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»Nicht für das gewöhnliche Volk geeignet« – Die Motette

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Lateinisch-französische Motette El mois d’avril / O quam sancta / Et gaudebit im Codex Montpellier. Zur Illustration der Texte ist in der Initiale des Triplum eine höfische Liebesszene mit einem Ritter zu sehen, dem in der frühlingshaften Natur von einer Dame eine Rose dargeboten wird, …

Geistliche Musik, die Maria als Mutter Gottes preist, aber auch die höfische Liebe zur auserwählten Dame feiert – und dies nicht etwa nacheinander, sondern sogar gleichzeitig und in zwei verschiedenen Sprachen? Auch wenn dies unserer Vorstellung vom doch so tiefreligiösen Mittelalter auf den ersten Blick widersprechen mag, ist es doch gerade die neue Gattung der Motette, die mit Beginn des 13. Jahrhunderts genau solche erstaunliche Gleichzeitigkeit ermöglicht und zum raffinierten Prinzip erhebt. Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass religiöse Marienverehrung und höfische Minnelyrik beide die hohe, anzubetende, aber letztlich nicht erreichbare Frau thematisieren. Um dies zu illustrieren, zeigt die Aufzeichnung der angesprochenen Motette bei den Initialen (den verzierten Anfangsbuchstaben) der beiden Oberstimmen zum einen eine höfische Liebesszene, zum anderen die thronende Gottesmutter mit Kind. Als verbindendes Fundament trägt die dritte und unterste Stimme, der Ténor, die Textmarke »Et gaudebit«. Hierbei handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Alleluia-Vers zum Fest Christi Himmelfahrt. Dieser spricht von der Herzensfreude der Jünger über den ihnen zugesicherten Beistand Jesu auch nach Vollendung seines irdischen Lebens. Zusammengehalten werden also alle drei Stimmen durch das Element der geistlichen wie weltlichen Freude.


… in der Initiale des Duplum ein Kleriker, der die thronende Muttergottes mit Kind anbetet.

Als Grundlage dieser Motette lässt sich eine Klausel der Notre-Dame-Schule identifizieren, die ursprünglich als Ausschnitt eines größeren Organums konzipiert wurde. Als Neuerung wird nun ihre Oberstimme zunächst mit einem lateinischen Text versehen. In der Tradition des Tropus erläutern solche textierten Klauseln den geistlichen Inhalt des zugrunde liegenden Choralausschnitts. In Erweiterung dieser Technik tritt dann eine neu komponierte dritte Stimme mit eigenem lateinischen Text hinzu. Die nächsten Steigerungsstufen bestehen darin, Textierungen und neue Stimmen nicht nur in der lateinisch-liturgischen Sprache, sondern auch in der altfranzösischen Sprache höfischer Dichtung hinzuzufügen. So entstehen bis zu vierstimmige, gemischtsprachige komplexe Gebilde, deren einzelne Stimmen und Texte in ein spannungsvolles und intellektuell anspruchsvolles Beziehungsverhältnis treten. Sie können die Aussage des ursprünglichen Choralausschnittes, auf dessen Basis das gesamte musikalische Gebäude errichtet wird, verstärken oder auch kontrastieren. Von ihrem prägenden Merkmal, der Hinzufügung von Worten (altfranzösisch »mot«) zu einer ursprünglich melismatischen Klausel-Stimme, scheint die Motette auch ihren Namen erhalten zu haben. Auch die zweite Stimme wird nun häufig selbst »motetus« genannt. Überliefert sind Motetten bereits in den Notre-Dame-Handschriften und dann in zentralen Motettenhandschriften mit Sammelcharakter aus dem 13. und frühen 14. Jahrhundert. Sie notieren die Motetten in einem typischen Layout, bei dem die Oberstimmen in Spalten nebeneinander und der Tenor als verbindendes Fundament quer darunter platziert wird.

Anspruchsvolle Unterhaltungskunst für intellektuelle Kreise

Johannes de Grocheo beschreibt um 1300 das Musikleben der Stadt Paris. Neu ist dabei, dass er auch das soziale Milieu berücksichtigt. So sei die Motette nicht für das gewöhnliche Volk geeignet, das ihre Feinheiten nicht wahrnehmen und schätzen könne. Sie solle deshalb zur intellektuellen Unterhaltung vor den Gebildeten und jenen, »die an den Feinheiten der Künste interessiert sind«, erklingen.

Mit dem Eindringen volkssprachlicher Liebesdichtung in den Oberstimmen und sogar als Ersatz für den liturgischen Cantus firmus verlässt die Motette die ursprünglich engere liturgische Bindung. Ähnlich dem Conductus behandelt sie gerne und zunehmend satirische oder politische Themen. Im 14. und 15. Jahrhundert dient sie in dieser Tradition als sogenannte Staatsmotette der feierlichen Repräsentation und Kommentierung wichtiger kirchlicher und weltlicher Ereignisse. Auch notationstechnisch löst die Motette eine Innovation aus: Durch die Auflösung der ursprünglich melismatischen Klausel-Oberstimmen in syllabisch textierte Melodien verliert die auf Gruppenbildung basierende Modalnotation ihren Sinn. Der rhythmische Wert jedes einzelnen Silbentons musste nun möglichst unabhängig von seinem Kontext durch ein grafisches Zeichen dargestellt werden. Hierzu erhalten in der sogenannten Mensuralnotation die bereits bekannte Longa (lange Note) und Brevis (kurze Note) eigene Zeichen, denen weitere für die kleineren Notenwerte der Semibrevis und Minima folgen. Letztere werden ab ca. 1300 durch die immer reicher textierten Oberstimmen notwendig, die nach schneller Textdeklamation verlangen.

Namentlich bekannt sind nur wenige Komponisten des 13. Jahrhunderts wie Adam de la Halle oder Petrus de Cruce. Im 14. Jahrhundert treten dann Philippe de Vitry und Guillaume de Machaut als bedeutende Komponisten der Motette hervor, die eine der führenden Gattungen auch dieser Epoche bleibt.ΑΩ SMo

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