Читать книгу 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen - Группа авторов - Страница 32
2.3 Die Kirche als Gemeinschaft der Versöhnung und des Rechts
ОглавлениеZwinglis Abendmahlsliturgie sah vor, dass das Brot in der Gemeinde herumgereicht wird und jeder sich ein Stück davon abbricht. Dies war angesichts der zeitgenössischen, im kirchlich-liturgischen Leben wie im Volksempfinden tief verwurzelten Sakramentsfrömmigkeit eine Revolution. |95| Zwingli begründete diesen Brauch wie folgt: Wenn jeder dem nächsten das Brot reicht, dann kann es sein, dass während der Abendmahlsfeier Versöhnung zwischen zwei zerstrittenen Nachbarn geschieht. Und damit hätte das Abendmahl als Versöhnungsmahl etwas Wichtiges bewirkt. Ähnlich hatte Zwingli gegen den Abendmahlsbann argumentiert: Das Abendmahl als Feier der Versöhnung könnte auch der Ort sein, an dem ein unbußfertiger Sünder umkehrt und Buße tut. Deshalb darf man ihn nicht ausschließen. In der Kirche als Ort, an welchem die Versöhnung mit Gott in Christus gefeiert wird, kann es nur um Versöhnung auch zwischen Menschen gehen. Ungeachtet mancher aus heutiger Sicht befremdlichen Züge waren auch das kirchliche Ehegericht in Zürich und Bern ebenso wie das Konsistorium in Genf Gremien, denen es weniger um «Sittenzucht» als um Versöhnung zwischen zerstrittenen Menschen in der Gemeinde Christi ging.
Versöhnung gibt es aber nicht, ohne dass Unrecht beim Namen genannt und Recht hergestellt ist. Es gehört zur Eigenart der Schweizer Reformation, dass das Evangelium von Anfang an sehr viel mit Politik, Recht und mit Wirtschaft zu tun hat. Die Reformationsmandate der christlichen Obrigkeiten betrafen nicht nur das religiöse Feld. Sie zielten auch darauf, Unrecht zu beheben, die Schwachen zu schützen, Wucher und unrechtmäßige Bereicherung zu verhindern, dafür zu sorgen, dass niemand mehr betteln muss und dass die Kranken versorgt werden. Schon in seinen Disputationsthesen von 1523 hatte Zwingli aus dem wiederentdeckten Evangelium die Forderung an die Obrigkeit abgeleitet: «Darum sollen alle ihre Gesetze dem göttlichen Willen gleichförmig sein, so dass sie dem Bedrängten Rechtsschutz gewähren, auch wenn er nicht Klage einreicht.» (These 39)
In seiner Schrift «Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit» hat Zwingli sehr klar unterschieden zwischen dem Reich Gottes und den Realitäten der Welt. Religiöse Utopien waren nicht seine Sache. Zugleich aber war er der Meinung, dass es Aufgabe einer christlichen Gemeinschaft ist, sich an der Gestaltung der weltlichen Verhältnisse mit zu beteiligen und sich dabei an der göttlichen Gerechtigkeit zu orientieren. Das kann immer nur bruchstückweise geschehen, inkohativ, also stets anfangsweise, unvollständig und unter Berücksichtigung der Realitäten. Aber gerade so soll es geschehen.
Unter Heinrich Bullinger hat man in Zürich dann den sogenannten Fürtrag eingerichtet: Die Pfarrer sollten das Recht haben, vor dem |96| politischen Rat aufzutreten und ihn zu ermahnen, ähnlich wie dies die Propheten im Alten Testament gegenüber ihren Königen getan hatten. Dieses prophetische Amt wurde zu einem wichtigen Element der Schweizer Reformation. Und dabei ging es keineswegs nur um religiöse Angelegenheiten: Die Armenversorgung als Aufgabe des gesamten Gemeinwesens, die Verordnung über den Zins, die Einrichtung von Schulen, die Söldnerpolitik, aber auch die Flüchtlingspolitik und die Verwendung öffentlicher Gelder waren tagespolitische Fragen, zu denen Bullinger den Rat auf den göttlichen Rechtswillen hinwies.