Читать книгу Biologische Transformation - Interdisziplinäre Grundlagen für die angewandte Forschung - Группа авторов - Страница 9
Ist Natur kreativ?
ОглавлениеObwohl er eine der herausragenden Persönlichkeiten der Nachkriegszeit war, werden die meisten der heute unter Vierzigjährigen mit dem Namen Hoimar von Ditfurth nicht mehr viel anfangen können. Viele Ältere werden sich jedoch an den 1989 verstorbenen Mediziner, Wissenschaftsjournalisten, Philosophen und Autor mehrerer Bestseller erinnern, weil er mit seinem Wirken ihr eigenes Interesse an Wissenschaft und Ökologie weckte. (Löhr 2014) Besondere Aufmerksamkeit erzielte von Ditfurth mit einer populärwissenschaftlichen Fernsehreihe, die von ihm gemeinsam mit dem Physiker und Wissenschaftsjournalisten Volker Arzt gestaltet wurde. »Querschnitt«, so der Titel der Reihe, wurde von 1971-1989 im ZDF ausgestrahlt. Die Inhalte einiger ihrer Folgen sind heute noch aktuell, wie eine Folge aus dem Jahr 1978 »Der Ast, auf dem wir sitzen - Die Balance der Biosphäre«. In ihr informierte von Ditfurth die Öffentlichkeit über die weitreichenden Folgen eines zu erwartenden Klimawandels. Damals schon beschrieb er ein Szenario, dass eine Erhöhung der mittleren globalen Temperatur um zwei bis drei Grad bis zum Jahr 2050 prognostizierte (Boeing 2019).
In einer anderen Folge, die im Februar 1975 ausgestrahlt wurde und den Titel »Phantasie der Schöpfung« trug, machte von Ditfurth das Fernsehpublikum erstmals, mit einer damals noch neuen Forschungsrichtung, der Bionik vertraut. Zusammen mit dem heute als Mitbegründer der Bionik bekannten Werner Nachtigall, ging er der Frage nach, wie sich Konstruktionsprinzipien aus biologischen Systemen auf technische Anwendungen übertragen lassen. Wie stabil ist ein rohes Hühnerei und wie stark kann man es zwischen dem oberen und dem unteren Ende zusammenpressen, ohne dass es kaputtgeht, waren die Fragen, denen in der Sendung, auch mithilfe eines Gewichthebers, nachgegangen wurde (Ditfurth 1993, S. 218–241). Das Ergebnis war erstaunlich: Die 0,3 mm dicke Eischale konnte einer Kraft, die dem Viertausendfachen ihres eigenen Gewichts entspricht, standhalten. Diese Stabilität hat die Eischale ihrem besonderen Aufbau zu verdanken, der die Form eines doppelten Gewölbes hat und einwirkende Kräfte längs der Schale verteilt.
Soweit die Erklärung, wie der mechanische Aufbau und die Stabilität der Eischale zusammenhängen. Sie stellt zufriedenstellend klar, wie bei der Eischale eine dermaßen hohe Stabilität erreicht wurde. Eine wichtige Frage bleibt jedoch unbeantwortet: Woher kommt die Idee für den Aufbau der Eischale? Müssen wir nicht, so fragt von Ditfurth (Ditfurth 1993, S. 221), da das Haushuhn selbst keine Ingenieurin ist, »der Natur insgesamt eine Art Intelligenz zuschreiben […] die unserem viel gepriesenen technischen Verstand durchaus ebenbürtig oder überlegen ist?« »Wo immer man biologische Zusammenhänge durchschaut, scheint sich diese Schlussfolgerung aufzudrängen«, schreibt von Ditfurth weiter.
Wenn es diese Art von Intelligenz, von der Hoimar von Ditfurth hier spricht, in der Natur gibt und wenn diese Intelligenz der menschlichen Ingenieurskunst sogar überlegen ist, wäre es dann nicht klug, sich bei technischen Entwicklungen zukünftig mehr an der Natur zu orientieren? Wenn sich auf diese Weise technische Lösungen entwickeln lassen, kann es sich dann nicht sprichwörtlich lohnen, von der Natur zu lernen?
Der Gedanke, Technik an der Natur zu orientieren, übt auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon seit Langem eine inspirierende Faszination aus. In Forschungsansätzen unterschiedlicher Zeiten wird deshalb immer wieder ein Leitmotiv sichtbar, das als »Lernen von der Natur« bezeichnet werden kann. Es findet sich in der Renaissance in den Arbeiten Leonardo da Vincis und in den heutigen Wissenschaften u. a. in der bereits genannten Bionik. Das Motiv prägt eine wissensbasierte Bioökonomie und ist nicht zuletzt unter der Bezeichnung »Biologische Transformation« auch in einem, von der Fraunhofer-Gesellschaft entwickelten, aktuellen Forschungskonzept als Paradigma erkennbar. Die Begriffe »biologisch« und »natürlich« werden dabei oft gleichwertig verwendet. Was sie unter Biologischer Transformation verstehen, definieren im vorliegenden Band Thomas Bauernhansl und Markus Wolperdinger in ihrem Beitrag (Kapitel 2). Sie gehen von einer systematischen Anwendung des Wissens über die Natur aus und zielen auf eine Konvergenz von Bio- und Technosphäre. Im Fokus stehen bei ihnen Fertigungssysteme, die mithilfe einer Biologischen Transformation optimiert werden sollen. Biologische Transformation, Bioökonomie und Bionik sind dabei eng miteinander verwobene Konzepte.