Читать книгу 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen - Группа авторов - Страница 30
2.1 Das Evangelium von der Versöhnung
ОглавлениеInhalt des Evangeliums, wie es Zwingli an der ersten Zürcher Disputation vom Januar 1523 definiert hatte, ist nichts anderes als Christus selbst: In ihm werden Gottes Wille und Gottes Versöhnungstat für uns offenbar: «Summe des Evangeliums ist, dass unser Herr Christus Jesus, wahrer Gottessohn, uns den Willen seines himmlischen Vaters kundgetan und uns mit seiner Unschuld vom Tode erlöst und Gott versöhnt hat.»
Nicht eine «neue Lehre» sollte hier vorgetragen werden. Letztlich ging es einzig um den Ruf, auf «Christus allein» (solus Christus) zu hören und sich ihm als dem Ort der Versöhnung mit Gott anzuvertrauen. Wenn man die Reformatoren als «Neugläubige» bezeichnet und den römisch-katholischen «Altgläubigen» gegenübergestellt hat, war dies Polemik oder beruhte auf einem Missverständnis. Die Schweizer Reformation wollte nichts anderes als eine Rückbesinnung auf die (ungetrübte) Quelle und Konzentration auf das Wesentliche und Grundlegende des gemeinchristlichen Glaubens sein. Die Schweizer Reformatoren verstanden sich |92| als Vertreter des «alten Glaubens», wie etwa Heinrich Bullinger ausdrücklich hervorgehoben hat. In diesem Grundanliegen der Reformation sahen sie sich vor allem mit den Wittenberger Reformatoren zutiefst verbunden. Und doch ist bei genauerem Hinsehen durchaus ein eigenes Schweizer Profil zu erkennen – das aber, jedenfalls aus Schweizer Sicht, niemals Grund zu einer innerprotestantischen Kirchentrennung gewesen wäre. Luther sah dies leider anders. Meine Aufgabe ist es nun, dieses besondere Profil ein wenig herauszuarbeiten.
Luthers Frömmigkeit und Denken blieben stets tief geprägt von seiner Erfahrung als Mönch. Auch wenn Luthers befreiende «reformatorische Entdeckung» die spätmittelalterliche Bußfrömmigkeit völlig umkrempelte, so war es die Frage der persönlichen Aneignung bzw. Zueignung der göttlichen Gnade, die das bleibende Gravitationszentrum seines Verständnisses des Evangeliums bildete. Sein Verhalten im Abendmahlsstreit, seine Katechismen und seine sehr zurückhaltenden Vorschläge zur Reform des kirchlichen und gottesdienstlichen Lebens beweisen dies.
Zwinglis Beschreibung des Evangeliums stellt nicht zufällig nicht den Rechtfertigungsbegriff ins Zentrum, sondern spricht von Versöhnung und vom göttlichen Willen, die beide in Christus zu finden sind.
Versöhnung bedeutet aber: Wiederherstellung der Gemeinschaft. Für Zwingli ist die Gemeinschaft der Menschen mit Gott untrennbar verbunden mit einer «versöhnten» Gemeinschaft von Menschen, gestaltet durch den in Christus bekannt gemachten göttlichen Willen, mit einer christlichen Gemeinde. Zwinglis Sorge als «Leutpriester» (Volkspfarrer) war weniger sein persönliches Seelenheil als das Heil bzw. die Gottesnähe der ihm anvertrauten Gemeinde. Nicht zufällig hatte Zwingli als zusammenfassendes Motto seiner Verkündigung Mt 11,28 auf das Titelblatt seiner Schriften drucken lassen: Christus, der die Menschen zu sich, in seine Gemeinschaft ruft: «Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.» (Mt 11, 28)
Eine wichtige theologische Folge ist, dass die leitenden Begriffe aus der Schweizer Reformation nicht Gesetz und Evangelium sind, sondern Erwählung und Bund. Der Jurist Calvin entwickelte bekanntlich später im Anschluss an den von Zwingli beeinflussten Martin Bucer den Gedanken der «Erwählung» weiter, als Gottes Recht auf seine ihn ehrende Gemeinde. Heinrich Bullinger war demgegenüber mehr besorgt, dass die göttliche Liebe als Grund seines Gemeinschaftswillens nicht verdunkelt wird. Dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden (1Tim 2, 4), war für ihn ein wichtiger Gedanke, für den er auf logische Spekulationen zu |93| verzichten bereit war. Er stellte den «Bund» Gottes mit den Menschen ins Zentrum und wurde so zum Vater der reformierten Bundestheologie.
Entsprechend könnte man formulieren: Der Ort von Zwinglis Botschaft ist nicht der Beichtstuhl, sondern die öffentliche Volksversammlung. Das Evangelium zielt auf Gemeinschaft und wird vor allem in der Gemeinschaft erfahrbar. Es konstituiert so notwendig christliche Gemeinde und gibt ihr zugleich eine besondere, «evangelische» Gestalt. Auf drei Aspekte soll hier hingewiesen werden.