Читать книгу Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Alter - Группа авторов - Страница 9
1.2 Älterwerden mit geistiger Behinderung
ОглавлениеMitarbeiter in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe wurden mittels Fragebögen und in Fokusgruppen befragt zu ihren Erfahrungen mit dem Prozess des Älterwerdens von Menschen mit geistiger Behinderung, zu Veränderungen, Bedürfnissen, zu Merkmalen von Kompetenz, zu Gewinnen und Verlusten und zu Merkmalen der Lebensqualität, die sie beobachtet haben. Die Ergebnisse werden im Folgenden zusammengefasst.
Geistig behinderte Menschen unterscheiden sich im Prozess des Älterwerdens nicht grundsätzlich von der Gesamtbevölkerung, insbesondere wird darauf hingewiesen, dass sich mit zunehmendem Alter eine große interindividuelle Variabilität mit Bezug auf die körperliche und psychische Entwicklung zeigt. Im Vergleich zu Senioren, die nicht in einer stationären Einrichtung leben, wirken sie nach Aussagen der Mitarbeiter ausgeglichener und ausgeruhter, da sie in der Einrichtung geschont werden und nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen.
Die älteren Bewohner werden aufgrund ihres Soseins, das von der Gesellschaft überwiegend als Anderssein negativ interpretiert wird, weder als gesellschaftsfähig anerkannt noch integriert. Viele von ihnen wurden in ihrer Jugend zur Ausführung von Dienstleistungen herangezogen, mussten schwere körperliche Arbeit unter schwierigen Bedingungen leisten, wurden kaum oder schlecht entlohnt, lebten unter schlechten räumlichen und gesundheitlichen Bedingungen und waren der unkontrollierten Gewalt der Umwelt ausgesetzt. Frauen wurden häufig sexuell missbraucht, und die Vergewaltiger profitierten davon, dass die Frauen nicht mit Worten ausdrücken konnten, was ihnen angetan worden war; sie wurden darüber hinaus als abgestumpft und unempfindlich eingeschätzt. Letzten Endes wurden Menschen mit geistiger Behinderung nicht als gleichwertige, ebenbürtige Menschen angenommen, die Würde, die jedem Menschen zu eigen ist, wurde ihnen abgesprochen. Diese Einstellung der Gesellschaft, eine eingeschränkte verbale Kommunikationsfähigkeit sowie die verminderte kognitive Leistungsfähigkeit hat sie an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt. Die Unmittelbarkeit ihrer Ausdrucksweise hat ihnen die Position von Kindern zugewiesen. Sie selbst schätzen sich teilweise auch noch im hohen Alter als Kinder ein: »Ich bin ein Bub« oder »Ich bin ein Mädle. Frauen dürfen rauchen, Mädle net.«
Ein großer Teil geistig behinderter älterer Menschen lebt in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe. Sie sind entweder schon als Kinder aufgenommen worden, da sich die Angehörigen nicht in der Lage sahen, in ihrem gesellschaftlichen Umfeld mit den engen herrschenden Konventionen ihren Lebensplan mit einem geistig behinderten Kind in der Familie zu verwirklichen. Die Kinder in eine »Anstalt« zu geben war auf alle Fälle besser als sie zu verstecken; nicht nur für die Eltern war es leichter, sondern auch für die Betroffenen, die auf diese Weise unter Umständen einem menschenunwürdigen Dasein entkommen sind. Ein starker Lebenswille, der die Menschen befähigt hat, auch schwierige Situationen zu überstehen, wird von der überwiegenden Mehrheit der Mitarbeiter bestätigt. Trotz erlebter Enttäuschungen erinnern sich geistig behinderte ältere Menschen oft gerne an ihre Angehörigen und leiden häufig sehr darunter, dass keine familiären Kontakte mehr bestehen.
Wenngleich sie sich in der Einrichtung einer strengen Disziplin haben beugen müssen und durch eine lebenslange Abhängigkeit von den Betreuern ihre persönliche Entwicklung erschwert oder gar unmöglich war, konnten doch langanhaltende persönliche Beziehungen untereinander oder mit den Betreuern entstehen. Die geistig behinderten Menschen waren Teil der Gemeinschaft, wurden zu hauswirtschaftlichen oder anderen Arbeiten herangezogen, dadurch empfinden sie heute noch ihr Leben als nützlich. Strenge religiöse und feste Moralvorstellungen wurden ihnen schon in früher Kindheit eingeprägt, ein großer Teil hat sie unverändert bewahrt, und darin erleben viele geistig behinderte Menschen im Alter Sicherheit. Die Mitarbeiter bestätigen, dass die Bewohner ihr Leben als sinnvoll empfinden, dass sie aufgrund ihrer persönlichen Lebenseinstellung – überwiegend handelt es sich um verinnerlichte Glaubensgrundsätze – eher hoffnungsvoll und optimistisch eingestellt seien. Als ein beobachteter Gewinn im Alter wird von den Mitarbeitern Zufriedenheit genannt, und sie bestätigen, dass es viele Dinge gibt, auf die sich die Bewohner jeden Tag freuen.
Langjährige Not und viele Entbehrungen, Abhängigkeit und die Erfahrung, dass Widerstand sinnlos ist und dass die eigenen Wünsche für die Umwelt absolut uninteressant sind, haben die heute ältere Generation weitgehend geprägt. Viele von ihnen wissen mit Wünschen nichts anzufangen. Die Mitarbeiter versuchen, die persönlichen Bedürfnisse der Betroffenen gemeinsam mit ihnen zu entdecken. Mit der frei zur Verfügung stehenden Zeit jedoch, mit dem Basteln von »unnützen Dingen«, für die man keine Verwendung kennt und für die man niemanden weiß, dem man sie schenken könnte, kann nicht jeder geistig behinderte ältere Mensch umgehen. Der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe führt zu einer neuen Ausrichtung der Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Für diese Menschen ist daher eine Umstellung auf die neuen Anforderungen erforderlich, dies ist häufig schwierig, da die Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit mit zunehmendem Alter abnehmen.
Viele geistig behinderte Menschen haben im Lebenslauf jedoch gelernt, welches die wesentlichen Dinge im Leben sind, worauf verzichtet werden kann und was für ein gutes Leben wichtig ist. Sie genießen es, wenn man ihnen etwas abnimmt. Bei einem Teil der Bewohner wird eine Steigerung der Genussfähigkeit beobachtet, die Bewohner genießen das Kaffeetrinken, Besuche beim Friseur, Ausflüge, den Wegfall des Leistungsdrucks, ihr eigenes Zimmer. Häufig nehmen die innere Ruhe und Gelassenheit im Alter zu, befähigen die Menschen zum Aufbau stabiler Beziehungen und führen zu einem Zugewinn an sozial-kommunikativen Fertigkeiten. Mitarbeiter sprechen ihren Bewohnern die Fähigkeit zu, sich aktiv und erfolgreich mit der Bewältigung von Aufgaben und Belastungen auseinanderzusetzen; sie bestätigen die Möglichkeit einer persönlichen Entwicklung im höheren Alter. Wenn das Erleben schwerer Verluste oder Belastungen zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit der Problematik führt, können Krisen bewältigt werden – entweder mit der informellen Unterstützung durch die Gruppe oder die Mitarbeiter oder durch Einsatz professioneller Hilfe wie Gesprächstherapie. Die Fähigkeit, sich aktiv mit Aufgaben und Belastungen auseinanderzusetzen, eine persönlich zufriedenstellende Lebensperspektive auch im höheren Alter und bei Einschränkungen aufrechtzuerhalten, sozial-kommunikative Fertigkeiten zu entwickeln, in Selbstständigkeit und Selbstverantwortung zu handeln, sind Merkmale von Kompetenz bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung und haben bei den Mitarbeitern der Behindertenhilfe einen höheren Stellenwert als körperliche Fähigkeiten wie beispielsweise Mobilität.
Der Alternsprozess ist bei Menschen mit geistiger Behinderung auch mit körperlichen Veränderungen verbunden. Generell werden von den Mitarbeitern Verluste im Bereich der Gesundheit, der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit und folglich auch der Selbstständigkeit im Alltag beobachtet. Durch das vermehrte Auftreten von Erkrankungen wird der Bedarf an medizinischer und pflegerischer Betreuung im Alter größer, es werden mehr Arzttermine wahrgenommen.
Die Mitarbeiter beschreiben die Verminderung der körperlichen Leistungsfähigkeit als ein Nachlassen der Kräfte, eine schnellere Ermüdbarkeit mit längeren Erholungsphasen und einem erhöhten Ruhe- und Schlafbedarf – auch am Tag. Der Wunsch der Bewohner nach häufigeren und längeren Pausen, das Bedürfnis der Bewohner, sich zurückziehen zu können wird von den Mitarbeitern bestätigt, und häufig fordern die Bewohner selbst Ruhe ein. Es werden zunehmend Gebrechlichkeit und Mobilitätsverlust dokumentiert, arthrotische Beschwerden führen zu häufigeren Stürzen mit entsprechenden Folgen und einer dadurch bedingten zunehmenden Ängstlichkeit. Die Bewohner spüren diese Veränderungen und klagen vermehrt über körperliche Symptome. Es kommt zu Einschränkungen der Seh- und Hörfähigkeit, zu Herzkreislaufbeschwerden, Krebserkrankungen nehmen zu. Bei Auftreten von Inkontinenz nimmt die Bedeutung der Toilettengänge zu, die Bewohner haben Angst, es nicht mehr bis zur Toilette zu schaffen, zunehmend wird eine Vernachlässigung der körperlichen Hygiene beobachtet. Diese Veränderungen führen zu einem wachsenden Pflegebedarf, der von pädagogisch ausgebildeten Pflegekräften nicht immer fachgerecht ausgeführt werden kann.
Die Bewohner werden langsamer, jede Tätigkeit braucht etwas mehr Zeit, der Hilfebedarf bei den täglichen Verrichtungen wie beispielsweise der Körperpflege nimmt zu. Häufig sind es die Mitarbeiter, die – eigenen Aussagen zufolge – den Prozess des Verlusts an Selbstständigkeit unterstützen. Wenn wenig Zeit vorhanden ist, nehmen sie gerne den Bewohnern Tätigkeiten ab, die jene noch selbstständig ausführen könnten, die jedoch aufgrund der allgemeinen Verlangsamung mit einem hohen Zeitaufwand verbunden sind. Durch einen Mangel an täglicher Routine und an Gelegenheiten, die vorhandenen Fertigkeiten zu üben, gehen Kompetenzen verloren und können nur durch ein aufwändiges Training wieder aufgebaut werden.
Die Bewohner haben häufig kein Interesse mehr an neuen Aktivitäten; es besteht ein Bedürfnis nach Regelmäßigkeit im Tagesablauf. Bekannten Abläufen, der vertrauten Umgebung oder geliebten Dingen wird von der großen Mehrheit der Bewohner der Vorzug gegeben. Teilweise werden Antriebslosigkeit und eine Verminderung von Aggressionen beobachtet. Auch in der räumlichen Umgebung ist eine Veränderung zu sehen: Die Sitzgelegenheiten brauchen mehr Platz, Stühle werden durch Stühle mit Armlehne ersetzt, oft ist die Sitzgelegenheit ein Rollstuhl.
Die Auseinandersetzung mit dem Alternsprozess verläuft bei geistig behinderten Menschen sehr unterschiedlich. Oft wird der eigene körperliche Abbau entweder nicht wahrgenommen oder verleugnet, sodass die Bewohner sich überschätzen und dadurch auch gefährden. Ihr Lebensradius nimmt ab, sie haben weniger Handlungsmöglichkeiten als früher und können manches nicht mehr selbstständig ausführen, die körperlichen Grenzen werden immer enger. Dadurch entsteht Unzufriedenheit, die sich in Ungeduld oder Aggression äußern kann; die Bewohner fordern hartnäckig, dass ihre Bedürfnisse sofort erfüllt werden, alles soll rasch geschehen. Sie erscheinen daher oft eigenwillig und dickköpfig.
Nicht alle Bewohner reagieren jedoch auf diese Weise. Viele können bewusst abgeben und zurückstecken und lernen Defizite zu akzeptieren. Sie haben nur noch wenige und kleine Ziele, die sie erreichen möchten, und wenn ihnen dies nicht gelingen sollte, so ist die Enttäuschung nicht mehr so groß, wie sie früher gewesen wäre. Sie werden gelassener und zeigen Zeichen persönlicher Reifung. In dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Älterwerden und dem enger werdenden Aktionsradius sind keine Unterschiede zur Gesamtbevölkerung zu sehen. Der Umgang mit Verlusten fällt auch vielen Menschen ohne geistige Behinderung sehr schwer, und Ungeduld und Aggressivität sind keine ungewöhnliche Antwort auf erfahrene Einschränkungen.
Das Verhältnis zu Tod und Sterben ist sowohl bei Bewohnern als auch bei Mitarbeitern häufig ambivalent. Viele Bewohner zeigen Angst vor dem Tod, der sich zunehmend auf der Wohngruppe ereignet. Der Tod wird nicht von allen als selbstverständlich angenommen, dies ist nur jenen möglich, die eine religiöse Bindung erfahren haben, die von den Mitarbeitern unterstützt und begleitet werden kann. Trauer wird auf der Gruppe gemeinsam von Mitarbeitern und Bewohnern bewältigt. Der Glaube ist wichtig für die älteren geistig behinderten Menschen, es gibt Sicherheit zu wissen, »wohin man geht, wenn man stirbt.« In dieser Situation weckt die Unsicherheit, ob ein Verbleib auf der Wohngruppe auch bei steigendem Pflegebedarf möglich ist, Ängste, möglicherweise in eine fremde Umgebung wechseln zu müssen.
Die Mitarbeiter beobachten, dass in dieser Lebensphase die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen zunimmt. Das gehäufte Auftreten von Depressionen oder das Verlassen der Realität und Eintauchen in eine Psychose wird interpretiert als eine Antwort des Bewohners auf einen Mangel an Zuwendung, wenn beispielsweise auf der Gruppe zu viel zu tun und keine Zeit für eine angemessene individuelle Betreuung vorhanden ist. Nach Aussagen der Mitarbeiter kann nicht mehr individuell, sondern nur noch in der Gruppe betreut werden. Die Bewohner jedoch werden durch die wahrgenommenen Verluste »dünnhäutiger«, sie reagieren rascher und intensiver auf Belastungen oder zeigen bei Überforderung überhaupt keine Reaktionen mehr. Als eine sehr große Belastung wird der häufige Personalwechsel empfunden, da auf diese Weise entstandene Beziehungen verloren gehen, und es den Bewohnern immer schwerer fällt, einem neuen, ihnen unbekannten Mitarbeiter zu vertrauen und eine neue Beziehung aufzubauen.
Es gibt keine Grundlage dafür, dass Menschen mit geistiger Behinderung in anderer Weise altern als die Gesamtbevölkerung. Unterschiede sind einerseits auf die körperlichen und kognitiven Einschränkungen zurückzuführen, deren Ursache die geistige Behinderung bildet, andererseits haben ältere Menschen mit geistiger Behinderung ihr Leben meist unter Bedingungen zugebracht, die nicht verglichen werden können mit den Lebensbedingungen der Gesamtbevölkerung.