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»Einträchtig auseinanderklingender Zusammenklang« – Frühe Mehrstimmigkeit

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Ein »einträchtig auseinanderklingender Zusammenklang« (»concentus concorditer dissonus«) entstehe, wenn der Choral nicht einstimmig, sondern in einer mehrstimmigen Form vorgetragen werde, die man »gemeinhin Organum nenne«. So beschreibt der anonyme Autor eines im späten 9. Jahrhundert entstandenen Musiktraktats die früheste schriftlich dokumentierte Form europäischer Mehrstimmigkeit. Die paradox klingende Formulierung versucht zur Sprache zu bringen, dass der Choral dabei zwar als Ausgangspunkt und zentrale Klangachse erhalten bleibt, zusätzliche Stimmen ihn aber wie perspektivische Schatten in parallelen Quarten und Quinten klanglich erweitern. Der Effekt kann durch Oktavierungen der Stimmen noch verstärkt werden. »Auseinander« klingen die vernehmbaren Intervalle, »einträchtig« zusammengefügt werden sie durch ihre Parallelbewegung und ihre (in Übernahme antiker Tradition) einfachen und damit perfekten, deswegen als vollkommen angesehenen Proportionsverhältnisse.


Parallelorganum mit Oktavverdopplungen aus der Musica enchiriadis. Die Silben der Ausgangsstimme (PR: »vox principalis«) und der Organalstimme (OR: »vox organalis«) sind auf Linien geschrieben, die mit sogenannten Dasia-Zeichen geschlüsselt sind. Verbindende Striche kennzeichnen die Intervallschritte. © Staatsbibliothek Bamberg, Msc.Var.1, fol. 55r, Foto: Gerald Raab

Der Autor beschreibt hier offenbar theoretisch ein zu seiner Zeit und auch heute noch in vielen Volksmusikkulturen weit verbreitetes Mehrstimmigkeitsphänomen, das sich etwa beim gemeinsamen Singen von Männer- und Knabenstimmen oft von selbst einstellt. Diese Vortragsart des Chorals, so der Autor weiter, diene dem Schmuck, der Erhöhung der liturgischen Feierlichkeit des Gesangs und sei – vielleicht deshalb – mit »maßvoller Bedächtigkeit« auszuführen. Insofern bildet die Mehrstimmigkeit eine besondere Form der sogenannten Tropierung, bei der der vorgegebene altehrwürdige Gesang durch neue Texte und Melodien erweitert und in neue Zusammenhänge eingebettet wurde. Auf ähnliche Weise stellt ihn die Mehrstimmigkeit des Organums in einen neuen klanglichen Raum.

Der Traktat mit dem Titel Musica enchiriadis lehrt als grundlegendes Tonsystem eine Reihung gleichgebauter Tetrachorde. Es scheint in Hinblick auf das Quintorganum entworfen, denn in ihm lassen sich von jedem Punkt aus parallele Quinten bilden. Umgekehrt gilt dies für Quarten nicht: Hier kann an bestimmten Stellen ein Tritonus entstehen. Daher wird ein spezielles Regelwerk entwickelt, das die Vermeidung ebendieses Tritonus durch Grenz- bzw. Haltetöne lehrt. Unter sie darf die Organalstimme (»vox organalis«), die stets unter der Ausgangsstimme (»vox principalis«) liegt, nicht sinken. Zur Demonstration werden die Töne auf Liniendiagrammen angeordnet, die den Melodie- und Intervallverlauf grafisch visualisieren. An diesem nach Regeln oder »artifiziell« hergestellten Organum wird sich die Lehre von der Mehrstimmigkeit in den folgenden Jahrhunderten entzünden.

Gestohlen und in einer Garage wiedergefunden

Die Zuschreibung des Codex Calixtinus an Papst Calixtus II. ist fiktiv und diente zur Erhöhung des Ansehens dieser prächtigen, zu einem Buch gebundenen Handschrift. Der Codex wird bis heute im Tresor der Kathedrale von Santiago de Compostela aufbewahrt. 2011 wurde er dort gestohlen, ein Jahr später aber auf wundersame Weise in einer schmutzigen Garage wiedergefunden. Der Täter: ein Elektriker, der in der Kirche gearbeitet hatte.

Die wohl umfangreichste Quelle für diese Form des Organums hat sich im für die Kathedrale von Winchester zusammengestellten Winchester Tropar (um 1020 – 1030) mit 174 Organa erhalten. Die Notierung in linienlosen Neumen lässt zwar keine sichere Bestimmung der Tonhöhen zu, offenbar handelt es sich jedoch um Organa im Stil der Musica enchiriadis. Eine neuere Stufe des Organums dokumentiert der sogenannte »Mailänder« Organumtraktat (um 1100, Nordfrankreich). Dieses neue Organum unterscheidet sich vom bisherigen dadurch, dass sich die Organalstimme von der Parallelführung zu lösen und als eigenständige zweite Stimme zu emanzipieren beginnt. Dazu können gegenüber den vorher starren Parallelintervallen nun bestimmte Klänge ausgewählt und bewusst als formbildende Kraft (Anfang – Mitte – Schluss) eingesetzt werden. Dies setzt neue kompositorische Gestaltungsmöglichkeiten frei. Die neue Form des Organums ist in zwei größeren Quellen bzw. Quellengruppen überliefert: In einigen Handschriften aus St. Martial de Limoges (11.–13. Jahrhundert, 70 Organa, mehrheitlich geistliche lateinische Strophenlieder in reimender Sprache) und im sogenannten Codex Calixtinus (1140–1173 zur Verehrung des heiligen Jakobus in Santiago de Compostela verfasst, zweistimmige Organa). Besondere Aufmerksamkeit verdient Congaudeant catholici, das mit drei Stimmen notiert ist, und damit die früheste Überlieferung von Dreistimmigkeit darstellt.ΑΩ SMo

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