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Das Erbe der Reformation
Оглавление1. Was bedeutet es heute, das Erbe der Reformation des 16. Jahrhunderts zu feiern? In den letzten Jahrzehnten haben viele Kommentatoren argumentiert, dass wir keine klare Vorstellung mehr davon haben, was es bedeutet, ein europäischer Protestant im «klassischen» Sinn zu sein. In Großbritannien bestehen nach Auffassung mehrerer Beobachter die Überreste der Volksreligion, sofern überhaupt vorhanden, in der mehrheitlich als typisch «katholisch» bezeichneten Religionsrichtung: Im Mittelpunkt stehen Rituale, heilige Stätten und der numinose Charakter der geliebten Verstorbenen (das dramatischste Beispiel ist die Reaktion auf den Tod von Prinzessin Diana). Ein verbreitetes britisches christliches Selbstverständnis, das auf der Bibel, dem Gebet im Kreis der Familie und der Papstfeindlichkeit (sowie einem gewissen Gefühl für die von der Vorhersehung bestimmte Rolle der Nation) gründet, ist endgültig verschwunden. Anderswo in Europa finden vergleichbare Entwicklungen statt. Während säkulare Beobachter die «katholische Soziallehre» als kohärente und erkennbare Präsenz in der allgemeinen Diskussion zum sozialen Wohlergehen und zur politischen Gerechtigkeit betrachten, findet die deutlich protestantische Stimme in der Sozialethik im weiteren kulturellen Kontext trotz vieler und hochstehender Beiträge aus Kirche und Universität kaum Gehör. Daher erstaunt es nicht, dass das Selbstverständnis der Protestanten und insbesondere der Reformierten in Europa und anderswo von einer gewissen Unsicherheit umgeben ist. Die «protestantische» Identität wird häufig mit der typisch amerikanischen Prägung von wörtlicher Bibelauslegung und Sozialkonservativismus in einen Topf geworfen und einem gleichermaßen typischen «liberalen Protestantismus» gegenübergestellt, der sich nicht um Dogmen kümmert und sich allgemein für fortschrittliche Belange engagiert. Dieser Hintergrund hilft nicht, die eigentliche Reformation zu verstehen, geschweige denn die Bedeutung der reformierten Theologie in den letzten hundert Jahren. Studenten stehen oft ratlos vor der Frage, wo sie Karl Barth auf einer theologischen Karte, die durch die einfachen Gegensatzpaare rechts-links und konservativ-liberal definiert ist, ansiedeln würden. |56|
2. Ich möchte in meinen kurzen Ausführungen den Beitrag einer erkennbar «protestantischen» Theologie zur christlichen Kultur generell untersuchen und dabei auf einige bleibend konstruktive Elemente sowie auch auf Faktoren mit eher gemischten Auswirkungen eingehen. Ich schreibe als Anglikaner, d. h. als Person, deren ekklesiale Identität durch die Zurückhaltung geprägt ist, die Kluft zwischen Protestanten und Katholiken nur als binären Gegensatz zu sehen, und die sich der Schlüsselrolle der reformierten Theologie für das Selbstverständnis der anglikanischen Kirche unbedingt bewusst ist. Ich erhielt meine geistliche Bildung im «katholischen» Flügel der anglikanischen Familie, wurde aber auch durch die Kindheit in der presbyterianischen walisischen Kirche und das stetige Interesse und den Enthusiasmus für verschiedene Strömungen der reformierten Tradition geprägt, für die Autoren wie Richard Baxter, Thomas Torrance und natürlich Karl Barth selbst stehen. Vor diesem persönlichen Hintergrund wage ich den Versuch, drei Themen der reformatorischen Theologie und Praxis zu behandeln, die nach meiner Auffassung von zentraler und dauerhafter Bedeutung für die theologische Gesundheit der christlichen Gemeinschaft sind. Außerdem möchte ich über drei weitere Themen nachdenken, die weniger offensichtlich fruchtbringend waren und die in der Tat zum Teil mitverantwortlich sind für die heutige kulturelle Trostlosigkeit und Verwirrung. Meine vorsichtige Schlussfolgerung lautet, dass man letzteren Themen nur mit einem theologisch fundierten Verständnis der ersteren entgegentreten kann, um letztlich eine positive, eigene und kreative Rolle für das Erbe der Reformation zu erkennen.
3. Bei den anscheinend positiven Themen handelt es sich um folgende: Erstens bekräftigte die Reformation die absolute Unterscheidung zwischen geschöpflichem und unendlichem Handeln; mit der ständigen Betonung der Souveränität Gottes wird auf die Wahrheit verwiesen, dass Gottes Handeln und unser Handeln weder im Wettbewerb miteinander noch in Zusammenarbeit stehen können. Zweitens begründete die Reformation das Prinzip, wonach die Schrift nicht nur als Quelle der wahren Lehre sowie zu deren Veranschaulichung diente, sondern auch eine kritische Präsenz in der Kirche war; die Schrift «mischte sich» in das Leben der Kirche «ein» und war nie nur ein Instrument derselben. Drittens bezweifelte die Reformation grundsätzlich, dass Gnadenmittel durch menschliche Vermittler «verabreicht» werden konnten, und bekräftigte, dass die Kirche keine Versammlung von Herrschern und Untertanen, sondern in erster Linie eines Volkes sei. |57|
4. Das ambivalente Erbe der Reformation lässt sich wie folgt zusammenfassen. Erstens verbündete sich die Betonung der souveränen Würde von Gottes Wort mit dem entstehenden Rationalismus und zeichnete so ein eindimensionales Bild der menschlichen Erkenntnis, in dem das Nonverbale als minderwertig galt. Zweitens leistete das Misstrauen gegenüber der Hierarchie einer halbherzigen Theologie der Kirche Vorschub; die Frömmigkeit und die Erkundungen des Einzelnen standen im Mittelpunkt, auf Kosten des Verständnisses der Gemeinschaft in Christus und im Geiste und einer intelligenten Aneignung der christlichen Vergangenheit. Drittens suggerierte die Hervorhebung der göttlichen Souveränität (gleichsam im Widerspruch zur eigentlichen theologischen Bedeutung) letztlich einen Gegensatz zwischen Menschlichem und Göttlichem, der durch die einfache Unterwerfung des erschaffenen Willens gelöst wurde: Die Emanzipation des Menschen, so dachte man, erfordert den Verzicht auf den theologischen Diskurs.
5. Zum ersten der drei Punkte: Der Fokus des Protestes der Reformation gegen die populäre Theologie und Praxis des späten Mittelalters lag auf einem Sprach- und Gewohnheitsmuster, das scheinbar davon ausging, ein versöhntes, gnadenerfülltes Leben lasse sich mit Gott «aushandeln.» Die Welt der Frömmigkeit wurde (nicht immer gerechterweise) als Weg für die Menschen gesehen, um bestimmte erschaffene Mittel, deren Auswirkungen Gott gewährleistete, dazu zu nutzen, die von Gott versprochenen Belohnungen zu erhalten. Obwohl Gott in diesem Rahmen als der prioritäre Handelnde anerkannt wird, entsteht unmittelbar der Eindruck einer «spirituellen Technologie», wobei Gott verpflichtet ist, die Konditionen, die er selbst festgelegt hat, einzuhalten. Der erschaffene Akteur weiß, wozu Gott «verpflichtet» ist – das ist der wunde Punkt: Gottes Handeln erscheint wie aus der gegenwärtigen Lage herausgelöst und wird zu einem abstrakten Rahmen, in dem das menschliche Handeln plant und das menschliche Schicksal zu kontrollieren versucht (nicht zuletzt durch die besonderen Arten von Kontrolle im Zusammenhang mit dem geweihten Amt, das die Verabreichung des Gnadenmittels kontrolliert). Das Ergebnis ist entweder eine selbstgefällige Reduktion des Lebens der Jüngerschaft auf die Befolgung des neuen «Gesetzes» oder, wie Luther entdeckte, eine zerstörerische Verzweiflung daran, der Gnade Gottes als unmittelbare Lebenswirklichkeit zu begegnen; in diesem Zustand herrscht eine Dissonanz zwischen dem, was die Kirchenbehörden verbindlich als wahr erklären, und dem persönlichen Empfinden von Schuld oder Verlassenheit. |58|
6. Luther setzt die göttliche Souveränität wieder ein, indem er sich an einen Gott wendet, der immer im Verborgenen ist; einen Gott, mit dem man nicht verhandeln kann und dessen Gegenwart man immer im Herzen seiner eigenen anscheinenden Abwesenheit findet und nicht dort, wo man seine Gegenwart gemäß einer systematischen Karte seiner Tätigkeiten vorhersagen kann. Die Theologie ergibt nur dann Sinn, wenn das wiedergefunden wird, was seit je ein Grundprinzip der katholischen Theologie bildete, aber immer wieder verdeckt wurde: das Prinzip, dass Gottes Handeln und endliches Handeln nicht zwei Beispiele ein- und desselben sind; sie können nicht miteinander wetteifern und sie können nicht wie im Wettstreit um ein einziges umstrittenes Gebiet gesehen werden. Dieses Prinzip durchzieht die theologische Welt von Thomas von Aquin (es ist in sehr interessanter Weise besonders in seiner Christologie am Werke). Der Protest der Reformation beharrt jedoch darauf, dass es auf jeder Ebene der Theologie und Praxis angewandt werden muss. Theologische Idiome oder Gebetsgewohnheiten, die davon ausgehen, dass Gott auf die Initiative des Menschen reagiert, sind vom echt theologischen Diskurs auszuschließen, weil Gottes Handeln in keiner Weise durch menschliches Handeln bedingt ist. In der von Calvin vertretenen Prädestinationstheologie – die umstritten, ja schockierend ist – geht es im Wesentlichen um diese grundlegende Unvergleichbarkeit des erschaffenen und des nicht erschaffenen Akts: zeitliche Abfolge, logische Konsequenz, moralische Angemessenheit – all dies sind ein fatal falscher Rahmen für Überlegungen über das Verhältnis von Gott zur Schöpfung. Paradoxerweise impliziert dies – dem calvinistischen Gedankengut nicht so fremd, wie einige glauben –, dass die Würde des Menschen durch die Erhabenheit Gottes nie bedroht werden kann, so wie auch die Erhabenheit durch die Affirmation konkreter Menschenrechte nicht bedroht werden kann, weil das Endliche und das Unendliche gar nicht miteinander konkurrieren. Der Grundsatz der Reformation, die bedingungslose Souveränität Gottes, sollte uns vor Angst und Groll gegenüber Gott befreien und eine solide Theologie der menschlichen Berufung und der Freiheit im sozialen/politischen Bereich zulassen.
7. Dies hängt mit dem zweiten positiven Argument zusammen. Wenn die Schrift «Gottes geschriebenes Wort» ist, dann ist sie eine Trägerin desselben bedingungslosen göttlichen Handelns. Die Schrift ist kein vom Menschen zu entdeckendes passives Instrument, das Wahrheiten äußert, die in ein ordentliches Schema von Konzepten gegossen werden können (aus diesem Grund bildet der Fundamentalismus im Wesentlichen eine |59| Antithese zur echten reformierten Theologie); die Schrift lebt und wirkt, ein Feld voller Erinnerungen, Lieder und Maximen, in dem der menschliche Diskurs jederzeit in greifbarer Weise zum Träger einer verbindlichen Kommunikation werden kann und zur Jüngerschaft ermahnt. Dies bedeutet, dass die Schrift in der Kirche immer eine entscheidende Präsenz darstellt. Obwohl manche reformierte Theologen dies so auslegen, dass die Schrift eine genaue Verfassung für die Kirche bildet – was dort nicht vorgeschrieben ist, ist implizit verboten (die Auffassung einiger englischer Calvinisten im 16. und 17. Jahrhundert) –, vertieften die meisten reformierten Denker des Mainstreams das Argument anders. Der Grundsatz, wonach alles im Leben der Kirche daran zu messen ist, ob es der Verkündigung des Evangeliums von Gottes freier Wahl und Gnade dient, ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Schrift ein umfassendes Rechtsbuch für die Kirche darstellt. Die Schrift kann jedoch nie als einfaches Instrument für die Zwecke der Kirche oder als Quelle von Dokumenten zur Veranschaulichung der kirchlichen Lehre gesehen werden. Sie muss als Anfrage von außerhalb des kirchlichen Lebens gehört werden, obwohl die Schrift selbst in das Leben der Kirche eingebunden ist und nicht in einem luftleeren Raum existiert. Sie bleibt ein Buch, das von der Kirche gelesen wird; doch sie wird von der Kirche gelesen, damit die Kirche hören kann, was sie sonst nicht hören würde.
8. Im Leben der Kirche – und besonders im Gottesdienst der Kirche – werden wir in Frage gestellt. Wir werden zu aufmerksamem Schweigen geführt, zu Lob und Bestätigung; das Lesen und Hören der Schrift ist eine primäre Verkörperung dieser Dimension. Beim Zuhören vernehmen wir nicht automatisch die genaue Äußerung von Gottes Willen; wie bereits festgestellt können wir die Handlungsmacht Gottes keineswegs als automatisch vorhersehbar betrachten. Wir hören aber in der Erwartung zu, einer mehr christusgleichen Art des Seins gewandelt zu werden. Manchmal geschieht dies in einer Weise, die wir sehen und verstehen können. Meistens hingegen geschieht es in einer Weise, die nicht sofort wahrnehmbar ist. Die Disziplin des erwartungsvollen Zuhörens bedeutet aber, dass wir uns immer fragen müssen, was wir Neues über unsere Jüngerschaft lernen sollten. Dabei geht es nicht darum, sich neue Auslegungen von bekannten Texten zurechtzulegen oder radikal neue Doktrinen zu erarbeiten: Es gibt bereits einen Rahmen für die Lehre und Praxis, nämlich die gemeinsame Identität der in Christus Getauften, die allen unseren Handlungen im Gebet Bedeutung verleiht; ohne sie wäre unser Tun sinnlos. Aber innerhalb dieses Rahmens streben wir ständig nach |60| Unterweisung und Vertiefung beim Lesen, beim Dienst und beim Zeugnis. Die bezeichnende Form des Gottesdienstes kann genau die Einstellung des erwartungsvollen Zuhörens, verbunden mit unaufhörlichen Zeichen von Dankbarkeit für das, was wir gehört haben und was uns geschenkt wurde, sein.
9. Der oft missverstandene reformatorische Grundsatz der offenen Bibel und der allen zugänglichen Schrift bildete vor dem damaligen Hintergrund einen Protest gegen die Behörden, die weder der Gesellschaft als Ganzes noch der vorausgehenden Wirklichkeit von Gottes Kommunikation in der Schrift Rechenschaft schuldeten. Dieser Grundsatz war nicht als Freibrief für unbegrenzte individuelle Auslegungen gedacht, sondern sollte das Leben der Kirche für einen gemeinsamen Prozess des Lesens und Erkennens öffnen, in dem alle Getauften mitsprechen durften. Christi Gnade wurde nicht von einer Priesterkaste an den Leib der Gläubigen weitergegeben; die Priesterweihe bildete in der Kirche ein feierliches, lebenslanges Amt und die Zusicherung ihrer Kontinuität eine ernsthafte Angelegenheit, jedoch keine Einführung in eine regierende Elite. Mit der klassischen calvinistischen Unterscheidung zwischen regierenden und lehrenden Kirchenvätern sollten diesbezügliche Bedenken aufgegriffen werden. Obwohl der lehrende Priester häufig bald genauso autoritär wurde wie das System, das er ersetzt hatte, bildete das Ideal des «dialogorientierten» Leseprozesses, bei dem alle gleich verantwortlich waren, eine zutiefst theologisch motivierte Anstrengung, um dem Grundsatz der Würde aller Getauften Ausdruck zu verleihen. Eine «offene» Bibel gibt der Gemeinde eine gemeinsame Sprache; alle haben das Recht in dieser Sprache zu sprechen und es ist nicht mehr vertretbar, den Zugang zur gemeinsamen Welt zu begrenzen, um die Macht einer regierenden Klasse zu festigen. Darin steckt ein solider Kern von klassischem Republikanismus (ironischer Weise erkennen wir hier einige politische Gedanken von Thomas von Aquin). Der Erfolg dieser Gedanken in der Geschichte verschiedener Nationen überrascht daher wenig. Dies ist aber weder als Anarchie der Liebe noch als Demokratie, wie wir sie heute deuten, zu verstehen. Es konnte das Streben nach einer realen Theokratie genauso beinhalten wie Ideale der (vielleicht gewerkschaftlichen) Mitbestimmung, Diskussion und Entscheidung. Der springende Punkt ist, dass der universale Zugang zu einer gemeinsamen, maßgebend kulturellen Ressource in Schriftform grundsätzlich der Gründung einer theologischen Konversation gleichkam, in der alle verantwortlich waren und die keine Stimmen |61| von vornherein ausschloss. Die von der Reformation nicht immer erfolgreich bewältigte Herausforderung bestand darin, einen Konsens zu finden, der maßgeblich bleiben würde.
10. Im Sinne dieser Ausführungen ist das positive Erbe der Reformation eng mit der Idee einer (säkularen und kirchlichen) Gesellschaft verbunden, die sich selbst hinterfragt und die auf die vorausgehende Bekräftigung von Gottes Handeln vertraut, so dass Angst und Konkurrenzkampf entfallen; die geeint ist in einem gemeinsamen Gespräch zur Erzählung der Schrift; und die wachsam und aufmerksam für die Möglichkeit neuer Einsichten und Herausforderungen vor diesem Hintergrund ist. Dies ist nicht einfach identisch mit der sogenannten «modernen» Gesellschaft, geschweige denn mit der «aufgeklärten» Gesellschaft, obwohl es letztere sonst nicht geben würde. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die Moderne die Autonomie besonders begünstigt, so dass Gottes Souveränität (trotz der wichtigen Klarstellungen der Reformation) als Gefahr für die menschliche Würde bzw. die Sprache der Rechenschaft gleichermaßen als Gefahr für die individuelle Freiheit gesehen werden. Die reformatorische Vorstellung vom menschlichen Gedeihen beinhaltet Gehorsam: Die tiefsten Freiheiten hängen also mit der Unterwerfung zusammen, sich von einer Realität, einer Wahrheit, die über unsere individuellen Pläne hinausgeht, hinterfragen zu lassen.
11. Die Moderne erscheint in diesem Lichte als systematisches Missverständnis des Bildes der Reformation. Was oben als zwiespältige Aspekte des Erbes der Reformation bezeichnet wurde, sind im Grunde Umkehrungen der grundlegenden theologischen Prinzipien der Reformation des 16. Jahrhunderts, die vieles, was die Bewegung hinwegzufegen suchte, wieder einführten. Ein bestimmtes Rationalitätsmodell galt als allerwichtigst und normativ; darin zeigte sich ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Wissensansprüchen, die sich nicht mit der Argumentation erwachsener Menschen verteidigen lassen. Die Denker der Reformation beharrten gegenüber der Mystifizierung und Manipulation darauf, dass Gott sich in einer allen zugänglichen Weise mitteilte. Sofern Symbole verwendet wurden, dienten sie hauptsächlich zur Verdeutlichung von Dingen, die in anderer Weise klarer – wenn auch vielleicht weniger anschaulich – dargestellt werden konnten. Trotz Luthers ausgeklügelter Theologie zur Dialektik zwischen dem Verborgenen und dem Offenbarten im Wirken Gottes an uns tendierte das protestantische Denken zunehmend zur Annahme, dass wahres Wissen zwangsläufig eine Frage von klarer verbaler Kommunikation sei. Dies war schwer mit |62| dem Verständnis des «unausgesprochenen» Erkennens zu vereinbaren, wie Denker jüngeren Datums es nannten, bzw. mit den materiellen Dimensionen des Erkennens (z. B. der Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen, ein Instrument zu spielen, auf einem Pferd zu reiten, aus Zeichen am Himmel das Wetter vorherzusehen) – ganz zu schweigen von Codes in Gesten, Zeichen und vor allem visuellen Bildern, die das übermitteln, was nicht effizient oder ausreichend in Sprache codiert werden kann. Wörter sollten für alles ausreichen; die Reformation legte deshalb – wie Torrance und andere es festhalten – einen deutlichen Akzent auf das Hören gegenüber dem Sehen als Paradigma des Erkennens.
12. Letztlich kam es zu einer Polarisierung zwischen den verschiedenen Beschreibungen des menschlichen Erkennens. Entweder wissen wir, weil wir in der Schrift die einfachen Aussagen der göttlichen Wahrheit hören/lesen, oder wir lesen aus der Natur und Umwelt alles heraus, was wir wissen müssen, und ignorieren Wissensansprüche, die bestimmten Prozessen der Erkenntnisgewinnung widersprechen. Wir geraten in eine sinnlose und törichte Pattsituation zwischen «Wissenschaft» und «Religion», die in unserer Kultur immer noch in vielen Köpfen vorherrscht. Um zu einer gesamtheitlichen Sicht des Erkennens zurückzufinden, müssen wir wie bereits angedeutet die besten Erkenntnisse der Reformation gegen ihre eigenen Verzerrungen stellen.
13. Luthers Revolution des theologischen Denkens implizierte, dass keine Umstände der Welt eine offensichtliche Bedeutung besaßen, die als Instrument der menschlichen Macht ergriffen und eingesetzt werden konnte. Um die Verborgenheit Gottes im gekreuzigten Christus zu verstehen, mussten wir vor dem potenziellen Abgrund der Bedeutungslosigkeit zum Schweigen gebracht und kleingemacht werden, damit wir letztlich frei wurden, Gottes Gabe anzunehmen, ohne auf unsere eigenen anmaßenden Vorhaben, Bedürfnisse und Ehrgeiz zu zählen. Die Klarheit der Wörter allein ändert nichts an der Notwendigkeit dieser Enteignung; je mehr wir uns von einer Sprache abwenden, die den Anspruch hat, die Welt umfassend abzubilden und in ein schlüssiges Erklärungssystem einzufügen, desto mehr erkennen wir, dass unser Lernen als Menschen an die Fähigkeit geknüpft ist, bewusst oder unbewusst auf Zeichen und Signale zu reagieren. Unsere Argumentation muss der für das Thema geeigneten Methode folgen; sie muss davon geprägt sein und soll etwas vom Leben dieses Themas «mitteilen.» Ohne dabei die spätmittelalterliche Besessenheit vom symbolischen Lesen von Texten und Welt wiederzuerwecken, kehren wir zu einer Sensibilität für die Kommunikation |63| zurück, die nicht einfach verbal ist, bzw. wenn sie verbal ist, mit Ironie und Umwegen arbeitet (sehr klar in der protestantischen Poetik von Fulke Greville oder George Herbert im 16. und 17. Jahrhundert).
14. Die Schwäche des Nachdenkens über die Kirche, die ich als weiteres zwiespältiges Erbe der Reformation beschrieben habe, geht auf die komplexe Verzerrung des Begriffs der «unsichtbaren» Kirche zurück. Einmal mehr: Was ursprünglich als Argument zur Betonung der Verborgenheit von Gottes Handeln und damit dessen uneingeschränkter Freiheit und Transzendenz erarbeitet wurde, entwickelte sich im populären Protestantismus zu einer starren Skepsis gegenüber Doktrinen, wonach die christliche Gemeinde für die Formung der christlichen Identität notwendig ist. Die Unklarheit der Grenzen der Kirche, die Wahrheit, die der junge Calvin äußerte, als er «halb begrabene Kirchen» wahrnahm, der Widerstand dagegen, die institutionelle Zugehörigkeit zum Träger einer beinahe automatischen Gnade zu machen: All dies weckte bei vielen das unbestimmte Gefühl, dass das christliche Selbstverständnis nichts sichtbar Gemeinschaftliches aufweisen müsse. Auch hier helfen uns die Grundsätze der Reformation selbst, der Verzerrung zu entgehen – vor allem die offene Bibel als Bereich der gemeinsamen Sprache. Der Einzelne, der sich in die private Frömmigkeit flüchtet (in einer Weise, die Calvin und Luther schockiert hätte), hat noch nicht begriffen, dass eine innere Lebenswelt abseits des geteilten Erkennens und Prüfens von Gottes Willen genau jenen Rückzug des menschlichen Geistes auf sich selbst darstellt, der die Sündenherrschaft festigt. Zu betonen, dass die Fülle der Gnade beim Abendmahlsteilnehmer vom Glauben des Kommunikanten abhängt, ist eine verständliche Reaktion auf den mechanischen Ansatz ohne die Gnade, womit Gottes Gegenwart automatisch gewährleistet wurde; doch die populäre Frömmigkeit deutete dies rasch so, dass die äußere Form einen rein praktischen Weg zur Verstärkung der geistigen Lektion bildet und keinen gemeinschaftlichen objektiven Akt, Gott eindringlich zu bitten, durch das tatsächliche Wirken des Geistes von sich selbst und von seinem Werk in Christus Zeugnis abzulegen. Der Glaube an die bedingungslose Hoheit der Gnade bedeutet nicht, dass wir die Gnade eher in unseren privaten Erfahrungen als Einzelne am Werk sehen müssen als anderswo, ganz im Gegenteil. Der Glaube relativiert private Erfahrungen genauso maßgeblich, wie er gemeinsame Erfahrungen relativiert. Unser gemeinsames Gebet führt uns hin zur bleibenden Wirklichkeit der Schrift und des Sakraments als objektive Zeugen von Gottes |64| Handeln, unabhängig von unserer subjektiven Befindlichkeit oder unseren Bestrebungen.
15. Wie die richtig verstandene reformatorische Theologie die Polarität zwischen Gemeinde und Einzelnen mit dem Hinweis auflöst, dass Gott beiden gegenüber frei handelt, so löst sie auch das quälende und hartnäckige Gefühl von Rivalität zwischen Gott und der Schöpfung auf – eine Rivalität, die wie oben festgestellt viele zur Annahme führt, dass Gott zu entthronen sei, damit die Menschheit frei werde. Gottes Souveränität ist nicht nur eine überhöhte Art der menschlichen Macht. Wenn wir dies begreifen, erkennen wir allmählich die radikalen Implikationen der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes und der Absicht Gottes, dem Menschen über Jesus Anteil am göttlichen Leben zu verleihen. Wie Calvin richtig erkannte, ist diese Einsicht für reformatorischeTheologie nur dann störend, wenn die Würde oder das Gedeihen der Menschen für Gott bedrohlich sein kann, was ex hypothesi undenkbar ist. Die kompromisslose Betonung der absoluten Differenz von Gottes Macht sollte zu einer verstärkten theologischen Bekräftigung der menschlichen Würde führen: Kein Tribut, der der endlichen Menschheit gezollt wird, tut dem, was Gott geschuldet wird, in irgendeiner Weise Abbruch. Götzendienst bedeutet, der Schöpfung das zuzuschreiben, was allein Gott gehört, d. h. Geschöpfe mehr denn nur als Geschöpfe zu behandeln. Die wahre christliche Herausforderung besteht darin, die Menschheit für das zu lieben und zu verehren, was sie ist – sterblich und verletzlich und doch unermesslich glorreich, weil Gott sie als Ort der göttlichen Offenbarung und Wirkung geschaffen hat. Um die Brücke zu den oben behandelten Themen zu schlagen: Unsere Fähigkeit zu radikaler Selbstbefragung als Individuen und als Gesellschaft wird durch diese grundlegende Überzeugung möglich, dass unsere sterbliche und fehlbare conditio humana in ihrer Zerbrechlichkeit von Gott, der das Menschsein erlöst und umwandelt, aber nie aufhebt, bestätigt wird. Mit andern Worten: Wir können alles an unserem Menschsein in Frage stellen – seine genauen Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen – und wir können die gefallene Natur mit fast schon ätzendem Pessimismus betrachten, aber wir können nicht an der Würde zweifeln, die Gott uns ohne Bedingungen verliehen hat – ein Gott, der nicht eifersüchtig ist auf unser Menschsein, weil das göttliche Leben nicht denselben Raum bewohnt wie wir.
16. Dass die reformatorische Theologie es vermochte, diese Aussage zu formulieren, verleiht ihr in den heutigen kulturellen Kämpfen Bedeutung. Christliche Hoffnung zu verkünden bedeutet keineswegs, die |65| Fähigkeiten oder den Charakter des Menschen optimistisch zu schildern; die theologische Perspektive erlaubt uns, das Schlimmste zu befürchten (genauso wie in der populären Assoziation der Denkweise von Augustinus und von Calvin), aber sie erlaubt uns nicht, geringer von unserem Menschsein zu denken, als der Schöpfer es tut. Indem sie uns die Sprache und die Welt der Schrift als das Haus vorschlägt, das wir gemeinsam bewohnen, und als den Dialekt, den wir sprechen, vermittelt sie uns, dass wir eine Richtung und sogar eine Transformation finden könnten, wenn wir die Geschichte von Gottes Umgang mit einem Volk, mit dem er einen Bund abschließt, zu unser eigenen machen. Wer von christlicher Hoffnung spricht, spricht von der Treue Gottes; unsere gesellschaftliche Vision beruht auf dem Glauben an einen Gott, der aus freien Stücken verspricht, der Gott jener zu sein, die seine Liebe weder verdient noch erzwungen haben. Die radikale Andersheit der göttlichen Liebe und Hingabe und demzufolge die nicht reduzierbare, geheimnisvolle Tragweite von Gottes Wahl beinhalten eine systematische Verehrung der Menschen, unabhängig von ihrem Status, von Leistung oder ethischem Verhalten. Alle gehören potenziell zur Geschichte der unvorhersehbaren göttlichen Treue und zur Geschichte der Schrift, in der wir gemeinsamen Boden finden.
17. Dieses Erbe fordert verschiedene negative Kräfte heraus. Es legt Gewicht auf ein Reifwerden, das mit dem Sich-selbst-Infragestellen umgehen kann, und stellt so die Publikums- und Medienkultur infrage, bei der die Verwaltung der persönlichen Bilder im Vordergrund steht. Ein offener, ehrlicher Austausch in der persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzung ist dafür wesentlich. Dazu muss grundsätzlich die Bereitschaft bestehen, die eigenen Träume, unangreifbar im Recht zu sein, zum Schweigen zu bringen. Angesichts der vagen Spiritualität, die leicht in tröstliche und sentimentale «Innerlichkeit» umschlägt, ist die öffentliche und persönliche spirituelle Praxis notwendig, um aufmerksam und genau zuzuhören und für das bereit zu sein, was dem faulen Ich nicht angenehm ist – altmodisch gesagt, um auf die «Stimme Gottes» zu hören. Im Unterschied zum allgemeinen Widerwillen, in mehr als lokalen oder kommunalen Erzählungen zu denken, bietet dieser Ansatz eine universale Erzählung der göttlichen Gnade und Wahl, die sich auf einzigartige Weise in der Schrift niederschlägt und sich auf Ereignisse konzentriert, in denen das echte Bild des Menschseins im gekreuzigten und auferstandenen Christus wiederhergestellt wird. Calvin selbst weist den Gedanken von sich, dass unsere Rettung nur in einer formalen, äußerlichen und mechanischen Beziehung zu einem Christus steht, der uns für |66| gerecht erklärt hat, aber keinen echten Wandel in uns bewirkt: «Er teilt mit uns sein Leben und alle Segen, die er vom Vater erhalten hat.» (Bibelkommentar zu Joh 17, 21).
18. Entgegen der angstvollen fundamentalistischen Religion bekräftigt die reformatorische Tradition einen Gott, der von unseren Bemühungen und Erfolgen weder überzeugt werden kann noch muss: Die Sprache unseres Glaubens und besonders unseres Gebets wird bestimmt von der Dankbarkeit für die unverdiente, grundlose Liebe und Vergebung und von der Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er Gott ist. Entgegen auch einem rebellischen oder missgünstigen Atheismus, der fremder und zwingender Macht gegenüber misstrauisch ist, präsentiert die Reformation einen Gott, der kein Interesse daran hat, seine Geschöpfe herabzusetzen und dessen uneingeschränkte souveräne Freiheit so weit geht, dass er diese Geschöpfe keineswegs schikanieren oder nötigen muss; Gottes freier Wille ist ein Wille der Vergebung, der Heilung und der Weitergabe der göttlichen Liebe und Wonne an die Schöpfung.
19. Hier zeichnen sich die Umrisse einer Theologie ab, die eine anspruchsvolle spirituelle Disziplin voraussetzt, einen nüchternen und bedachten Gebetsstil, eine Freiheit, die eigene Integrität ständig und ohne Panik prüfenden Blicken auszusetzen und dasselbe für die Gemeinde und ihre Einrichtungen zu tun, ein christozentrisches Verständnis der menschlichen Geschichte und eine radikale politische Vision, die Ungleichheiten und willkürliche Herrschaft jeder Art infrage stellt. Kurz: Die Leitthemen der wirklichen reformatorischen Theologie stellten nicht nur die radikalsten Ideen und Gedanken der Kirchenväter wieder her; sie bieten auch eine ebenso starre und profunde Hilfe zum Umgang mit den heutigen gesellschaftlichen Krisen an wie die Tradition der katholischen Soziallehre – nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Auffassungen, wobei der Beitrag der reformatorischen Tradition vor allem in der Betonnung der unvergleichlichen Souveränität Gottes liegt, die uns von der moralischen Beurteilung von Verdiensten befreit und uns einlädt, in unseren Taten und Beziehungen die «grundlose» Treue zum Liebesversprechen, das zu Gott gehört, zu widerzuspiegeln.
20. Die größten Theologen der Reformation waren keine Zeloten, die die Geschichte und die Symbole aus der christlichen Gesinnung löschen wollten, noch waren sie Individualisten, die sich der Autonomie ihres Gewissens verpflichtet hätten, noch Theokraten, die der ganzen menschlichen Gesellschaft eine unveränderte Version des mosaischen Gesetzes aufzwingen wollten, noch Rationalisten, die, von Wörtern besessen, |67| Schweigen und Zeichen hintanstellten, noch biblische Literalisten mit einem mechanischen Inspirationsmodell. Versehen der Geschichte brachten das reformatorische Christentum jedoch in unterschiedlichen Zusammenhängen mit all diesen Kreisen in Verbindung; natürlich gibt es bei Luther, Calvin, Melanchthon oder Zwingli Elemente, die solche Gedanken fördern könnten. Die gängige Vorstellung vom Protestantismus im Westen wird immer noch stark von solchen Klischees beherrscht. Doch um die Wesensmerkmale und den Wert des Erbes der Reformation für die Gegenwart zu formulieren, müssen wir sie aus den grundlegenden Erkenntnissen und Fragestellungen der Reformatoren lösen.
In meinem bescheidenen Beitrag zu diesem Unterfangen habe ich versucht, darauf hinzuweisen, wo wir meiner Meinung nach die Schwerpunkte setzten sollten. Hilfreich und ermutigend war für mich eine Denkströmung in jüngeren Arbeiten zu Calvin, die ihn als humanistischen Gelehrten betrachten, der Erkenntnisse aus den ersten Jahrhunderten des Christentums zu gewinnen versucht und einen neuen Fokus auf die eucharistische Transformation des Gläubigen und der Gemeinde anbietet; kein Logiker, der die allmächtige Freiheit Gottes auf Kosten der Vernunft und der menschlichen Würde etablieren will. Calvin birgt in sich eindeutig ein «tragisches» Element, das besonders in seiner Betonung der gründlichen Verderbtheit der gefallenen Menschen und der (daraus folgenden) Willkür der Prädestination sichtbar wird. Calvin und weitgehend auch die calvinistische Tradition tun sich damit genauso schwer wie Augustinus. Allerdings handelt es sich nur um eine Nebenströmumg seines Denkens, die wir relativieren sollten. Am bedeutsamsten ist die umfassende Erforschung der Leitmotive der erneuerten Theologie, die der menschlichen Reife derart große – politische und psychologische – Freiheit einräumt und gleichzeitig die menschliche Fähigkeit in einem schonungslos realistischen Rahmen behält. Ein christlicher Glaube, der vom Gläubigen keinerlei Bevormundung verlangt, ist wohl das wichtigste Streben der Reformation des 16. Jahrhunderts; dieses Bestreben ist heute gebotener denn je, wenn der christliche Glaube überzeugen, gewinnen und bekehren soll.