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Ars nova – Neue Kunst im neuen Jahrhundert

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Auch neue Kunst wird alt …

Die Neuerungen der Ars nova provozierten auch Kritik: Papst Johannes XXII. prangert die übermäßige Verwendung kleiner Notenwerte an, und Jakobus von Lüttich beklagt die Zweiteilung, sei doch die göttliche Trinität auf die Zahl Drei gegründet. Ironie der Geschichte: Im 15. Jahrhundert hält Johannes Tinctoris seinerseits die Musik des 14. Jahrhunderts für veraltet und nicht mehr anhörenswert.

Die Musik seiner Zeit sei »so hoch gestiegen, das fast nicht zu gleuben [= glauben sei], dieselbe nunmehr hoeher werde kommen koennen«, meinte 1619 der Komponist Michael Praetorius. Über Jahrhunderte ist die europäische Musikgeschichte vom Fortschrittsglauben beseelt, fehlt es ihr nicht an der Ausrufung neuer Epochen und an Neutönern, die das Vergangene im wahrsten Sinne des Wortes »alt« aussehen lassen. Eine solche Um- und Aufbruchphase ist auch an der Wende zum 14. Jahrhundert in Frankreich erreicht: Komponisten und Musiktheoretiker nehmen sich selbst als Zeugen einer neuen Kunst wahr, die sich von der im Rückblick nun als »alt« titulierten Kunst des 13. Jahrhunderts deutlich abhebt, aber auf ihr aufbaut. Die Innovation ist nicht nur subjektiv empfunden, sondern objektiv in entscheidenden Fortschritten des Notationssystems greifbar. Es reagiert auf neue kompositorische Anforderungen und stimuliert sie gleichzeitig weiter. Eine dem Komponisten und Musiktheoretiker Philippe de Vitry zugeschriebene Notationslehre beginnt mit den Worten »Ars nova« – eine neue Kunst – und gibt damit der gesamten Epoche der französischen Musik ab ca. 1320 ihren Namen: Ars nova. Die Motette des 13. Jahrhunderts dagegen erscheint dem Musiktheoretiker Jakobus von Lüttich nun sogar als eine alte bzw. veraltete »Ars antiqua«.


Die Darstellung des Esels aus dem satirischen Roman de Fauvel, links der Tenor der ersten Motette © Bibliothèque nationale de France

Das »Neue« ereignet sich auf der Ebene der kleinen Notenwerte: Die Semibrevis, der bisher kleinste Wert, wird weiter geteilt in die Minima. Und selbst dieser dem Namen nach nun wirklich kleinste Wert erfährt schließlich eine weitere Unterteilung in die Semiminima. Andererseits sterben die älteren langen Noten Maxima und Longa langsam ab. Außerdem wird die Zweiteilung der Notenwerte gleichberechtigt zur Dreiteilung eingeführt. So entsteht ein System von vier Mensuren, in dem Zwei- und Dreiteilung systematisch kombiniert werden. Als weitere Neuerung können rot geschriebene Notenwerte als Kolorierung dreizeitige Notenwerte zu zweizeitigen reduzieren. Umgekehrt kann der neu eingeführte Punkt (»punctus additionis«) zweizeitige Werte zu dreizeitigen erweitern – so wie wir das heute noch bei punktierten Noten kennen. Das solchermaßen ausdifferenzierte Notationssystem der Ars nova konnte eine große Bandbreite von Rhythmen eindeutig notieren.

Das große Experimentierfeld für diese Neuerungen bleibt weiterhin die Motette. Der Tenor erfährt eine strenge rhythmische Regulierung nach mathematischen Prinzipien durch die sogenannte Isorhythmie. Das heißt: Ihn strukturieren bestimmte rhythmische und melodische Muster. Sie können einander überlappen und dadurch bei mehrfachem Durchlauf des Tenors verschiedenartige Gliederungen desselben Cantus firmus ergeben. Der Tenor bewegt sich am langsamsten von allen Stimmen, die Oberstimmen nehmen durch die zur Verfügung stehenden kleinen Notenwerte an Geschwindigkeit zu und erlauben eine detailliertere Textdeklamation.

Als einer der beiden herausragenden Meister der Motette gilt Philippe de Vitry (1291–1361), dem 16 Motetten zugeschrieben werden. Er hatte hohe politische und kirchliche Ämter am Hof der französischen Könige und am Papsthof in Avignon inne und genoss höchstes Ansehen als Dichter und Komponist. Eine der Hauptquellen für die Überlieferung seiner Werke ist der Roman de Fauvel, eine Polit-Satire aus dem Umfeld des französischen Königshofes, bei dem die Motetten mit Texten und Miniaturen zu einer Art multimedialem Gesamtkunstwerk verbunden sind. Die 17 vom Vorbild Vitrys angeregten Motetten Guillaume de Machauts (um 1300–1377) schließlich verstehen sich als eigenständige Kunstwerke, die keine eindeutige funktionale Bindung erkennen lassen, auch wenn einige auf politische und kirchliche Ereignisse Bezug nehmen. Auch aus Italien sind einige Motetten von Jacopo da Bologna, Marchetto da Padova und Johannes Ciconia überliefert, die meist in Bezug zu den Herrschergeschlechtern Norditaliens stehen.ΑΩ SMo

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