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Endlich alles aufschreiben können – Ars subtilior

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In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts äußert sich ein anonymer Musiktheoretiker zur Kunst der musikalischen Notation: Zwar hätten die älteren Meister auf diesem Feld einige grundsätzliche Dinge richtig erkannt, aber manches auch unvollendet gelassen. Dies hätten ihre Nachfolger mit »größeren Feinheiten« (»maiores subtilitates«) perfektioniert, indem sie neue kleinere Notenwerte eingeführt und Möglichkeiten ihrer schriftlichen Darstellung gefunden hätten, die zuvor unbekannt waren.


Zwei Balladen aus dem Codex Chantilly, um 1400. Die roten Kreise oder Halbkreise, teils mit Punkten, teils ohne, geben wechselnde Mensuren (unterschiedliche »Taktarten«) an. Die roten Noten sind doppelt so rasch wie gewöhnlich zu singen.

Aus theoretischen Zeugnissen wie diesem hat die Forschung den Begriff »Ars subtilior« (»scharfsinnigere Kunst«) hergeleitet, um damit einen Bestand von Musikstücken der Zeit um 1400 zu charakterisieren, die sich vor allem durch notationstechnische Besonderheiten auszeichnen: rote Noten, gleichermaßen oben und unten gestielte Notenköpfe, Zeichen wie Kreise und Punkte zur Angabe spezieller Rhythmen und dergleichen mehr. Nach dem anonymen Theoretiker handelte es sich um eine Weiterentwicklung des französischen Mensuralsystems aus der Mitte des 14. Jahrhunderts mit dem Ziel, das endlich auch schreiben zu können, »was mit dem Mund vorgetragen wird«. Ergebnis war eine bisweilen extreme Steigerung der rhythmischen Komplexität musikalischer Aufzeichnungen.

Die genannten Phänomene finden sich vor allem in Liedsätzen in der Tradition Guillaume de Machauts und verbinden sich oftmals mit weiteren Tendenzen: hinsichtlich der Liedtexte etwa mit einer dichten, bilder- und klangreichen Sprache, hinsichtlich der Musik mit der Verwendung kompositorischer Künste wie Isorhythmie oder Kanon. Ebenfalls gesteigert erscheint das bereits aus Ars antiqua und Ars nova bekannte Prinzip, andere Stücke zu zitieren, um sie in raffinierter Weise zum Ausgangspunkt für Neues werden zu lassen: etwa wenn ein Lied das Ende eines anderen als Anfangsabschnitt benutzt und den Anfang als neues Ende. Man kann daher von einem insgesamt gesteigerten Kunstanspruch sprechen, der sich nicht zuletzt im Rückbezug von Musik auf andere Musik ausdrückt.

Allerdings ist diese Ars subtilior nicht repräsentativ für eine ganze Epoche. Denn zeitgleich lassen sich ganz andere kompositorische Tendenzen im Sinne einer neuen Einfachheit nachweisen, in der geistlichen Musik wie auch im Lied. In den Handschriften sind solche einfacheren Lieder oft zusammen mit äußerst komplizierten Stücken überliefert. Auch war die geografische Verbreitung der »subtileren Kunst« auf den französischen Einflussbereich und das südwestliche Europa beschränkt. Eines ihrer Zentren scheint der Papsthof in Avignon zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas gewesen zu sein. Das hat Anlass zu der Deutung gegeben, die Ars subtilior sei Ausdruck einer Art »Weltflucht« gewesen: also eines Rückzugs aus der »Wirklichkeit«, die als politisch instabil und krisenhaft empfunden wurde, in eine künstlerische »Gegenwelt«. Tatsächlich haben nach Beendigung des Schismas die einfacheren kompositorischen Tendenzen die Oberhand behalten und die Musikgeschichte der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entscheidend bestimmt.

Dennoch wäre es verfehlt, bei der Ars subtilior von einer kompositorischen Sackgasse zu sprechen, denn selbst in den anspruchsvollsten Stücken sind nie alle Elemente des musikalischen Satzes gleichermaßen kompliziert: Vielmehr geht eine radikale Komplexität in der einen Richtung zumeist mit einer Vereinfachung in einer anderen Richtung einher. So gibt es Lieder, die entlegenste tonale Bereiche (mit den Tönen as, des und sogar ges) aufsuchen. Dies verbindet sich dann aber oftmals mit kurzen Motiven, schlichten Sequenzierungen oder mehrfachen Wiederholungen von rhythmischen Formeln, woraus sich eine kontinuierlich fließende Bewegung ergibt. An solchen Stellen ist die Ars subtilior von der neuen Einfachheit des frühen 15. Jahrhunderts gar nicht so weit entfernt.ΑΩ MKl

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