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5. Allein die Schrift
ОглавлениеNach klassischer reformatorischer Lehre ist allein die Schrift Quelle und Maßstab christlichen Glaubens, christlicher Lehre und christlichen Lebens. Man beruft sich dafür auf Luthers Formel sola scriptura, die freilich nicht für sich steht, sondern in das Geviert der sich wechselseitig erläuternden Exklusivpartikel gehört: Sola scriptura – solus Christus – sola gratia – sola fide.39 Allein die Schrift ist Quelle und Maßstab des Glaubens, weil und sofern sie Christus bezeugt, der allein die Quelle des Heils ist, nämlich des den Sünder freisprechenden Evangeliums. Die Rechtfertigung des Sünders erfolgt um Christi willen allein aus Gnaden – und zwar |79| allein durch den Glauben an das Evangelium, wie es eben von der Schrift bezeugt wird.
Gemäß der lutherischen Konkordienformel von 1577 «bleibt allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein»40. Ähnlich formulieren die reformierten Bekenntnisschriften.41 Abgesehen davon, dass die Konkordienformel das reformatorische Schriftprinzip im Vergleich mit Luther auf seine kriteriologische Funktion reduziert, hat dieses sowohl im Luthertum als auch in den reformierten Kirchen eine antikatholische – oder sagen wir besser: eine antirömische – Stoßrichtung. Nicht die kirchliche Tradition und nicht das Lehramt, sondern allein die Schrift ist die maßgebliche Norm für Theologie und Verkündigung.
«Die» Bibel, «die» Schrift, auf welche das reformatorische sola scriptura pocht, ist freilich ein Kanon mit antikatholischer Stoßrichtung, den man kanongeschichtlich als Hybrid bezeichnen muss. Zwar berufen sich die Reformatoren im Sinne der humanistischen Parole ad fontes! auf den vermeintlichen Urtext des Alten und des Neuen Testaments. Im Zuge dessen wird auch die Biblia Hebraica der Septuaginta vorgezogen, auf welcher das Alte Testament der Vulgata fußt. Sie betonen die Vorgegebenheit, die Externität und unumstößliche Autorität des göttlichen Wortes. In Wahrheit haben sie jedoch keinen vorgefundenen Kanon benutzt, sondern «einen hybriden Kanon geschaffen, also einen Kanon, den es vorher noch nie gegeben hat und seitdem auch nur in nationalen Übersetzungen gibt».42
Die Schrift, auf welche sich die reformatorischen Kirchen berufen, ist streng genommen nicht der Ausgangspunkt, sondern das Produkt der Reformation, nämlich ein aus hebräischem Umfang und griechischer Struktur gemischter, jedoch in einer dritten Sprache – sei es Deutsch43, |80| Englisch oder sonst eine lebende Sprache – dargebotener Kanon. Ähnlich wie im Fall der Septuaginta ist also auch hier die Übersetzung das Original.
Das beschriebene Wechselverhältnis von Kanon, Übersetzung und konfessioneller Identität muss evangelischerseits als Anfrage an das reformatorische Schriftprinzip ernstgenommen werden.44 Abgesehen davon, dass der protestantische Hybridkanon nur in Übersetzungen vorliegt, gibt es ja eine Vielzahl von deutschen, englischen oder sonstigen fremdsprachigen Übersetzungen, wobei nochmals zwischen Privatübersetzungen, Leseausgaben und wissenschaftlichen Übersetzungen sowie kirchlich approbierten, d. h. für den gottesdienstlichen Gebrauch zugelassenen, Übersetzungen zu unterscheiden ist. Vor dem Akt des Lesens steht die Auswahl der Übersetzung, in welcher man die Bibel lesen möchte. Mindestens insofern gilt, dass nicht nur der Sinn eines einzelnen Textes, sondern die Bibel als Makrotext im Akt der Rezeption je und je neu entsteht.
Hat sich damit das reformatorische Schriftprinzip, dessen Krise seit den Anfängen der historisch-kritischen Exegese konstatiert wird, endgültig erledigt?45 Bleibt es bei seiner Dekonstruktion?46 Oder besteht die Möglichkeit einer rezeptionsästhetischen Rekonstruktion, die nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch theologisch überzeugt? Lässt sich dementsprechend auch die Lehre von der Inspiration der Heiligen Schrift in ihrem reformatorischen Verständnis neu erschließen, ohne den altprotestantischen Selbsttäuschungen zu erliegen? |81|
Die Einheit der Schrift lässt sich jedenfalls weder formal im Sinn einer Kanonliste – von denen es bis heute mehrere gibt – noch durch die lehramtliche Dogmatisierung eines Sinnbestandes bestimmen. Sie entsteht vielmehr immer wieder neu durch fortgesetzte Lektüre. Dabei ist zwischen der äußeren und der inneren Einheit des Kanons zu unterscheiden.
Gleichwohl behauptet die reformatorische Tradition, dass der Kanon nicht das Produkt der Kirche, die Kirche also nicht das Subjekt der Kanonbildung ist. Nur unter dieser Prämisse macht das reformatorische Schriftprinzip, das sola scriptura, wonach die Heilige Schrift allein Quelle des Glaubens und jedes kirchliche Auslegungsprivileg zurückzuweisen ist, Sinn. Inwiefern aber ist diese Behauptung unter den Bedingungen des modernen Geschichtsbewusstseins und der historisch-kritischen Forschung plausibel?
Die verschiedenen Gestalten der jüdischen Bibel bzw. des Alten Testaments sowie der christlichen Bibel mit ihrem Doppelkanon lassen sich im Sinne moderner Intertextualitätskonzepte verstehen.47 Wie Gerhard Ebeling erklärt hat, ist der biblische Kanon ebenso wie das reformatorische Schriftprinzip «in entscheidender Hinsicht nicht ein Textabgrenzungsprinzip, sondern ein hermeneutisches Prinzip»48. Nimmt man diesen Gedanken ernst, so folgt daraus nicht nur im Gespräch zwischen Christentum und Judentum, sondern auch unter den christlichen Kirchen «der Respekt für die gegenseitige Begrenzung und daher bereichernde Ergänzung, die verschiedene Textüberlieferungen und -organisationen mit sich bringen».49 Wenn jeder Kanon als eine partikulare Realisierung der Idee der Heiligen Schrift verstanden wird, die auf den Austausch mit anderen Gestalten ihrer Realisierung angewiesen ist, ist auch ein Hybrid wie der protestantische Kanon theologisch legitim. |82|
Schriftauslegung geschieht nicht nur unvermeidlich plural, sondern sie ist auch niemals voraussetzungslos, hat sie doch ihren Ort in der Kirche bzw. den einzelnen Konfessionen als Auslegungsgemeinschaften.50 Insoweit leuchtet das Postulat einer «kirchlichen Hermeneutik» ein, welches heute als «Hermeneutik des Einverständnisses»51 diskutiert wird. Einverständnis mit dem biblischen Text kann freilich bestenfalls das Resultat des Verstehensvorgangs, keinesfalls die Prämisse sein. Folglich kann es nach evangelischem Verständnis auch kein kirchliches bzw. lehramtliches Auslegungsprivileg geben, das die Pluralität des prinzipiell unabschließbaren Auslegungsprozesses steuern und domestizieren soll.
Nach reformatorischer Tradition ist die Kirche, konkret die gottesdienstliche Gemeinde, freilich nicht das Subjekt, sondern das Objekt der Auslegung. Sie ist eine Wort-Schöpfung, creatura Euangelii (Luther)52, d. h. ein Geschöpf des Evangeliums bzw. eine Schöpfung des Wortes Gottes53. Wie Luther schreibt, ist die Kirche nata ex verbo54, wobei es sich bei der Geburt der Kirche aus dem Wort Gottes nicht um einen einmaligen Vorgang in der Vergangenheit, sondern um ein beständiges Geschehen handelt. Ähnlich wie der Christenmensch nach Luther täglich aus der Taufe neu herauskriecht55, so wird auch die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden stets aufs Neue aus dem Wort geboren. Eben in diesem Sinne ist sie creatura verbi und nicht sein creator.