Читать книгу MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte - Группа авторов - Страница 23
Kompositionen von bisher nicht gekannter Pracht – Das Ereignis Notre-Dame
Оглавление»Der Abt intonierte das Sederunt principes […]. Langsam und feierlich begann auf der ersten Silbe se ein mächtiger Chor von Dutzenden und Aberdutzenden tiefer Stimmen, deren gleichbleibender Grundton das Kirchenschiff füllte und sich hoch über unsere Köpfe erhob, wiewohl er aus dem Herzen der Erde zu kommen schien. Auch brach er nicht ab, als andere Stimmen einsetzten, um über diesem tiefen und kontinuierlichen Halteton eine Reihe von Vokalisen und Melismen zu knüpfen, sondern blieb […] so lange liegen, wie ein geübter Vorsänger braucht, um getragen und mit vielen Kadenzen zwölfmal das Ave Maria zu singen. […] Nachdem das Sederunt derart ausgesprochen, ja fast mit dumpfer Qual herausgepreßt worden war, erklang nun das principes in großer seraphischer Ruhe. […] Festlich erklang nun das adjuva me, dessen klares a sich hell durch die Kirche verbreitete, und auch das u erschien nicht mehr so düster wie eben noch das von Sederunt, sondern war jetzt erfüllt von heiliger Kraft«.
Beginn von Perotins Organum quadruplum Sederunt principes. Über der lang ausgehaltenen Silbe »Se-« bewegen sich die drei Oberstimmen in den formelhaften Mustern der modalen Rhythmik. © Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: Cod. Guelf. 628 Helmst., fol. 1v
So imaginiert Umberto Eco in seinem legendären Mittelalter-Roman Der Name der Rose eine Aufführung des Organum quadruplum (vierstimmigen Organums) Sederunt principes von Perotin. Doch so suggestiv Ecos Beschreibung auch klingen mag: Wir wissen weder, wie genau solche Organa in der neuen gotischen Kathedrale von Notre-Dame zu Paris aufgeführt wurden noch viel über die dort wirkenden Komponisten. Ein englischer Student berichtet Ende des 13. Jahrhunderts mit einigem zeitlichen Abstand aus Paris, dass der erste große Komponist der später so benannten Notre-Dame-Schule ein gewisser Leonin gewesen sei. Er habe besonders gute zweistimmige Organa im frei schweifenden Stil (»organum purum«) verfasst und sie in einem umfangreichen Codex (Magnus liber) gesammelt. Ihm sei Perotin gefolgt, der die Organa an bestimmten Stellen rhythmisch umgestaltet und gestrafft und zur maximal prächtigen Klangwirkung von drei und bis zu vier Stimmen gesteigert habe. Perotins Organa quadrupla Viderunt omnes zu Weihnachten und Sederunt principes zum Fest des heiligen Stephanus, die er als Beispiele zur Auszeichnung der höchsten Feiertage anführt, sind tatsächlich auch in den drei repräsentativen Handschriften der Notre-Dame-Schule erhalten.
»Zwischen irdischem Unflat und himmlischer Reinheit«
So fühlt sich Abt Suger von St. Denis im 12. Jahrhundert beim feierlichen Vollzug der Liturgie emporgehoben, wenn Sprache, Musik, die neue Architektur der Gotik, Gold und Edelsteine sowie Weihrauch alle Sinne ansprechen. Ganz in dieser Absicht waren die Sänger im Chor von Notre-Dame hinter Seidenschleiern verborgen, sodass die Organa ihre mystische Wirkung noch stärker entfalten konnten.
Jenes ältere Organum purum mit virtuoser melismatischer Oberstimme in freier Rhythmik über langen Haltetönen des zugrunde liegenden Chorals beschreibt der sogenannte Vatikanische Organumtraktat (zweites Viertel des 13. Jahrhunderts). Hier wird das Organum in eine Folge von Klangschritten zerlegt, die geordnet nach Bewegungsrichtung und Schrittgröße des Cantus firmus eine systematisierte Fortschreitung in der Oberstimme erhalten. So entsteht ein Formelvorrat, den die Sänger-Komponisten bei der Ausführung des Organums abrufen, durch Verzierung gleichwohl individuell variieren können. In den Discantus-Partien werden alle Stimmen nach den Prinzipien der sogenannten Modalnotation rhythmisch durchorganisiert: Es gibt sechs rhythmische Modelle (Modi) aus verschieden kombinierten langen und kurzen Notenwerten, die sich immer zu einer idealen Dreizeitigkeit als Abbild göttlicher Trinität ergänzen. Die entscheidende notationstechnische Innovation der Modalnotation besteht darin, dass im Gegensatz zur bisherigen Neumennotation nun die rhythmische Dimension der Musik präzise darstellbar ist, was völlig neue kompositorische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Sie werden in sogenannten Klauseln erprobt, die als kurze Ausschnitte innerhalb der Discantus-Partien versatzartig ausgetauscht und eingesetzt werden können. Hierfür sind virtuose Sänger erforderlich, die die bereits im gregorianischen Choral für den solistischen Vortrag vorgesehenen melismatischen Partien in ihrem organalen Schmuck ausführen können.
Etwas außerhalb der engeren liturgischen Bindung liegt der Conductus. Als ursprünglicher Prozessionsgesang kann er in seinen Texten politische und sogar satirische Themen aufgreifen. Er ist an keinen Cantus firmus gebunden, was eine unabhängigere kompositorische Gestaltung erlaubt. Kompositorische und notationstechnische Innovation, namentlich genannte Komponisten und vor allem die mit ihnen verbundenen und in Handschriften überlieferten Kompositionen von bisher nicht gekannter Pracht und zeitlicher Ausdehnung lassen die Notre-Dame-Schule an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zu einem wahren musikgeschichtlichen Ereignis werden.ΑΩ SMo