werden darf.
Wie aber unterscheiden wir die Geister? Ist es purer Libertinismus oder Geist Gottes? Wirkt hier Gottes Ruach oder der Geist des Chaos? Ich denke, es gibt zwei Kriterien. Zunächst: Jesus Christus. Es heißt im Text: So muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben (3, 15). Es geht um den Glauben an Jesus, der einsteht für Gottes Wort in der Welt und bei dem aus genau diesem Grund der Tod nicht das letzte Wort hatte. Der Geist mag fröhlich brausen, aber Menschen, die sich auf den Geist berufen, müssen sich daran messen lassen, ob es um sie selbst geht, um selbst ernannte Ziele oder um Jesus Christus, der für diesen Geist steht.
Das zweite Kriterium ist der Aufbau der Gemeinde. Und hier finden wir auch den Zusammenhang zur Taufe. Ein letztes Mal Klaus Wengst: «Da die Taufe zugleich Aufnahmeritus in die Gemeinde ist, wird damit auch deutlich, dass der Geist nicht voneinander isolierte Individuen produziert, sondern dass die Geburt aus dem Geist in die Gemeinschaft der Gemeinde versetzt. Die Taufe mit Wasser ist daher gegenüber dem primären Wirken des Geistes als menschlicher Gehorsamsakt zu bestimmen, der diese Wirken als ein in die Gemeinde berufendes öffentlich und |48| verbindlich anerkennt.»15 Die Taufe nimmt uns hinein in eine Gemeinschaft. Und wo der Geist wirkt, will er diese Gemeinschaft aufbauen. Allzu oft beruft man sich auf die Freiheit des Geistes im Namen der Individualität. Nun ist Individualität für Protestanten nicht negativ besetzt. Aber wo sie zur Egomanie wird, die Gemeinschaft nicht mehr zählt, sondern nur die persönliche Grundüberzeugung, da wirken andere Geister. Ein Unterscheiden der Geister kennen wir doch auch bei anderen Institutionen. Denken wir an die Olympischen Spiele. Da soll der Geist von Sport und Völkerverständigung wirken und die Spiele verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn er sich nur als Geist von Doping und Geld entpuppt.
Unsere Kirchen werden sich immer wieder daran messen lassen müssen, ob das solus Christus der Reformatoren den Geist bestimmt. Und daran, ob sie der Gemeinschaft dienen. Für Protestanten gilt es, auch mit Blick auf das 500-jährige Jubiläum darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass der Geist der Spaltung sie so oft umweht hat. Das ist eine berechtigte Anfrage. Als ich im Juni in den USA war, hat mich noch einmal neu berührt, dass es dort 22 lutherische Kirchen gibt, die nicht alle Abendmahlsgemeinschaft haben. Was für ein Zeichen ist das?
Gott sei Dank gibt es auch eine 500-jährige Lerngeschichte der Reformation. Seit 40 Jahren haben wir mit der Leuenberger Konkordie eine Form von Kirchengemeinschaft in Europa gefunden, die Unterschiede respektiert, aber doch die gegenseitige Anerkennung als Kirchen und damit das gemeinsame Abendmahl möglich macht.
«Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.» (3, 5b) Vielleicht will Johannes vor allem sagen: Du musst dich auch öffnen für den Geist. Nikodemus verschwindet ja eigentümlich leise aus dieser Szene, der Dialog geht über in eine Offenbarungsrede Jesu. Ob das andeutet: Nikodemus kann sich nicht wirklich öffnen? Kann sich auf den Weg Jesu nicht einlassen? Bultmann sieht das Wort als «Mahnung – freilich nicht eine moralistische, sondern die Mahnung, sich selbst in Frage zu stellen»16. Es geht nicht um «Besserung des Menschen»17, sondern darum, dass der Mensch seinen Ursprung in Gott findet und begreift, dass er das Leben nicht im Griff hat. Das finde ich einen äußerst hilfreichen Gedanken. Heil lässt sich nicht |49| herstellen, nicht kaufen, sondern ist Gottesgeschenk, Gnade. Ich muss mich mit meinen Sicherheiten in Glaubens- und in Lebensfragen öffnen, mein ganzes Vertrauen auf Gott werfen, nicht auf all das, was so richtig und wichtig erscheint: Geld, Rechtgläubigkeit, Konformität.
Die Taufe ist ein Zeichen der Zugehörigkeit. Sich auf Gottes Geist einlassen ein Zeichen für Gottvertrauen. Das gilt im persönlichen Leben. Das gilt aber auch für Kirchen als Institutionen, die immer mal wieder ein Geistbrausen brauchen, wenn sie es sich allzu behaglich in der Welt eingerichtet haben. Ich denke an unsere Strukturen, aber auch an die Herausforderungen, in den Fragen der Gerechtigkeit, der Flüchtlinge, des Kriegs und der Waffengeschäfte, der Bedrohung der Zukunft dieser Erde mutige Worte und Taten zu wagen. Am Ende aber können wir uns als Getaufte in all unserem Ringen nur Gott anvertrauen, dem Wirken des Geistes Gottes, das wir immer wieder spüren dürfen.